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An diesem Tag Mitte September, an dem die Sonne das Krankenhaus und die umliegenden Weinberge in ein mildes Licht taucht, nimmt Harry zum zweiten Mal Anlauf, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Den ersten Versuch vor zwei Wochen musste er abbrechen – Panikattacke. Für den zweiten Versuch hat er ein paar Vorkehrungen getroffen: Impfen nur im Liegen. Impfung nur durch einen Arzt. OP-Maske statt FFP2-Maske, weil man so mehr Luft bekommt.
Als Harry das Impfzentrum betritt, holt er seine Krankengeschichte heraus und redet auf das Personal ein. Die begreifen: Da ist jemand, der sich schwertut. Harry und Dieter werden an der Schlange der Wartenden vorbeigeführt in den Notfallraum. Vier Leute bilden hier eine Art Privatkomitee für Harry. Ein Arzt, eine Krankenschwester, Dieter, der Reporter.
Der Arzt, ein großer, braungebrannter Mann, fragt: "Mit der Luft geht’s? Sonst können Sie die Maske auch abnehmen." Harry nimmt die Maske ab, die Tür geht zu, er setzt die Kreislauf-Tropfen steil an, stürzt sie herunter, mit wackeligen Händen.
"Haben Sie sich schon über die Impfung informiert?", fragt der Arzt.
"Ich habe mich eindeutig informiert", sagt Harry.
Um genau zu sein: Er hat alles, was er über die Impfung bekommen konnte, in sich aufgesogen, fünf, sechs, zehn Stunden täglich.
"Ich war früher bei den Querdenkern", sagt Harry. "Ein Freund hat mir gesagt, ich fall tot um, wenn ich mich impfen lasse."
"Oh, das ist ein schlechter Einstieg", sagt der Arzt.
Vor ein paar Wochen hat Harry seinen Freunden noch erzählt: Den Arzt, der mich zwangsimpft, den bring ich um!
Die Gruppe der Querdenker ist in den letzten Monaten zerfasert. Die Köpfe der Bewegung sind zerstritten, Demonstrationen fallen aus, und die Impfungen sind, anders als prophezeit, keine Todesspritzen. Auf Telegram berichten Anhänger frustriert davon, wie sich Bekannte haben impfen lassen, und denken laut darüber nach, ob man die Vakzine nicht mit homöopathischen Mitteln wieder "ausleiten" könne.
Doch während manche an den Rändern der Bewegung vom Glauben abfallen, haben sich jene im Inneren radikalisiert. Sie gründen Stammtische für Ungeimpfte oder eigene Lerngruppen für ihre Kinder, um das Schulsystem zu umgehen. Im September erschoss ein 49-Jähriger in Idar-Oberstein einen Tankstellen-Mitarbeiter, weil der ihn zum Tragen einer Maske aufgefordert hatte. Impfmediziner erhalten Morddrohungen.
Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte auch zur Waffe gegriffen, sagt Harry.
Harry meldete sich auf eine Umfrage von ZEIT ONLINE. Haben Sie in Ihrem Umfeld Anhänger der Querdenkerbewegung, die ins Zweifeln gekommen sind? So lautete die Frage der Redaktion. Harry antwortete mit einem Satz: "Ich selber, ich war auch radikal aber ich mache diese ♥♥♥ nicht mehr mit."
Von außen betrachtet übersieht man schnell, wie schwierig es ist, sich aus einer Weltanschauung zu lösen, die Halt und Orientierung bietet. Wie kann man Überzeugungen hinter sich lassen, ohne das Gesicht zu verlieren? Wie geht Versöhnung? Harrys Beispiel zeigt, wie groß die Konflikte sind, die viele Menschen gerade in sich austragen, wie süchtig die Gedanken machen, und wie groß die Gefahr, in diesem Gedankengebäude verloren zu gehen. Doch es zeigt auch: Man kann wieder herausfinden.
Einen Tag vor der Impfung sitzt Harry an einem Tisch vor einem italienischen Restaurant in Stuttgart. Er blickt auf einen rechteckigen Platz, drumherum Flachbauten, hinten die Hochhaussiedlung, in der er mit seiner Frau in einer kleinen Wohnung wohnt, die das Amt bezahlt. Harry möchte nicht, dass der Ort genauer beschrieben wird, auch einige Details in diesem Text sind verfremdet. Harry, Dieter und andere Personen heißen in Wirklichkeit anders.
