Die NZZ ist bekanntlich ein total linksgrün versifftes Blatt.
Gestern dieser Artikel (nicht, daß die Erkenntnisse sonderlich neu wären, die das besprochene Buch da bietet, aber es ist doch eine schöne Zusammenfassung.)
Spoiler
Das Wissen der Gene
Vom Blut, also von Völkern, Rassen oder auch Nationalcharakteren zu sprechen, traut sich nach den Greueln der Nazis zwar kaum mehr jemand. Was diese dachten, treibt aber immer noch viele Politiker um, ob nun indische Eliten gegen die Erkenntnis kämpfen, dass ihre Hochkultur mit Eindringlingen kam; ob italienische Politiker einhellig an Unterschiede im Erbgut glauben, die den Norden vom Süden des Landes trennen; ob der ungarische Ministerpräsident nach der richtigen Abstammung seiner Landsleute fragt oder sich eine amerikanische Präsidentschaftskandidatin als Nachfahrin der Ureinwohner wähnt.
Ja, die Gene wiegen schwerer denn je, weil sie sich heute schnell und günstig lesen lassen. Nur zwanzig Jahre nach der milliardenteuren Entschlüsselung des menschlichen Genoms kennen schon Millionen dank Tests von Firmen wie Insitome oder 23andMe ihr Erbgut. Und die Archäogenetiker spüren mit kleinsten Fragmenten von Zehntausende Jahre alten Skeletten der Entwicklung von Homo sapiens nach. «Es wäre geradezu vergeudete Forschermühe», meinen deshalb Johannes Krause und Thomas Trappe, «dieses Wissen im Knochenstaub ruhen zu lassen.»
Mit ihren Erkenntnissen rücken die Archäogenetiker unser Bild vom Menschen zurecht, auch die Wege, wie er die Welt eroberte.
Der Schwede Svante Pääbo, Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, wies als Pionier des Fachs nach, dass sich die modernen Menschen nach ihrem Auszug aus Afrika vor 50 000 Jahren mit Neandertalern paarten, weshalb wir auch deren Gene weitergeben. Sein Meisterschüler Johannes Krause fand dank einer 70 000 Jahre alten Fingerkuppe aus einer Höhle im sibirischen Altai-Gebirge mit den Denisovanern eine bis dahin unbekannte Menschenart. Und sein Forschungspartner David Reich baute an der Harvard Medical School eine «Genfabrik» auf, wo er mit Tausenden von Proben die brisanten Fragen der Besiedlung von Indien, Europa oder Amerika zu klären versucht.
Ihre Studien in den renommiertesten Journalen stiessen auf so grosses Interesse, dass sich die Archäogenetiker mit Büchern auch an ein breites Publikum wenden. Svante Pääbo machte 2014 den Anfang mit «Die Neandertaler und wir: Meine Suche nach den Urzeit-Genen». David Reich löste im Frühling 2018 mit «Who We Are and How We Got Here» eine Debatte aus, die die «New York Times» noch im Januar 2019 mit einer giftigen Attacke weiterdrehte, weil er bei seiner Arbeit auch darüber nachdachte, wie wir den Begriff der Rasse richtig brauchen. Und Johannes Krause legt jetzt «Die Reise unserer Gene» vor, ein eingängig geschriebenes Buch, «das nicht nur politische Kontroversen adressiert, sondern auch erstmals die Erkenntnisse der Archäogenetik über die Geschichte Europas in einem deutschsprachigen Werk zusammenfasst».
Debatten im Hinterkopf
Diese Affiche ist allerdings nicht ganz richtig. Die schwedische Journalistin Karin Bojs gab schon 2015 ein brillantes Buch heraus, in dem sie mit Reportagen – von Svante Pääbos Labor in Leipzig über die Höhlenmalereien in der Dordogne bis hin zur Heimat ihrer Vorfahren – die Suche nach ihren eigenen Wurzeln mit einer Übersicht über die neuste Wissenschaft verknüpft. In Schweden ein Bestseller, kam das Werk in mehreren Übersetzungen heraus, so letztes Jahr auch auf Deutsch: «Meine europäische Familie. Die ersten 54 000 Jahre».
