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Am Ende des Rundgangs durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen sitzen die Teenager-Schüler auf dem Boden des Vernehmungszimmers, in dem es noch 28 Jahre später nach Wofasept riecht, dem Reinigungsmittel der DDR. Manche lauschen konzentriert. Andere sind spürbar gelangweilt – was weniger am Thema als an der Langatmigkeit der Erzählung liegen dürfte. Siegmar Faust, der auf dem Stuhl des Vernehmers Platz genommen hat und als Gedenkstätten-Führer manchmal schwer auf den Punkt kommt, erzählt, wie es war, wenn die Stasi Häftlinge in der Mangel hatte, wie sie diese Häftlinge irgendwann besser gekannt habe als diese sich selbst – und wie einer dieser Vernehmer ihm, dem heute 73-Jährigen, eines Tages zurief: „Faust, Sie kommen noch auf Knien gekrochen!“
Allein, Faust kroch nicht.
Der Schriftsteller, am 12. Dezember 1944 im sächsischen Dohna geboren, war bis vor einigen Monaten bloß noch Insidern bekannt. Zwar gilt er in der Dissidenten-Szene als einer der mutigsten. Der ein wenig untersetzte Herr mit dem grauen Bart, der vor 1989 wegen seines Kampfs um Meinungsfreiheit einsaß, verbrachte im berüchtigten Zuchthaus von Cottbus über 400 Tage in einer Einzelzelle, dem „Tigerkäfig“. Noch aus dem Knast heraus verbreitete er eine oppositionelle Häftlingszeitung, geschrieben mit der Hand, teilweise auf Klopapier. 1976 kaufte ihn die Bundesrepublik frei. Mehr Courage geht kaum. Und doch: Vergessen, das alles. Bis Wolf Biermann dem Magazin Der Spiegel im Herbst vorigen Jahres ein Interview gab. Darin sagte er: „Mein Freund Siegmar Faust ist ergrautes Landeskind, das mehr gelitten hat im Knast als die allermeisten in der DDR.“ Aber dummerweise habe „dieser sture Held jetzt wohl die AfD gewählt!“
Die Frage, die dem Gespräch und diesem Text zugrunde liegt, lautet: Warum? Wie kann es sein, dass jemand, der selbst Verfolgung erlitten hat, einer Partei seine Stimme gibt, die für die Verfolgten von heute nichts übrig hat außer Verachtung?
Deutschland und das weltweite Elend
Als die Teenager-Schüler den Weg ins Freie gefunden haben, führt mich Faust aus dem Vernehmungszimmer im Erdgeschoss ein Stockwerk höher – in ein anderes Vernehmungszimmer. Er bittet mich, den westdeutschen Journalisten, sehr bewusst auf den Vernehmerstuhl und setzt sich auf den Stuhl, auf dem früher die Häftlinge saßen. Auf die Frage nach dem „warum“ erwidert Faust, es sei eine Unterstellung, dass er nichts für Verfolgte übrig habe. Allerdings gebe es nun mal Grenzen. „Und wenn man Leute reinlässt ohne Pass und die eigenen Gesetze über den Haufen geworfen werden, dann ist Schluss.“ Überhaupt könne Deutschland nicht das weltweite Elend beseitigen. „Das schaffen wir ni“, sagt Faust – die letzten drei Buchstaben des Wortes „nicht“ auf typisch sächsische Weise verschluckend.
Das Band, das unser Gespräch aufzeichnet, stoppt nach 53 Minuten. Danach herrscht mehr Klarheit.
Zu Beginn muss man sagen, dass Faust mit seinem Schwenk nach Rechtsaußen unter den einstigen Bürgerrechtlern keineswegs allein ist. Allen voran wäre Vera Lengsfeld zu nennen, die ehedem der SED angehörte, später zur DDR-Opposition gelangte, von dort zu den Grünen ging und von den Grünen zur CDU. Heute zählt Lengsfeld zu den Initiatorinnen der „Gemeinsamen Erklärung 2018“, die den Zuzug von Flüchtlingen mit einer Petition stoppen will. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz, der stets vehement die Aufarbeitung der DDR forderte und sich im Herbst mit dem autoritären ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán traf, ist ein ähnlicher Fall. Oder Angelika Barbe, die von der SPD zur CDU wechselte und heute mit Pegida sympathisiert. Schließlich ist da – last, but not least – der Umweltaktivist Michael Beleites, auf tragische Weise im Schoß rechtsextremer Kreise gelandet. Andere bleiben in der Deckung. Ein ehemaliger Dissident mit ähnlichen Ansichten wie Faust schrieb dieser Zeitung in einer E-Mail: „Ich möchte ausdrücklich nicht, dass Sie über mich schreiben.“ Wohl aus Sorge vor den öffentlichen Reaktionen.