Harry kommt als Kind einer Prostituierten und ihres Freiers zur Welt, irgendwann in den Sechzigerjahren. Seine Mutter stirbt an Syphilis. Er wächst im Waisenhaus auf, in einer Pflegefamilie, im Kinderheim, in einer zweiten Pflegefamilie. Nirgendwo bleibt er lang. "Ich war wie ein Paket, das man hin- und herschickt", sagt er. Ein verdroschenes, geschlagenes Kind. So geht die Geschichte, wie er sie erzählt, und so steht sie auch in Entlassungsberichten psychiatrischer Kliniken.
Die Achtziger: Schlägereien im Heim. Sexueller Missbrauch. Mit 17 versucht er, sich aufzuhängen, und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, das ist durch Akten belegt. Seine Seele machte damals zu, so drückt er das heute aus. Er nimmt Kokain, LSD, Meskalin. Es folgen Drogentherapien, von denen keine wirkt, und so nimmt seine Psychiatriekarriere Fahrt auf: mal vier Wochen, mal sechs Wochen. Wenn er wieder mal auf der Straße zusammenknallt, lesen sie ihn auf und bringen ihn zurück.
"Polytoxikomane", so nennt man einen wie ihn, und er wirkt beim Erzählen etwas erleichtert, ein Wort zu besitzen, das etwas Distanz zwischen ihn und sein Leben schiebt. In der Abschlussbefundung einer der vielen psychiatrischen Kliniken seines Lebens steht: "Bei Herrn X bestehen nach ICD-10 folgende Diagnosen: Bipolare affektive Störung, ggw. Mittelgradige depressive Episode (F31.3), pathologisches Spielen (F63.0), anamestisch multipler Substanzgebrauch (F19.20).
Doch da steht auch: abstinent, seit Jahren schon.
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So wie seine Krankheit zwei Aggregatszustände kennt, die Depression und die Manie, so gibt es auch in Harrys Leben nicht nur Tiefs. Da sind die Jahre in Peru, wo er seine erste Frau kennenlernt, die Zeit in Ungarn, dort trifft er seine zweite Frau. Da ist Glück, aber es hält nie lange. Irgendwann taucht in seinen Geschichten eine christliche Sekte auf, eine Teufelsaustreibung, die Hells Angels. Auf Höhenflüge folgt zuverlässig der Absturz.
Die große Bürde seines Lebens beschreibt Harry so: "Ich bin wie ein Wolf", sagt er. "Getrieben. Ich habe immer Angst davor, etwas zu verlieren, nicht zu bekommen oder nicht zu erreichen."
Und doch begegnete er immer wieder Menschen, die ihn aufbauten. Seine Ersatzgroßmutter, die er bis zum Tod pflegte. Den Therapeuten, der ihm später half, von den Drogen wegzukommen. Und Dieter.
"Wir waren beide unten beim Teufel, wo es nicht mehr weiterging"
Die beiden lernten sich vor ein paar Jahren in einer Selbsthilfegruppe für Spielsüchtige kennen. Dieter sagt, ihm sei gleich aufgefallen, dass Harry ein guter Mensch sei. "Suchtbehaftete Menschen haben eine andere Sensibilität", sagt er. "Die checken gleich: Hat der Mensch, der mir da begegnet, ein gutes Selbst oder ist das ein Dubbl?" Ein Dubbl, ein Depp, das war Harry nicht, da war sich Dieter sicher.
Dieters Leben in Kürze: Lkw-Fahrer, Alkohol, Spielsucht, Drogen, Scheidung, Knast. Seit 20 Jahren ist er clean und betet jeden Abend. Seit einem Jahr spielt er nicht mehr.
Wenn man die beiden miteinander sieht, denkt man: Da haben sich zwei gefunden. Dieter dreht American Spirit, Harry Sioux. Dieter hat Harry zum Singen mitgenommen, Harry Dieter in den Schützenverein. Harry hat von Dieter gelernt, an sich selbst zu denken, Dieter hat von Harry gelernt, wie man fremde Leute auf der Straße anquatscht.