Wie Johannes Krause und Thomas Trappe schreibt Karin Bojs mit den politischen Debatten im Hinterkopf. So steht sie im Museum in Stockholm vor der Nachbildung einer Frau, die vor 9000 Jahren lebte, aber mit heller Haut und hellen Haaren aussieht wie eine Landsfrau von heute. «Ich habe blaue Augen, sehr blonde Haare und eine sehr bleiche Haut, wie das Stereotyp einer Schwedin», denkt die Journalistin. «Aber die Wahrheit ist, dass im heutigen Schweden weitaus nicht alle aussehen wie ich.» Auch die Jäger und Sammler der Jungsteinzeit nicht: Die Genetiker wissen jetzt, dass diese Ureinwohner Europas zwar blaue Augen hatten – doch eine dunkle Haut.
Heute zeugen die Gene der Europäer von drei Einwanderungswellen. Erstens zogen vor 50 000 Jahren moderne Menschen wohl aus Palästina nach Europa und hielten als Jäger auch in der Eiszeit durch, anders als die Neandertaler.
Zweitens kamen vor 8000 Jahren die ersten Bauern aus Anatolien – während die Archäologen bisher annahmen, dass sich die Landwirtschaft unter den Eingeborenen verbreitete, weisen die Genetiker jetzt nach, dass sie Einwanderer mit ganz anderem Erbgut mitbrachten.
Und drittens drangen vor 4800 Jahren, bei der grössten Migrationswelle aller Zeiten, Hirten mit Pferden und Wagen aus der russischen Steppe ein: Es gab also tatsächlich ein Volk, das Nordindien und Westeuropa seine Gene, seine Kultur und seine Sprache aufzwang – und es kam aus dem Osten.
Die Gene dieser drei Gruppen machen jetzt, in regional unterschiedlicher Mischung, das Erbe der Europäer aus. Spätere Migrationen führten nicht mehr zu einem genetischen Austausch, der sich messen lässt, nicht einmal die Völkerwanderung vom 4. bis zum 6. Jahrhundert.
Wir sind alle Migranten
Welche Menschen für eine Region typisch, weil seit je einheimisch sind, lässt sich aufgrund der Genetik kaum mehr sagen. David Reich stellt fest: «Die Menschen, die heute an einem Ort leben, stammen fast nirgends ausschliesslich von den Menschen ab, die in der fernen Vergangenheit an diesem Ort lebten.» Und Johannes Krause und Thomas Trappe wissen: «Die Archäogenetik zeigt, dass es Menschen mit ‹reinen› europäischen Wurzeln nicht gibt und wohl auch nie gab. Wir alle haben einen Migrationshintergrund.»
Europa, meinen die Autoren gar, lasse sich verstehen als «eine sich über Jahrtausende erstreckende Fortschrittsgeschichte, die ohne die Migration und Mobilität von Menschen unmöglich gewesen wäre». Das heisst allerdings nicht, dass sie die Einwanderung gemäss ihren politischen Neigungen unkritisch feiern: «Das Buch liefert, dessen sind wir uns bewusst, Argumente für diejenigen, die gegenüber der Migration aufgeschlossen sind, wie auch für jene, die ihr strikte Grenzen setzen wollen.»
Die Genetiker zeigen durchaus, dass es Eigenheiten im Erbgut von Bevölkerungsgruppen gibt. So leben die Tibeter in sauerstoffarmer Luft mit einem Gen, das von den Denisovanern stammt. Und so nützt den Westafrikanern ein Gen, das zu «schnellen» Muskeln führt: David Reich wies darauf hin, dass alle Finalisten des 100-Meter-Laufs an den Olympischen Spielen seit 1980 Wurzeln in Westafrika hatten – und erntete allein für diese Feststellung Prügel.
Vor allem lehren die Evolutionsbiologen, dass sich Bevölkerungsgruppen nicht nur mit ihren Genen, sondern auch mit ihrer Kultur der heimatlichen Umwelt anpassen und sich gegen Fremde verteidigen. Starke Einwanderung löst deshalb Konflikte aus, damals und heute, wie Johannes Krause und Thomas Trappe einräumen. Eine Klimaerwärmung könne durchaus zu einem Plus an bebaubaren Flächen führen, meinen sie: «Allerdings ist nicht absehbar, welche politischen Verwerfungen und Konflikte daraus resultierende Migrationen hervorrufen würden. Oder besser gesagt, man will es sich lieber nicht vorstellen.»
Johannes Krause, Thomas Trappe: Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren. Propyläen, Berlin 2019. 288 S., Fr. 25.90.
Karin Bojs: Meine europäische Familie. Die ersten 54 000 Jahre. WBG Theiss, Stuttgart 2018. 431 S., Fr. 41.90.