Dabei kehren – ob prominent oder nicht – bestimmte Muster wieder: Die Neurose des Gegen-den Strom-schwimmen-müssens, der Wechsel von politischen Zugehörigkeiten vor 1989 und danach, teils intellektuelle, teils materielle Abwertungserfahrungen im vereinigten Deutschland – und letztlich, wie man an all dem erkennen kann, ein erschreckendes Maß an innerer Unfreiheit. Es geht um Menschen, die nicht anders können als sie wollen.
„Welteroberungsideologie“ Islam
Zugleich ähneln die Argumente, die im Sinne der neuen politischen Heimat vorgebracht werden, jenen, die man auch sonst hört. Der Islam sei eine „Welteroberungsideologie“, findet Siegmar Faust. Und wenn man ihm entgegnet, dass doch etwa der Grüne Cem Özdemir ein Paradebeispiel gelungener Integration sei, dann weist er das vehement zurück. „Wenn’s drauf ankommt, dann halten die zusammen“, sagt der Pensionär und meint Türken und Araber. „Dann sind die immer gegen uns.“ Von den Grünen halte er ohnehin rein gar nichts. „Das sind unqualifizierte Leute. Solche Pflaumen wie diese Roth, diese Göring-Eckardt, dieser Özdemir. Ich schäme mich, mich von solchen Leuten regieren zu lassen.“ Die Ostdeutschen hingegen wüssten meist, „wo das hingehen kann, wenn die Bessermenschen uns erziehen sollen und die Medien auch mitmachen“.
Überhaupt, sagt Faust, sei er keinesfalls rechtsextrem, sondern normal rechts, wie andere Leute eben normal links seien. Er sorge lediglich für das in einer Demokratie nötige Gleichgewicht, das zuletzt verloren gegangen sei. „Bei der AfD finde ich niemanden, den ich als Nazi bezeichnen würde.“
„Höcke auch nicht?“, frage ich.
„Nö, wieso?“, fragt Faust zurück und beteuert, dass es unter den Ex-Dissidenten nicht zuletzt in Hohenschönhausen „wenige“ gebe, „die anders denken“. Anders als er.
Gleichwohl ist jedes Leben natürlich die Summe höchst individueller Erfahrungen – erst recht bei dem Zeitgenossen auf dem Häftlingsstuhl, der behauptet, sein „ganzes Wissen“ sei „Erfahrungswissen“. Eine dieser Erfahrungen machte er zum Beispiel 1976, kurz nach seiner Ankunft in West-Berlin. Während eines Vortrags in Steglitz saß demnach der kürzlich gestorbene APO-Aktivist Dieter Kunzelmann im Publikum. „Okay, Genosse Faust, ich gebe ja zu, dass das bei Euch mit der Stasi alles einen Zahn schärfer war“, sagte Kunzelmann also Faust zufolge. „Aber jetzt bist Du nun mal hier. Und jetzt erwarte ich, dass Du mit uns solidarisch bist.“
Unterdrückungsmechanismen im Westen
Gewundert hat Faust sich überdies darüber, dass West-Linke mit Blick auf die Haft von RAF-Terroristen von „Isolationsfolter“ sprachen. Dabei seien die RAF-Leute immerhin tagsüber zusammen gewesen – während er, Faust, wirklich mehrere hundert Tage lang mutterseelenallein im „Tigerkäfig“ saß. „Das sind Welten, ehe man sich da näher kommt.“ Faust hat ganz generell noch im Ohr, wie ihm die West-Linken beibringen wollten, dass die Unterdrückungsmechanismen im Westen letztlich „genauso“ seien wie im Osten – „bloß raffinierter, das können Sie noch nicht durchschauen“. Diese West-Linken hätten stets „Gleichheitszeichen“ setzen wollen, sagt er, während sie für die DDR-Oppositionellen „kaum Sympathie“ übrig gehabt hätten. „Wir waren isoliert.“