"Wir haben uns gegenseitig gestützt und beschützt", sagt Dieter.
"Wir erzählen uns alles", sagt Harry.
Dieter sagt, bei ihnen beiden, die dieses Suchtleben hinter sich haben, gebe es ein größeres Bedürfnis zu helfen als bei anderen. "Wir waren beide schon unten beim Teufel, wo es nicht mehr weiterging. Da will keiner mehr hin. Es ist einem dann ein inneres Bedürfnis, jemand anderen davor zu schützen."
Und so bekam Dieter bald mit, wie nach den Drogen und dem Spielen eine andere süchtig machende Substanz in Harrys Leben getreten war.
Harrys Situation im Jahr 2020 muss man sich so vorstellen: Erwerbsunfähig, viel Zeit, andauernd Streit mit seiner Frau. Er muss seinem Leben Struktur geben: Da ist die Selbsthilfegruppe, ein monatlicher Termin beim Psychiater, da sind die Treffen mit Freunden, da ist der Schützenverein, gelegentlich hilft er Kumpels bei Computerproblemen, Harry hat IT-Fachmann gelernt. In diese mühsam selbst gezimmerte Ordnung schlägt die Pandemie ein.
Als er im Fernsehen einen Bericht über den Corona-Ausbruch beim Automobilzulieferer Webasto sieht, denkt er: "Was ist denn das für ein Scheiß?" Als er davon hört, dass das Virus vielleicht durch Zoogenese von Wildtieren auf den Menschen übersprang, sagt er sich: "Von Viechern! Ihr seid wohl ned ganz knusper da oben!"
Er ist ein trotziger Junge, der auf den Boden stampft: Das mag ich nicht! Das gibt’s nicht!
Im Sommer begegnet Harry einem alten Bekannten wieder, den er lange aus den Augen verloren hat, nennen wir ihn Wolfgang. Wolfgang hat ein Haus, einen großen Garten, Eheprobleme und ein neues Hobby. Bald begleitet Harry ihn zu Querdenkerdemos nach Stuttgart und ins schwäbische Umland. Wolfgang schickt Harry Videos auf Telegram, die er archivieren soll, manchmal Dutzende täglich. Harry speichert diese Videos, bevor YouTube sie löscht, er baut ein Archiv, voll mit Beweismaterial für jenen Tag, an dem der Corona-Widerstand einmal die Bundesregierung und all ihre Unterstützerinnen verurteilen wird. Wolfgang schenkt ihm dafür Geld – zumindest nennt er das so: Schenkung.
Allerdings geht es hier um einen monatlichen Betrag in nicht geringer Höhe, und Harry ist Aufstocker. Man könnte also auch sagen, dass Wolfgang Harry gekauft hat und Harry sich hat kaufen lassen.
Und so zieht sich Harry jeden Tag Videos rein, in denen Mund-Nasen-Schutz-Masken mit Würmern auftauchen, die vermeintlich nur unter dem Mikroskop sichtbar sind, oder erbgutverändernde Impfstoffe, oder angeblich gefälschte Särge in Bologna. Harry lebt jetzt in einem Horrorfilm.
Im November 2020 fährt er auf seine größte Demonstration, nach Leipzig. Im Bus sitzt er mit Wolfgang und anderen Bekannten, Kaffee und Kuchen sind umsonst, es läuft Xavier Naidoo, so fahren drei bis vier Busladungen aus dem Stuttgarter Umland nach Nordosten. Was später passiert, hat Harry bis heute im Kopf.
Er steht in einem Pulk, ganz vorne, der Polizei gegenüber, Gegendemonstranten von der Antifa lassen Böller und Raketen los, er schreit: "Vorwärts! Bullen raus!" Da ist keine Angst mehr in ihm, er fühlt sich wieder groß, wieder gut.
Es ist ein Film, der bis heute in seinem Kopf abläuft. Auch jetzt, wenn er davon erzählt, wird seine Stimme tiefer. "Boah, hab ich mich stark gefühlt", sagt er und ballt die Fäuste. Querdenken, das ist für Harry suchtkrank, bipolar, ein Kick. Sein Leben ab dem Sommer 2020 kennt Hochs: die Demos, den Kampf, Bambule machen. Dann hat er so viel Energie, er kann es gar nicht glauben.
