365 Festnahmen? Da war die Polizei aber wirklich sehr, sehr nachsichtig.
Proteste gegen Corona-Politik in Berlin Tritt gegen Kopf, Arm ausgekugelt, Hand gebrochen – drei Polizisten schwer verletzt
...und wenn sich der MdB mit Polizisten prügelt....
Spoiler
Deutschland
Corona-Proteste
„Was, wenn das nicht nur Wasser ist?“
Stand: 18:46 Uhr | Lesedauer: 5 Minuten
Von Tina Kaiser, Annelie Naumann
Bei den Demonstrationen gegen das Infektionsschutzgesetz eskalierte die Lage in Berlin, Wasserwerfer kamen zum Einsatz. Doch der Protest erreichte ein neues Niveau: Sogar im Deutschen Bundestag wurden Abgeordnete bedrängt und beschimpft.
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Der Mittwochmorgen beginnt für die Demonstranten vor dem Brandenburger Tor mit einem kleinen Sieg, der jedoch in ihrer Wut zunächst unterzugehen droht. Es ist kurz nach neun Uhr, einige hundert Kritiker der Corona-Politik haben sich zu dieser Zeit schon auf dem Platz des 18. März eingefunden. Sie tragen Schilder: „Stoppt das Epidemiegesetz jetzt“, „Keine Diktatur“ oder „Maulkorbfrei“.
Die Polizei macht Durchsagen, die im Pfeif- und Buhkonzert untergehen. Erst im dritten Versuch verstehen die Menschen, was der Wachtmeister ihnen zu sagen versucht: Ihre Versammlung wurde genehmigt. Sie dürfen demonstrieren, solange sie sich an das Abstandsgebot und die Maskenpflicht halten. Jubelschreie, Umarmungen, vielleicht doch keine Diktatur hier?
Am Vortag hatte das Bundesinnenministerium Demonstrationen in der Bannmeile um den Reichstag aus Sorge vor Gewaltausbrüchen zunächst verboten. Kritiker des geplanten Infektionsschutzgesetzes hatten in sozialen Netzwerken dazu aufgerufen, Bundestagsabgeordnete daran zu hindern, das Parlament zu betreten. Einige hatten sogar gedroht, Politiker anzugreifen.
Am Mittwochmorgen erlaubte die Polizei die Proteste dann doch, nachdem viele trotzdem ins Regierungsviertel gekommen waren. Es war offenbar ein Versuch der Polizei, die Situation zu deeskalieren.
Dass dieser Versuch scheiterte, wird sich einige Stunden später zeigen. Am Morgen ist die Stimmung dagegen zunächst weitgehend friedlich, es wird getrommelt und getanzt. Das Publikum ist gemischt: Eltern mit Kindern, Rentner in Multifunktionsjacken, Frauen mittleren Alters mit selbstgehäkelten, löchrigen Masken, Männer mit Glatzen und Tarnhosen.
Mit Journalisten wollen die meisten nicht reden
Die meisten wollen nicht mit Journalisten sprechen, rufen „Lügenpresse“ und halten Reportern ihr Handy ins Gesicht. Einige dagegen wollen reden. Sie erzählen sichtlich besorgt, im Bundestag werde gleich ein Ermächtigungsgesetz beschlossen, das das Parlament komplett entmachte. Wie damals beim Hitler, ruft ein älterer Herr. Dass Adolf Hitler 1933 tatsächlich dem Parlament sämtliche Gesetzgebungskompetenz entzog und heute nichts dergleichen geplant ist – diese Argumente verpuffen bei den Menschen. Sie haben bei YouTube etwas anderes gehört.
Während sich der Platz vor dem Brandenburger Tor und die Straße des 17. Junis füllen, läuft der CDU-Politiker Friedrich Merz mit schnellen Schritten an den Demonstranten vorbei, auf die Absperrung vor dem Reichstag zu. Als die Polizisten ihn gerade durch das Gitter lassen, entdeckt ihn doch noch ein Demonstrant mit weißem Haar und dicker Winterjacke. „Herr Merz, überlegen Sie sich gut, wie Sie heute abstimmen“, ruft er mit erhobenem Zeigefinger. Merz sagt, er sei ja gar kein Bundestagsabgeordneter, deswegen stimme er gar nicht ab. Dann läuft er weg. Der Mann sagt: „Ach schade.“
Auf der Marschallbrücke auf der anderen Seite des Bundestags haben Demonstranten eine Bühne aufgebaut. Unter heftigem Applaus des Protestteilnehmer steigt eine Krankenschwester auf die Bühne, die überzeugt ist, zwangsgeimpft zu werden. Es redet auch eine Grundschullehrerin, die den Mundnasenschutz mit dem Judenstern vergleicht und Jens Spahn als „dreckigen Politiker-Darsteller-Kastenpack“ bezeichnet.
