Übrigens zeigt sich Gysi als Demagoge, der den Bauch seiner Partei streichelt: Natürlich weiß er, dass zeitlich nur der Anschluss nach Artikel 23 möglich war, das ergibt sich u.a. aus dem zeitlich vorgelagerten Antrag der DSU am 22. August, den Beitritt sofort, also zum gleichen Tag zu beschließen. Damit aber hätte 2+4 völkerrechtlich nicht funktioniert. Und auch die sofortige Löschung des Artikel 23 bei der Wiedervereinigung hat einen anderen Grund: Im sowjetischen Kaliningrad (Königsberg) waren Stimmen laut geworden, die den Beitritt nach diesem Artikel zur Bundesrepublik Deutschland forderten.
Artikel 23 GG alter Fassung wird in diesem Zusammenhang überstrapaziert: Völkerrechtlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie ein Staat ein bisher fremdes Territorium aufnehmen kann bzw. wie sich zwei bisherige Staaten zu einem neuen zusammenschließen können. Der letzte erfolgreiche Fall einer Vereinigung war m. W. die Vereinigung von Nord- und Südjemen zum heutigen Jemen. Eine ganz einfache Möglichkeit ist, einen Vertrag zu schließen, in dem die Vereinigung geregelt wird. Das wurde so etwa bei der Vereinigung von England und Schottland zum Vereinigten Königreich gemacht.
Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass zwei oder mehr Staaten sich auf eine gemeinsame Verfassung einigen, was typischerweise, aber nicht notwendig zu einem Bundesstaat führt. Auch dieser Vorgang ist "klassisch": So vereinigten sich die vorher nur lose föderierten Staaten zu den USA, dem Grundsatz nach wurde so auch das Grundgesetz geschaffen (wobei sich die Frage stellt, ob die deutschen Länder vorher "souveräne Staaten" waren oder doch nur Teil eines "nicht organisierten" Staates, was aber für den reinen Vorgang sekundär ist, die Methode war dieselbe). Bei der Schaffung des Norddeutschen Bundes und später des Deutschen Reiches ging man einen doppelten Weg: über Verträge und über eine gemeinsame Verfassung.
Geht es nur um eine Region, so genügt es auch, dass das betreffende Gebiet seinen Willen ausdrückt, zu einem bestehenden Staat zu gehören, und dass der aufnehmende Staat dem zustimmt. Das ist letztmals bei der Angliederung der Krim an die russische Föderation geschehen (wobei allerdings dieser Fall insofern anders liegt, als die Krim natürlich zu einem bestehenden Staat gehörte und ihr Sezessionsrecht fraglich ist).
Bei der Wiedervereinigung Deutschlands ist man mit dem 2+4-Vertrag, dem Einigungsvertrag und dem "Weg nach Artikel 23" gleich mehrere Wege gleichzeitig gegangen. Das war durch die besondere Situation bedingt: Man konnte nicht einfach ohne die Beteiligung der anderen Staaten handeln, es gab zwischen BRD (alt) und DDR verschiedene Dinge zu regeln, und um der zeitlichen Dringlichkeit willen konnte man auch nicht auf eine neue Verfassung warten.
Was wäre denn gewesen, wenn Artikel 23 GG alter Fassung 1990 bereits nicht mehr gegolten hätte?
Dazu schaue ich mir einmal den Wortlaut an:
Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.
Der 1. Satz legt einfach fest, welche Länder 1949 zur neu gegründeten BRD gehören sollten. Ich schreibe
sollte, weil das ja bekanntlich im Falle Berlins nicht so lief wie beabsichtigt. Die Namen der aufgeführten Länder sind nach dem 23. Mai 1949 im Grunde bedeutungslos gewesen, denn einige fusionierten, das Saarland kam später hinzu. Satz 1 ist also nur eine "historische Momentaufnahme" gewesen.
Der 2. Satz drückt im Grunde eine Selbstverständlichkeit aus: "In anderen Teilen Deutschlands ist es <sc. das Grundgesetz> nach deren Beitritt in Kraft zu setzen." Was sollte denn mit dem Grundgesetz nach einem Beitritt weiterer Länder Deutschlands zur BRD geschehen? Sollte es etwa dort nicht gelten?
Was der Artikel nicht sagt, ist aber Folgendes: Wie ein solcher Beitritt zu geschehen habe, wie er rein praktisch ablaufen müsste, oder wie eine Inkraftsetzung zu geschehen habe.
Fazit: Der Artikel wird gerne überbewertet, er drückte letztlich nur aus, was völkerrechtlich ohnehin selbstverständlich ist. Er war also im Wesentlichen
deklaratorischer Natur.