Und wie so oft in seinem Leben folgt auf die Manie die Depression. Seine Scham holt ihn ein. Die Reue setzt sich fest. Er fällt in ein Loch. Er verkriecht sich in seinem Zimmer, er archiviert die Videos, er läuft sich selbst davon, bis die Gefühle zu stark werden. Kick, Scham, Reue, Trauer, Kick, es beginnt von vorne.
"Querdenken war für mich ein Suchtersatz", sagt Harry.
Selbstverständlich sind die meisten Querdenker keine psychisch kranken Menschen wie Harry. Aber manche sind anfälliger für Verschwörungstheorien als andere. Die psychologische Forschung hat für das, was Harry umtreibt, einen Begriff: mangelnde Selbstwirksamkeit. Ein tief liegendes Gefühl der Machtlosigkeit kann eine Ursache dafür sein, dass Menschen an Verschwörungstheorien glauben.
Besonders anfällig sind Menschen mit unsicheren Bindungserfahrungen, Menschen, die Gewalt erfahren haben, sagt der Religionswissenschaftler Michael Blume. Blume ist Beauftragter der Landesregierung von Baden-Württemberg gegen Antisemitismus und hat sich viel mit Verschwörungsmythen und Querdenkern auseinandergesetzt. "Diese Menschen erleben die Welt als von bösen Mächten beherrschten Ort", sagt er. Seiner Theorie nach ist Verschwörungsglaube ein Dualismus: "Alles Böse, was mir Angst macht, spalte ich ab und projiziere es auf das Außen." Wie eine umgedrehte Religion.
Harry wurde in seinem Leben geschlagen, missbraucht, fertig gemacht. Manchmal spürt er eine Wut in seinem Innern, die ihm Angst macht. Die Demo in Leipzig löst in ihm ein Hochgefühl aus, eine manische Phase. Seinen Schilderungen zufolge ist Harry im Winter 2020 ein unangenehmer, aggressiver, womöglich gefährlicher Mann. In der S-Bahn trägt er ab sofort seine Kampfmontur, ein schwarzes Barett, einen bis über die Ohren hochgezogenen Schal, eine leuchtend rote Jacke. Kommt mir nicht zu nahe, will er damit ausstrahlen, und doch sucht er die Provokation. Er pöbelt Passagiere an, "schmeiß deine Maske weg!" Wenn die aggressiv werden, flieht er aus der S-Bahn oder redet sich raus. Er ist oft kurz davor, verprügelt zu werden.
Auf Demos trägt er eine Maske, auf der steht: "Kein Versuchskaninchen". Manchmal auch eine Kopfkamera, um mögliche Übergriffe der Polizei zu dokumentieren.
Heute sagt er: "Wenn ich so weitergemacht hätte, hätte ich irgendwann zur Waffe gegriffen." Als Harry sich vor Jahren beim Schützenverein vorstellte, hat er von seiner Krankheit erzählt und verlangt, niemals an einer scharfen Waffe ausgebildet zu werden. Zumindest sagt er das. Er besitzt den kleinen Waffenschein, darf also nur Luftgewehre und Schreckschusspistolen besitzen.
Im Winter 2020 jedenfalls war Harry an einem dunklen Ort angelangt. Der Teufel, so würde es Dieter sagen, hatte ihn wieder mal an den Eiern.
"Wenn du diese Videos anklickst, bleibt irgendwas davon hängen"
Fünf Minuten vor der Impfung fragt der Arzt im Robert-Bosch-Krankenhaus Harry in gutmütigstem Schwäbisch: "Sind Sie denn scho a bissle aufgeklärt worden?"
Harry schaut misstrauisch. Der Arzt sagt: "Mir müsse ja den Leuten wenigschtens sagen, was kann theoretisch passieren …"
"Also, die DNA wird bestimmt nicht verändert …", sagt Harry.
"Nein, versprochen!"
"…ich kann noch Kinder kriegen …"
"… machen!"
"…machen, ja, Entschuldigung." Alle lachen.
