Lange nichts von Herrn Maaßen gehört.
Eigentlich war schon nach dem gestrigen Artikel der SZ klar, wo so ungefähr die Versäumnisse lagen (auch, wenn Herr Reul und Herr Wüst etwas andres suggerieren wollten und Scholz schon mal vorsorglich verantwortlich machten):
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Klar ist: Eigentlich sollte der Tatverdächtige Issa al-H. im Juni vergangenen Jahres nach Bulgarien abgeschoben werden, weil sein Asylantrag in Deutschland, wohin er 2022 gekommen war, abgelehnt worden war. Der Syrer war über Bulgarien in die EU eingereist – und somit war nach den europäischen Asyl-Regeln eigentlich Bulgarien für ihn zuständig. Dorthin also sollte Issa al-H. zurück.
Eine solche Abschiebung in das Einreiseland heißt offiziell „Überstellung“, und dafür gibt es Fristen: Sie muss innerhalb von sechs Monaten erfolgen, andernfalls ist nicht mehr das Einreiseland (hier: Bulgarien) für das Asylverfahren zuständig, sondern das Land, in dem der Geflüchtete lebt (hier: Deutschland).
Issa al-H., der Mitte 2023 noch in einer Unterkunft in Paderborn wohnte, sollte nach Bulgarien überstellt werden, war am Tag der geplanten Abschiebung aber offenbar nicht anzutreffen. Die Frist von sechs Monaten lief ab – und schließlich bekam der Mann Ende 2023 einen sogenannten subsidiären Schutz, der ihm erlaubte, in Deutschland zu bleiben. Das ist ein Status für Asylbewerber, die keine direkte persönliche oder politische Verfolgung in ihrer Heimat nachweisen können, denen aber zu Hause Gefahr für Leib oder Leben droht, etwa weil dort Krieg herrscht. Fast alle Flüchtlinge aus Syrien leben in Deutschland mit subsidiärem, also eingeschränktem Schutz. Issa al-H. kam nach Solingen.
Was bedeutet „flüchtig“ im rechtlichen Sinn?
Die Frage, die im Raum steht, ist: Wie energisch hat die Ausländerbehörde von Bielefeld, die die Überstellung hätte organisieren müssen, nach dem Mann gesucht? Die Bild-Zeitung berichtet, ohne eine Quelle zu nennen, die Beamten seien nur einmal in der Unterkunft aufgetaucht und wieder abgezogen, als sie Issa al-H. dort nicht angetroffen hätten. Die Frage ist relevant, weil die Überstellungsfrist verlängert wird, wenn die Person bewusst untertaucht, wenn sie „flüchtig“ ist, wie es in der dafür maßgeblichen Dublin-Verordnung heißt. Dann nämlich beträgt die Überstellungsfrist 18 Monate. Sprich: In diesem Fall hätte Issa al-H. auch im Jahr 2024 noch nach Bulgarien gebracht werden können.
Und hier gibt es nun einen juristischen Interpretationsspielraum, was als „flüchtig“ zu bezeichnen ist. Dass ein Mann einmal, wenn Beamte vor der Tür stehen, nicht in der Unterkunft weilt, scheint dafür nicht zu reichen. In einem Urteil von 2021 verweist das Bundesverwaltungsgericht auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH): Flüchtig ist demnach, wer „sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln“. Hat er nur die Wohnung verlassen, ohne das der Behörde vorher zu sagen, reicht das nicht.
Wüst: „Da muss Klartext gesprochen werden“
Das heißt: Hätten die Behörden öfter und intensiver nach Issa al-H. gesucht, hätten sie ihn entweder gefunden und nach Bulgarien überstellen können – oder aber er wäre als untergetaucht und „flüchtig“ registriert worden, so dass er auch noch viele Monate später hätte abgeschoben werden können. So aber musste Issa al-H. nur sechs Monate warten – und durfte dann weiter in Deutschland bleiben. Laut Bild meldete er sich bei den Behörden vier Tage, nachdem die sechsmonatige Überstellungsfrist ausgelaufen war.
„Da gibt es eine Menge Fragen. Es sind auch eine Menge Behörden involviert“, sagte NRW-Ministerpräsident Wüst. Über Asyl oder subsidiären Schutz entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Abschiebungen sind Sache der Länder und kommunalen Behörden. „Das muss aufgeklärt werden, und da muss Klartext gesprochen werden, wenn da etwas schiefgelaufen ist“, sagte Wüst.
Heute nun räumt die zuständige Ministerin offenbar die Versäumnisse ein.
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Die zwei zentralen Versäumnisse bei Issa Al H.s Abschiebeversuch
Dies geschah jedoch nicht, weil der Mann am vorgesehenen Tag im Juni 2023 nicht in der Zentralen Unterbringungseinrichtung in Paderborn angetroffen wurde, so Paul. Der Tatverdächtige sei aber kurz vorher und kurz nachher wieder dort aufgetaucht – also nicht untergetaucht. Aber die Leitung der Paderborner Einrichtung habe versäumt, die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) in Bielefeld zu informieren, dass der Mann wieder da war. Erstes Versäumnis.
Zweites Versäumnis sei gewesen, dass die zuständige ZAB keinen neuen Rückführungsflug für den Syrer angemeldet habe. Für die Rückführung galt eine Frist von einem halben Jahr.
Die Modalitäten für Überstellungen nach Bulgarien seien sehr schwierig, kritisierte die Grünen-Politikerin. Diese seien nur auf dem Luftweg über drei bestimmte Fluggesellschaften montags bis donnerstags zwischen 9 und 14 Uhr und über den Flughafen in Sofia möglich. Dadurch blieben theoretisch nur zehn mögliche Abschiebungen pro Tag für alle Bundesländer.
Ein neuer Flug wäre erst nach Ablauf der Frist in elf bis 13 Wochen möglich gewesen. Eine Überstellung auf dem Landweg sei nicht möglich gewesen.
Künftig müssten die kommunalen Unterbringungseinrichtungen immer melden, wenn Asylbewerber nach gescheiterten Abschiebungen wieder auftauchten, sagte Paul. Die Ausländerbehörden müssten zudem sofort einen neuen Flug buchen. Sie sollten zudem künftig Zugriff auf das zentrale Anwesenheitssystem der Unterbringungseinrichtungen bekommen. Damit könnte sie dann selbst die Anwesenheit von abschiebungspflichtigen Personen prüfen. Paul forderte auch eine bessere bundesweite Koordinierung von Rückführungsflügen.
„Dieses System ist so komplex und im Kern dysfunktional“, sagte Paul. Dass Rücküberstellungen scheiterten, sei die Regel. Nur zehn bis 15 Prozent der Überstellungen nach den Dublin-Regeln hätten Erfolg. Mit Blick auf die gescheiterte Abschiebung des mutmaßlichen Täters von Solingen sagte Paul: „Der Fall vor dem Freitagabend ist sicherlich einer gewesen, wie es ihn zu Hunderten in diesem Land gibt.“
Paul sprach von „Versäumnissen“ der Behörden, aber nicht von Fehlern, da die Verfahrensabläufe nicht klar geregelt seien. „Das Verfahren ist so nicht mehr handlungsfähig.“ Die Modalitäten seien zu komplex. „Wir sind es den Opfern, wir sind es den Angehörigen und Solingern schuldig, dass wir hier wirklich aufklären.“
dpa/epd/rct