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Sachsen: Nach Impfschaden - Carolin S. will nicht politisch ausgenutzt werden
Hirnvenenthrombose nach Astrazeneca
Eine von 28: Warum Carolin S. nicht möchte, dass ihr Impfschaden politisch ausgenutzt wird
Döbeln. Nichts ist so unerklärlich wie das Schicksal. Vor allem für jene, die es trifft. Im März 2021 ist Carolin S., eine 28-jährige Döbelnerin mit feuerroten Haaren, als eine der ersten bei der Corona-Impfung dran. Der Grund: Sie pflegt ihren lungenkranken Vater.
Was ihr damals noch wie ein Privileg vorkam, erwies sich später als eine Art ungeplantes Experiment: Carolin erlitt einen Impfschaden – der siebte im Zusammenhang mit Astrazeneca – woraufhin Deutschland einen Impfstopp für dieses Mittel verhängte. Trotz vorangegangener Tests hieß es nun, das Vakzin sei gefährlich für junge Frauen. Inzwischen wehrt sich der Hersteller vor Gericht gegen Klagen in Millionenhöhe. Und Parteien wie AfD oder BSW fordern in ihren Wahlprogrammen eine Aufarbeitung der Pandemie, letztere mit Blick auf „Folgen der Impfung“.
Nichts ist so unerklärlich wie das Schicksal, aber wie macht man dann seinen Frieden mit ihm? Eine Autostunde östlich von Leipzig, wo aus dem drögen Flachland plötzlich nervöse Hügel wachsen, liegt Döbeln. In einer pastell-ruhigen Reihenhaussiedlung tritt eine junge Frau aus der Tür. Die feuerroten Haare hat nur sie und ihre Zwillingsschwester, sonst niemand in der Familie. „Vielleicht eine Laune der Natur“, sagt sie.
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Nach Carolins Impfschaden wurde Astrazeneca ausgesetzt
Es gibt Menschen in diesem Land, denen ein Fall wie Carolins beinahe perfekt ins politische Programm passt. Gern würden sie Carolin vorzeigen und sagen: Seht her, was die Impfung anrichtet. Wie die Regierung uns vergiftet. Und wen würde es wundern, würde Carolin selbst so fühlen? Die junge Frau, die fast ihr Leben verlor, bevor die Behörden ein Mittel vom Markt nahmen, dessen Wirkung offenbar doch nicht genügend erprobt war?
Carolin hat hereingebeten, weil draußen kühle Novemberluft weht – und weil sie ihren Mann nicht so lange allein mit dem kleinen Kind lassen möchte. Bis Carolin ihren Impfschaden erlitt, pflegte sie ihren Vater. Inzwischen ist sie selbst Mutter eines Sohnes. Und verheiratet. Wer sie trifft, bemerkt schnell ihre Entschlossenheit, sich ein Leben nach der Krankheit aufzubauen. Eines, in dem sie sich weniger mit dem beschäftigt, was war und mehr mit dem, was noch kommt. Vor allem möchte sie die Kontrolle über ihre Krankheitsgeschichte zurückgewinnen. Es gelingt ihr immer besser. „Ich bin gut mit dem Thema“, sagt sie. „Ich muss nicht mehr weinen.“
Aber an manchen Tagen gelingt es ihr auch nicht. Wie vor einigen Monaten in einem Saal des Oberlandesgerichtes Dresden. Auf der Anklagebank saßen Vertreter des Impfstoff-Herstellers Astrazeneca. Die Klägerin war eine junge Leipzigerin, die hier Konstanze heißen soll, und über die Carolin sagt: „Sie ist meine Freundin.“
Konstanze heißt eigentlich anders, aber weil sie nicht wie Carolin öffentlich spricht, soll ihr echter Name nicht in der Zeitung stehen. 2021 studierte sie Medizin in Leipzig und bekam deshalb früher als andere die Corona-Impfung, nur einen Tag vor Carolin. Genau wie Carolin bekam sie Kopfschmerzen, die nicht mehr weggingen, sondern schlimmer wurden. Beide erlitten eine Hirn- und Sinusvenenthrombose. Laienhaft gesagt führt der Impfstoff in solchen seltenen Fällen dazu, dass im Gehirn eine kleine Menge Blut gerinnt. Der Druck im Kopf steigt. Wenn man jetzt nicht eingreift und etwa den Schädel öffnet, kann die Person sterben. Warum das passiert, versucht die Forschung noch zu verstehen.
Eine handflächengroße, bienenwabenförmige Titanplatte wird Carolin immer an diesen Tag erinnern. Sie befindet sich unter ihren Haaren dort, wo die Ärzte linksseitig ihren Kopf aufsägten. Manchmal spürt sie darunter noch einen leichten Druck. „Als hätte man einen Helm auf, der ein bisschen zu klein ist“, sagt sie.
Carolins Leben konnte nur knapp gerettet werden. Nachdem mitten in der Nacht ihr Herz aufgehört hatte zu schlagen, wachte sie auf der Intensivstation der Leipziger Uniklinik auf. Sie, Carolin, war nun die große Ausnahme. Mehr als sieben Millionen Corona-Impfungen wurden in Sachsen bis heute verabreicht. In 28 Fällen trug erwiesenermaßen jemand einen Impfschaden davon. Eine Wahrscheinlichkeit, etwa so gering wie ein Sechser im Lotto. Doch dann lag neben Carolin auf der Intensivstation noch jemand, dem es so erging: Konstanze.