Harry verhaspelt sich. "Also, der Impfstoff … ich möcht’ darüber jetzt auch nicht groß debattieren …"
Der Arzt sagt: "Ich vergleiche das immer mit einer SMS ans Immunsystem. Die SMS sagt: Mach ein paar Antigene, das sind diese Nupsis von dem Virus, diese Spikeproteine. Da produziert unser Körper die zwei, drei wichtigsten Erkennungsmerkmale und dann auch gleich die Abwehr, die Antikörper. Und für den bestmöglichen Schutz braucht’s halt zwei Gaben, eine tät nicht ausreichen …"
Er redet über Impfdosen, Abstände, Harry macht "Hm" und "Ja" und zappelt auf seiner Matte etwas hin und her, sein Gesicht verhärtet sich. Dieter stellt Nachfragen zu Wirksamkeit und Risiko der verschiedenen Impfstoffe, Harry schweigt, zehn Sekunden, 20, Dieter und der Arzt plaudern fast schon, Harry schweigt weiter, jetzt schon eine Minute lang, dann sagt er plötzlich: "Ok, lass’ ma die Diskussion, ich will jetzt."
Im Frühjahr 2021 erreicht Querdenken auch die Treffen zwischen Harry und Dieter. Im italienischen Restaurant in Stuttgart spielen die beiden nach, wie das ablief:
Harry: "Ich wollte ihn ja überzeugen! Die ganzen Politiker lügen uns nur an! Die wollen uns vergiften! So hab ich ihn beduddelt."
Dieter: "Jeden Tag. Ach, mehrmals am Tag!"
Harry: "Ich habe ihn immer angerufen: Komm’ mit auf die Demo!"
Dieter: "Corona, Corona, Corona."
Und Dieter sagt in solchen Momenten: Ich komm nicht mit auf die Demo. Das tut mir nicht gut.
Es liegt wohl an der Vergangenheit der beiden, ihrer Suchtgeschichte, dass Dieter Querdenken von Anfang an in psychologischen Kategorien deutet. Er fragt nicht: Könnte Bill Gates hinter dem Coronavirus stecken? Berechnet das RKI die Zahlen falsch? Gibt es tatsächlich eine Übersterblichkeit? Er fragt stattdessen: Tut mir dieses Video gut, in dem von Mikrowürmern in FFP-2 Masken berichtet wird?
Tut es nicht.
Dieter sagt von sich selbst, er sei ein "realistischer Mensch". Als er davon hört, dass Michael Ballweg, der Gründer von Querdenken in Stuttgart, seine Anhänger zu Schenkungen und nicht zu Spenden aufruft, gehen bei ihm die Alarmglocken an: Schenkungen sind steuerfrei, Spenden nicht.
Vieles an der Pandemiepolitik der Regierung gefällt Dieter zwar nicht, aber an eine große Verschwörung hat er nie geglaubt. Er denkt: Kann sein, dass sich zwei oder drei Staaten zusammentun, um kriegerisch was zu erreichen und sich zu verschwören. Aber dass die ganze Welt eine Lüge verbreitet – unvorstellbar. "Für mich war schnell klar, dass die Querdenker in ihrer eigenen Welt leben", sagt Dieter.
Viele Querdenker, glaubt Dieter, haben Baustellen in ihrem Leben, denen sie sich nicht stellen. "Und dann muss ein Feind gesucht werden", sagt er. "Es muss was Böses erschaffen werden, wo ich meinen ganzen Frust, meinen ganzen Ärger, meine ganze Unzufriedenheit, die ich ja eigentlich selbst erschaffen habe oder am Leben erhalte, wo ich die hinschmeißen kann."
Er erkennt in Harrys Beschäftigung mit der Corona-Krise alle Symptome eines Süchtigen. Und er denkt: Wenn Harry die Drogen besiegen kann und die Spielsucht, dann kommt er auch da raus. Er sagt: "Ich wusste, dass so etwas nicht von heute auf morgen heilen kann. Ich habe mir klargemacht: Dieter, du brauchst Geduld mit dem Harry." Das heißt für ihn erst mal: Zuhören. Zuhören. Zuhören. Und hin und wieder ein kleines sachliches Argument, ein Stupser in eine andere Richtung, eine andere Perspektive auf die Dinge.