Hundert Meter weiter kommt es ungefähr zur selben Zeit zu einem Gerangel zwischen dem AfD-Bundestagsabgeordneten Karsten Hilse und der Polizei. Wenig später steht Hilse mit einer Gruppe Männern mit AfD-Fahnen auf der Straße des 17. Juni. Er zeigt seine blutige Lippe und eine Wunde am Ohr. So wie er es darstellt, habe die Polizei ihn aufgehalten, weil er keine Maske trug.
Er habe ein Attest, das die Polizei nicht akzeptiert habe, da es keine spezifische Krankheit benennt. Daraufhin sei es zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen. Die Polizei Berlin bestätigte Hilses Schilderung. Unklar blieb, wer zuerst handgreiflich wurde.
Nachdem um 12 Uhr im Bundestag die Debatte um das Infektionsschutzgesetz beginnt, wird die Stimmung vor dem Parlament zunehmend aggressiv. Die Menge ist inzwischen auf mehrere Tausend Menschen angewachsen.
Kaum jemand scheint sich noch an Mindestabstände oder Maskenpflicht zu halten. Mehr und mehr schwarz gekleidete Männer mit Runenzeichen, Reichsflaggen oder T-Shirts der Verschwörungsideologie QAnon tauchen auf der Straße auf. Auch der verurteilte Holocaust-Leugner Nikolai Nerling mischt sich unter die Demonstranten.
Im Reichstag kommt es derweil zu Szenen, die es so vermutlich vorher noch nie gegeben hat: Mit Handykameras bewaffnete Personen laufen durch die Flure und bedrängen Mitglieder des Bundestages, gegen das Infektionsschutzgesetz abzustimmen.
Einige streamen live ins Internet. Ein Film macht schnell die Runde, in dem Wirtschaftsminister Peter Altmaier am Aufzug von einer Frau beschimpft wird, er habe kein Gewissen. Laut dem FDP-Abgeordneten Konstantin Kuhle seien es Bundestagsmitglieder der AfD gewesen, die die Hobbyhandyreporter in den Reichstag geschleust hätten.
Während online schon über Konsequenzen diskutiert wird, beginnt offline vor dem Brandenburger Tor der vorläufige Showdown. Um kurz nach 12 Uhr erklärt die Polizei die Versammlung offiziell für beendet, da zu viele Teilnehmer gegen die Abstandsregeln und die Maskenpflicht verstoßen hätten.
Die Lautsprecherdurchsage wird mit wütenden Buhrufen kommentiert. Demonstranten drängen an die Absperrungen, brüllen Polizisten an. Ein Mann hält ein Schild hoch, auf dem steht „Reichsbürger - wo sind sie?“. Hinter ihm läuft ein Mann mit Reichsflagge vorbei, neben ihm schreit gerade die bekennende Reichsbürgerin Birgit Doll Polizisten „Schämt euch“ ins Gesicht.
Gegen 13 Uhr rücken die Wasserwerfer an, eine Oma mit ondulierten Haaren packt ihr Regencape aus. Nur wenige Meter vor den Wasserwerfern steht ein Demonstrant mit Baby im Arm und brüllt: „Stoppt die Diktatur“.
Gegen 13 Uhr eskaliert die Lage
Rauchbomben explodieren, Flaschen, Steine und Böller fliegen auf Polizisten. Diese wiederum nehmen rund 190 Menschen fest, treiben die Menge mit Sprühfontänen mehrerer Wasserwerfer auseinander. Einen direkten Strahl auf die Menge setzen die Polizisten wohl nicht ein, weil Kinder unter den Demonstranten waren. Es soll noch bis in den frühen Nachmittag dauern, bis die Menge den Platz geräumt hat.
Hinter den Absperrungen stehen Abgeordnete und Mitarbeiter der AfD. Der aus der Partei ausgeschlossene Andreas Kalbitz gibt Interviews in eine Kamera. Zwei Frauen liegen sich weinend in den Armen, eine fragt: „Was ist, wenn das nicht nur Wasser ist?“ Was sie damit meinte, will sie nicht erklären.