Der gestrige Tag in Stammheim.
Spoiler
Der Angeklagte Wolfram S. trägt ein weißes Hemd. Die Richter im Stuttgarter Reichsbürger-Prozess will er an diesem Mittwoch überzeugen, dass er auch eine weiße Weste hat.
Seit Ende April läuft das Stammheimer Staatsschutzverfahren gegen neun mutmaßliche Mitglieder der Gruppe Reuß.
Nach Überzeugung der Karlsruher Bundesanwaltschaft sollen sie mit weiteren Angeklagten in parallelen Verfahren in Frankfurt und München einen blutigen Staatsstreich vorbereitet haben.
Reichsbürger-Angeklagter beteuert seine Unschuld
Seit einer deutschlandweiten Razzia am 7. Dezember 2022 sitzen sie unter verschärften Terror-Bedingungen in Untersuchungshaft. So auch Wolfram S. aus Ettlingen.
Der Entwicklungsingenieur bei einer großen Firma im Kreis Karlsruhe hatte bereits kurz nach dem Prozessauftakt Ende April eine umfangreiche Aussage gemacht. Als Erster der insgesamt 26 Terror-Angeklagten.
Über den Sommer war es im Stammheimer Hochsicherheitssaal fast ausschließlich um Markus L. aus Reutlingen gegangen. Ihm wird versuchter Mord vorgeworfen.
Ursprünglich hatten Ermittler den Sportschützen nur als Nebenfigur gesehen und wollten ihn zu Hause als Zeugen befragen, als dieser das Feuer eröffnete und zwei Beamte verletzte.
Wolfram S: „Schockierend und traumatisierend“
An diesem Mittwoch ist wieder Wolfram S. an der Reihe, der dringend ein paar Dinge klarstellen will. Der Ettlinger spricht von „Missverständnissen in Bezug auf meine Einlassung“.
Er kann nicht verstehen, warum er sich immer noch in Untersuchungshaft befindet. Auch die jüngste Haftprüfung am Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe blieb diesbezüglich erfolglos.
Wolfram S. hat einen Schriftsatz vorbereitet, will ganz präzise sein. Er sagt: „Noch heute habe ich keine passenden Worte für meine Gefühle bei meiner Festnahme.“
Schockierend und traumatisierend sei es für ihn gewesen, als er bei der Razzia im Dezember vor zwei Jahren in seiner Küche den Haftbefehl las.
Ausgerechnet er soll das Töten von Menschen gebilligt haben? „Ich bin Vegetarier, weil ich es nicht verantworten kann, dass andere für mich ein Tier töten.“
Der Richter und seine verbindliche Freundlichkeit
Gewalt und alles Militärische lehne er ab, sagt der Angeklagte. Dann wiederholt der Mann, der nach eigenen Angaben eine Schamanen-Ausbildung hat, seine Verteidigungslinie.
Sinngemäß geht sie so: Er habe mit seinen technischen Fähigkeiten nur helfen wollen. Dass es angeblich um Terrorismus ging, das habe er gar nicht mitbekommen.
Ob ihm Joachim Holzhausen das abnimmt? Der Vorsitzende Richter lässt sich nicht in die Karten schauen und ist wie immer von verbindlicher Freundlichkeit.
Das bleibt auch so im zweiten Teil des Verhandlungstages, als der Richter Audiodateien aus der Telefonüberwachung mehrerer Angeklagter abspielen lässt.
Eine Datei stammt vom 20. September 2022, unmittelbar bevor der von den Gruppenmitgliedern lang ersehnte „Tag X“ den Umsturz einleiten soll.
Audiodatei gibt Einblick in Reichsbürger-Wahn
Wolfram S. will in einem Telefonat mit dem Mitangeklagten Pforzheimer Marco v. H. wissen, wie schlimm dieser Tag X wird. Die Aufzeichnungen geben einen authentischen Einblick in die wahnhafte Weltsicht der mutmaßlichen Reichsbürger-Verschwörer.
Zu diesem Zeitpunkt gilt Marco v. H. noch nicht als Hochstapler, sondern als wichtiger Kontaktmann zu mächtigen irdischen und womöglich sogar überirdischen Verbündeten.
Viele von ihnen, auch Wolfram S., halten demnach offenbar Mythen aus Reichsbürger- und QAnon-Versatzstücken für real: vom Kampf einer guten Allianz um Russlands Präsident Wladimir Putin und US-Politiker Donald Trump, die dem vermeintlichen verbrecherischen „Deep State“ auch in Deutschland den Garaus machen.
Die Allianz, die Säuberungen und der vielfache Tod
In den Aufzeichnungen ist von „Säuberungen“ nach dem Eingreifen der Allianz die Rede, von elektromagnetischen Impulsen und, etwas verklausuliert, auch davon, „dass viele Menschen sterben müssen“, wie Wolfram S. auf Nachfrage des Richters einräumt.
Das hat mit Mord und Totschlag nichts zu tun.
Wolfram S.
Terror-Angeklagter
Dann versichert der selbsterklärte Pazifist: „Das hat jetzt nichts mit Mord und Totschlag zu tun.“ Vielmehr sei er davon ausgegangen, dass „diese vermeintliche Allianz Friedensverträge aushandelt und das System bereinigt wird“, aber eben mit friedlichen Neuwahlen beispielsweise.
In weiteren von der Polizei abgehörten Telefonaten bespricht sich Wolfram S. mit Andreas M.. Der Mann dient in Calw als Logistiker beim Kommando Spezialkräfte (KSK), dem Eliteverband des Heeres. In seiner Freizeit plant der Stabsfeldwebel in seinem Haus in Neustetten (Kreis Tübingen) den Umsturz, so der Vorwurf.
KSK-Soldat lobt: „Das ist Bombe“
Im Auftrag des mutmaßlichen militärischen Rädelsführers Rüdiger von Pescatore, soll der Ettlinger Ingenieur die Kommunikation der Verschwörer abhörsicherer machen und nach Vorgaben von Andreas M. etwa digitale Fragebögen für künftige Mitstreiter erstellen.
Die Audiodateien legen nahe: Der Logistiker ist sehr zufrieden mit der Arbeit des Ingenieurs. „Das ist Bombe“, lobt Andreas M. und kalauert mehrmals fröhlich: „Bingo Ingo!“
Als der von Marco v. H. angekündigte Tag X ausbleibt, will sich Wolfram S. aus der Gruppe zurückgezogen haben. Er verweist vor Gericht mehrfach auf eine Bemerkung von Ex-Elitesoldat von Pescatore: „Dieser Wolfram ist ein Totalausfall.“
Andererseits belegt eine weitere Aufzeichnung: Der Ingenieur zeigt sich auch nach dem ausgebliebenen Tag X noch hilfsbereit, als es um die Anschaffung eines Ausweisdruckers geht. Wolfram S. sagt, er habe halt ein „Helfer-Syndrom“.
Und Richter Holzhausen? Der lächelt verbindlich. Ob der Angeklagte mit dem blütenweißen Hemd auch den zweiten Jahrestag seiner Verhaftung hinter Gittern verbringen wird, bleibt derweil offen.