Wolfgang versorgt Harry weiterhin mit Videos. Dieter sagt ihm: "Wenn du diese Videos anklickst, bleibt irgendwas davon im Unterbewusstsein hängen."
Harry ist im zweiten Jahr der Pandemie ein Mensch, der permanent mit sich kämpft. Auf Facebook schreibt er, dass er nicht mehr an die Verschwörung glaube, dann wieder, dass die Maske aus ihm einen Zombie mache. Auf Demos trägt er Schilder, auf denen er kostenlose Umarmungen anbietet, in der S-Bahn trägt er seine Kampfmontur. Er sehnt sich nach Frieden und spürt in sich Hass.
Je mehr jemand in eine Theorie investiert, desto schwieriger ist der Ausstieg aus dieser Welt. Je länger jemand einem Verschwörungsglauben anhängt, je mehr Brücken er kappt, desto größer ist die Scham, sich selbst einzugestehen, falsch gelegen zu haben. Und desto peinlicher ist es, das seinem Umfeld zu erklären. Es gibt Querdenker, die auf der Intensivstation mit dem Virus kämpfen und keinen Millimeter von ihren Überzeugungen abweichen. Sie fürchten den sozialen Tod mehr als den Tod.
So gesehen stehen die Chancen nicht schlecht für Harry. Anders als bürgerliche Anhänger der Querdenker, die den Glauben plötzlich mitten in ihrem Leben entdecken und radikal mit ihrer bisherigen Existenz brechen, hat er die Erfahrung gemacht: Man kann falsch abbiegen und wieder auf die Spur finden. Man kann tief fallen und es geht trotzdem weiter. Harry weiß, was Scham bedeutet.
Im Sommer 2021 stellen Harry und Dieter sich die Frage, ob sie sich impfen lassen sollen. Da ist, einerseits, die Sehnsucht: Rückkehr zur Normalität, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wieder Chor, wieder Schützenverein, wieder Selbsthilfegruppe. Da ist andererseits: Angst.
Harrys Querdenkerfreunde schreiben ihm: Du fällst tot um!
Er schreibt dem Virologen Hendrik Streeck eine Mail, in der er von seinen Vorerkrankungen erzählt, bipolare Störung, Suchterkrankung, und ob das Risiko einer Impfung für ihn absehbar sei. "Ist das ein Spiel mit dem russischen Roulette?", fragt er. "Vielleicht haben Sie Antwort auf meine Fragen und meine Ängste." Er erhält keine Antwort.
Dieter ist skeptisch gegenüber der Impfung. Er wartet ab, weil er wissen möchte, wie andere die Impfung vertragen.
Monatelang trägt Harry einen inneren Zwiespalt mit sich herum. Irgendwann schreibt er Wolfgang: "Schick’ mir nichts mehr, ich brauch ’ne Pause."
Da wächst ein Pflänzlein, denkt Dieter, als Harry ihm davon erzählt.
Harry: "An anderen Tagen dachte ich: Vielleicht haben sie ja doch Recht. Schick’ mir das von dem Dr. Bhakdi, vielleicht wird die DNA durch die Impfung ja doch verändert."
Dieter bekommt BioNTech, Harry eine Panikattacke
Im Juni 2021 kommen Harry und Dieter an ein Auto. Dieter suchte schon lange ein billiges. "Ich habe immer gebetet: Lieber Gott, ich hab’ wenig Geld. Aber so a kleines Audöle, mit dem man sich a bissle des Land angucken kann?" Nach zwei Jahren Beten ungefähr kommt ein Anruf von einer Bekannten: Ihre Tante ist gestorben. Sie hat einen Renault Mégane, werkstattgepflegt, ihr Cousin will 500 Euro dafür. "Ich: Echt? Boah. Wo wie wann?"
Dieter macht eine Probefahrt, ruft Harry an und fragt: "Wär das nicht was für uns, wenn wir uns zusammen das Ding kaufen? Und dann gucken wir uns ein bisschen das Ländle an."