Faust, der sechs Kinder und elf Enkelkinder hat, war dann in den 1990er-Jahren zeitweilig Stasi-Landesbeauftragter in Sachsen. Er wohnte im Wedding, in Karlshorst, in Mahlsdorf und lebt heute in Charlottenburg unweit der Stelle, an der der Student Benno Ohnesorg von dem von der Stasi geführten Polizeiobermeister Karl-Heinz Kurras erschossen wurde. Parteipolitisch war der Mann, dessen Rente ziemlich bescheiden ausfällt, zeitweilig in der FDP zu Hause und zählte sich dort zum nationalen Flügel des früheren Generalbundesanwalts Alexander von Stahl. Ganz so fern war ihm das Rechte mithin schon früher nicht. Dass die Abneigung gegen alles wirklich oder vermeintlich Linke oder Linksextreme so stark wird, dass es sie ins andere Extrem drückt – diese Tendenz ist übrigens bei einigen DDR-Dissidenten zu beobachten. Eine Sensibilität für das moralische Dilemma fehlt dabei ebenso wie ein Gefühl für die Gefahr, die DDR-Opposition nachträglich zu diskreditieren.
DDR-Häftlinge empfinden eine „Opfer-Konkurrenz“
Mit Biermann hat Faust eine ganz besondere Beziehung, so dass dessen Äußerung im Spiegel keineswegs Zufall war. „Ich habe Biermann viel zu verdanken“, sagt er. Als Faust aus dem Knast kam, war er ein halbes Jahr lang Sekretär bei dem berühmten Liedermacher. „Er hat gelitten und geheult, als ich gesagt habe, ich will raus. Als ich wegging, war ich für ihn übern Jordan – wie die anderen.“ Anderthalb Monate, nachdem Faust freigekauft worden war, wurde Biermann freilich selbst in den Westen ausgesperrt. „Er sagte, er wäre vom Regen in die Jauche gekommen“, erinnert sich Faust. „Das fand ich unverschämt. Da war unsere Freundschaft erstmal ein bisschen zerbrochen.“ Heute trenne sie die Sicht auf Angela Merkel, die bei Biermann wohlwollend und bei Faust ganz und gar nicht wohlwollend ausfällt. Während er Briefe an Biermann schreibe, sagt Faust, schreibe Biermann nicht zurück. „Hassliebe wäre übertrieben. Es ist Sympathie. Und das reicht mir.“ Biermann ordnet seinen „Freund“ unterdessen den „Hysterikern“ zu – Menschen, die Anlass für Kritik hätten, dabei aber weit übers Ziel hinausschössen.
Fachleute sagen, ein Teil der ehemaligen DDR-Häftlinge empfinde eine „Opfer-Konkurrenz“ – und zwar sowohl gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus als auch gegenüber den Opfern von Krieg und politischer Repression in der Gegenwart. Sie fürchteten, dass ihr eigener Opfer-Status unterbewertet werde. Daraus ergäben sich Probleme mit der Flüchtlingspolitik. Die Betroffenen hören alles, was nach Pathologisierung klingt, indes gar nicht gerne.
Bevor wir über den sonnigen Gefängnishof von Hohenschönhausen gen Ausgang schlendern und uns dort verabschieden, kommt Siegmar Faust, der vor Öffentlichkeit keinerlei Scheu hat, auf Horst Mahler zu sprechen – den langjährigen RAF-Anwalt, der von Linksaußen noch weiter nach Rechtsaußen driftete und der seit einigen Jahren den Holocaust, den Mord an sechs Millionen Juden, leugnet. „Ich habe keine Sympathie für Horst Mahler“, unterstreicht Faust. Doch er finde es „unerträglich, was die Justiz da macht“ und frage sich: „Ist die Zahl sechs Millionen heilig?“ Am wohl bekanntesten Ort der Aufarbeitung von DDR-Verbrechen sagt der frühere politische Gefangene: „Ich verstehe ja, dass die Verbrechen der Nazizeit noch weiter wirken. Aber irgendwann muss das mal ein bissel aufhören. Man darf es nicht übertreiben.“
Die Teenager-Schüler hören das nicht mehr.