Am Ende zahlt jeder 200 Euro, sie teilen die Versicherung, wer gerade mehr Geld hat, zahlt das Benzin. In zweieinhalb Monaten fahren sie 12.000 Kilometer: In den Schwarzwald. An den Bodensee. In die Alpen. An den Main. Es wird ein schöner Sommer: Fast täglich treffen sie sich. Kaffee kochen, Stullen schmieren, ab ins Blaue. Dieter fährt, Harry navigiert und bestückt den Player mit seinen selbst gebrannten CDs.
Dieter sagt: "Die erste Fahrt? Das war einfach happiness. Das war einfach schön!"
Eine ihrer ersten Ausflugsfahrten führt sie in Dieters Geburtsort. Sie wandern durch die Altstadt und kommen an einer Kirche vorbei, einer schönen alten Kirche. Dieter sagt: Komm, lass uns reingehen. Harry: Nee. Dieter: Komm, wir zünden eine Kerze an und bedanken uns. Sie gehen rein, beten, zünden eine Kerze an für ihre Lieben und bedanken sich für den schönen Tag, und alles, was gerade in ihnen in Bewegung gerät.
Als Dieter diese Geschichte erzählt, schweigt Harry. Was war bei ihm los in diesem Moment?
"Frieden", sagt er, und seine Stimme klingt warm und tief. "Frieden." Nach langer Zeit.
Ganz langsam verdichtet sich bei Harry ein Gefühl: Nicht nur Dieter, auch zwei andere Freunde erzählen ihm immer wieder: Grenz’ dich ab. Diese Videos tun dir nicht gut. Immer, wenn er Dieter davon erzählt, ist er verblüfft: Seine Freunde kennen sich nicht, doch sie erzählen ihm alle das Gleiche.
Einmal steht Harry bei seinem Querdenkerkumpel Wolfgang, in dessen Garten. Er sagt ihm: "Stell’ dir doch mal vor, es gäbe die Querdenker nicht. Es gäbe die Demos nicht. Was wäre denn mit deinem Leben? Das wäre doch trostlos." Wolfgang ist still.
Den ganzen Sommer über machen Dieter und Harry Ausflüge durch Süddeutschland. Sie reden nicht viel dabei. Sie fahren durch die Landschaft, sie essen eine Schwarzwälder Kirschtorte, sie besichtigen eine Kirche, sie sprechen ein Gebet. Sie schweigen viel miteinander.
Harry sagt: "Ich habe die Gewissheit ... ich weiß nicht, warum, aber es ist so ... heute habe ich die Gewissheit, während ich das sage: Wenn ich nicht Gott in meinem Herzen hätte, hätte ich die Querdenker♥♥♥ weitergemacht, hätte ich vielleicht zur Waffe gegriffen, wäre ich rückfällig geworden."
Monatelang trug Harry einen inneren Zwiespalt mit sich rum. © Thomas Pirot für ZEIT ONLINE
Dieter sagt: "Der Harry erkennt gerade, dass Seelenfriede durch Stille, durch Innehalten und Geduld kommt. Wir Menschen wollen alles viel zu schnell erreichen. Das macht unzufrieden und krank. Gewisse Sachen brauchen Zeit. Immer, wenn wir in Gesprächen über Corona abgedriftet sind, habe ich ihm gesagt: Leg’ alles still in Gottes ewige Hände, das Glück, den Schmerz, den Anfang und das Ende."
Am 9. September gehen Dieter und Harry ins Impfzentrum. Dieter bekommt BioNTech, Harry eine Panikattacke, in ihm kommen alte Querdenkeralptraumbilder hoch, die Menschen in der Schlange wie eine Kuhherde, eine Massenabfertigung, über allem thront der Wieland, der Tierarzt, der ihnen die Spritze reinhaut.
20 Stunden vor der Impfung fahren Harry und Dieter in ihrem Auto aus Stuttgart raus Richtung Westen. Sie fahren durch Weinberge, Obstbäume, der Duft von gemähtem Gras weht herein, der Mais steht hoch, ein Hauch von Herbst steckt in den Bäumen, links zieht das Restaurant Paradies vorbei, aus den Boxen kommt eine Gospel-Blues-Mischung, Dieter trommelt auf dem Lenkrad, Harry seufzt ein Gitarrensolo mit, seine Hand auf dem offenen Fensterrahmen, es ist alles perfekt in diesem Moment.
Dieter sagt: "Früher wären wir in einer dunklen Kaschemme gehockt, vor Spielautomaten, wo es Kaffee umsonst gibt, und jetzt fahren wir durch Göttes schöne Welt!"
Sie fahren durch Calw, es geht hinauf, die Bäume werden silbergrün, die Luft kälter. Bad Wildbad. Enzklösterle. Gompelscheuer. Sie halten bei der Poppelmühle, einem Fachwerkgasthaus, gerade geschlossen. "Oh wie geil, ich muss das fotografieren", ruft Harry und fotografiert einen alten Dreschflegel. Wie immer, wenn er begeistert oder wütend ist, verfällt er in starkes Schwäbisch:
"Mei Godd, wie geil!
Gugg a mol, wie schee."
Wieder zurück im Auto sagt er: "Bissle Angst hab’ ich schon vor morgen."
Zwei Minuten vor der Impfung liegt Harry auf der Liege im Beobachtungsraum, die Arme auf dem Bauch, Dieter tätschelt seine Hand. "Können ma des Hemdle ausziehen?", fragt die Krankenschwester. "Sonst komm’ ich nicht an den Oberarm ran." Harry knöpft das Hemd auf, seine Finger zittern.
Er schließt die Augen, und erzählt: "Mir ware schö geschdern im Schwarzwald, ganz doll, wie heißt der Ort...?"
"Alpirsbach?", fragt der Arzt.
"Nee, da hinten Richtung Nagold ..."
"Liebenzell?", fragt der Arzt.
Dieter sagt: "Mir waren Bad Wildbad, Enzklösterle"
"Uh, da geht’s aufwärts, da habe ich sehr gute Erinnerungen", sagt der Arzt.
"Ja, Jaah, wunderbar", seufzt Harry, "des war sou schöön, so doll, und die Bluumen, und die Wieesen…"
Diese Aufnahme zeigt Harrys zweite Impfung, sechs Wochen später © Thomas Pirot für ZEIT ONLINE
Dann hebt er den Kopf: "Ist des scho passiert jetzt?"
"Ja, isch vorbei", sagt der Arzt.
"Wie bitte? I hab gar nix gmärgd."
"Tschuldigung, dass Sie nix gmärgd hän", sagt der Arzt und lacht.
Die Krankenschwester bringt Harry ein Glas Wasser, Dieter hält seine Hand. Harry trägt ein Lächeln auf dem Gesicht, das Stunden halten wird.
Dann plaudern alle noch ein wenig. Letzte Woche, erzählt die Krankenschwester, habe ein Mann nach der Impfung gefragt, wie lang er das Pflaster kleben lassen müsse. Seine Frau dürfe auf keinen Fall erfahren, wo er gerade gewesen sei, sie sei Impfgegnerin. Der Arzt erzählt, er habe in letzter Zeit ein paar Leute geimpft, wo er das Gefühl habe, vielleicht seien die auf ein paar Querdenkerdemos gewesen. Nur so ein Gefühl, zugegeben habe das keiner. "Er ist der erste, der sich dazu bekennt. Ein eindrucksvolles Beispiel", sagt er über Harry.
Was machen wir als Gesellschaft mit Menschen, die sich verlaufen haben und viele vor den Kopf gestoßen haben? Sind wir bereit zu verzeihen? Sollten wir das?
Harry war drogensüchtig, jetzt ist er clean. Harry war spielsüchtig, jetzt spielt er nicht mehr. Harry war Querdenker und hat mühsam gelernt, wieder geradeauszudenken. Wenn er es geschafft hat, schaffen es auch andere. Nicht jeder hat einen Dieter an seiner Seite. Aber wenn man Harry fragt, was er Freunden und Angehörigen von Querdenkern rät, sagt er: Verurteilt sie nicht. Gebt sie nicht auf. Steht zu ihnen, egal, was passiert.
Und redet nicht nur über Corona. Es gibt so schöne Dinge im Leben.
* Die Namen sind Pseudonyme. Die echten Namen sind der Redaktion bekannt.