Carolin lag mit einer anderen Impfgeschädigten auf der Leipziger Intensivstation
Die Medizinstudentin konnte schon wieder sprechen. Carolin nicht, aufgrund der Schäden, die der Blutstau in ihrem Gehirn angerichtet hatte. Konstanze probierte es immer mal. Sie sprach ihre Zimmernachbarin an. Neugierig. Aus Zeitvertreib. Aber Carolin antwortete nicht. „Ich konnte es noch nicht“, sagt sie. „Vor allem habe ich mich geschämt.“ Aber Konstanze gab Carolins Zwillingsschwester ihre Handynummer.
Carolin und Konstanze, heute schreiben sie regelmäßig. Einmal im Jahr treffen sie sich. Sie haben gemerkt, dass sie bestimmte Dinge nur miteinander bereden können. Was sie dann bereden, sagt Carolin, würden keine Freunde, keine Eltern, kein Ehemann verstehen. Und natürlich kein Zeitungsleser. „Weil nur wir wissen, was wir durchgemacht haben.“ Etwa „die unsichtbaren, blöden Momente“, sagt Carolin. Wenn man allein war im Krankenhaus. Wenn man allein geweint hat und nicht mehr aufhören konnte.
Carolin lud ihre neue Freundin zu ihrer Hochzeit ein, in einem alten Hofgut bei Döbeln. Vielleicht war das der Tag, an dem ihr neues Leben begann. Da war der neue Mann, Ralf. Der Sohn der netten Taxifahrerin, die Carolin immer zur Therapie in die Tagesklinik Leipzig gefahren hatte. Den sie auf Facebook fand und der ihr dort antwortete: „Bist du etwa die Carolin, von der meine Mama immer erzählt?“
Im Januar 2024, das Kind war schon unterwegs, machte Ralf ihr einen Antrag. Carolins Sprache stockte damals noch. Einfache Wörter oder Namen fielen ihr manchmal nicht ein. Sie ging weiter zur Logopädie. Auf der Hochzeit, versprach ihr Ralf, würde er eine Rede für sie beide halten. Aber als er fertig war, spürte sie, dass etwas anders war. Auf einmal ergriff sie doch das Wort. „Ich war plötzlich so gut drauf“, sagt sie. „Und wenn ich etwas falsch mache, dachte ich, dann wissen doch alle warum.“
Konstanze konnte nicht zur Hochzeit kommen. Aber Carolin kam, als Konstanze den Konzern Astrazeneca verklagte. Und als sie ihre Freundin im Saal sitzen sah, kamen ihr die Tränen. „Es fühlte sich an, als würde ich selbst dort sitzen.“ Die Familien der beiden lernten sich kennen. Die Mütter umarmten einander. Und später, beim Essen, rissen sie Witze. Die Runde lachte über den milliardenschweren Impfkonzern, der sich nun mit ihnen, den zwei energischen, jungen Sächsinnen, rumschlagen muss. „Das war befreiend“, sagt Carolin. „Die haben doch so viel Geld verdient mit ihrem Mittel.“
Ich bin keine Impfgegnerin.
Carolin S. erlitt als eine von 28 Sächsinnen und Sachsen einen Corona-Impfschaden.
Aber es war kein hämisches Lachen wie jenes, das man von hartgesottenen Impfgegnern kennt. Es gibt seit der Pandemie einen neuen, zynischen Sound, der etwa in Kommentarspalten unter Nachrichten über Herzinfarkte bei jungen Menschen angestimmt wird. „Schön totgespritzt“, schreiben dann manche. Andere posten gefälschte Statistiken über einen Anstieg von Herzinfarkten, den es in Wahrheit nicht gibt. „Selbst schuld, wenn man sich impfen lässt“ schrieb jemand unter einen früheren Artikel über Carolins Schicksal.
Sie kann das ab. Auch, wenn sie Menschen mit dieser Meinung persönlich begegnet.
Vor einigen Monaten, Carolin war auf dem Weg in die Tagesklinik, saß sie mit einer Frau im Taxi. Die Frauen kamen ins Gespräch. Die andere war, so Carolin, „offensichtlich eine AfD-Wählerin“. Als sie der Frau vom Grund ihres Klinikbesuchs erzählte, reagierte diese ganz aufgewühlt. Sie fragte Carolin, ob sie nicht mit zu ihrem Stammtisch kommen will. Dort könnte sie erzählen, was eine Impfung alles anrichten kann. Carolin lehnte ab. „Ich bin keine Impfgegnerin“, sagt sie. „Für meine Eltern war die Impfung sicherlich lebensrettend. Mein Vater hat sie unbedingt gebraucht.“ Sie wolle sich nicht ausnutzen lassen.
Carolin weiß, dass einige Parteien, etwa das Bündnis Sahra Wagenknecht oder die AfD, eine Corona-Aufarbeitung fordern. Sie verfolgt die Debatte nicht im Detail. „Dafür bin ich noch zu viel mit mir selbst und meinem Sohn beschäftigt.“
Ob sie trotzdem eine Meinung dazu habe? „Ich fände eine Aufarbeitung nicht schlecht“, sagt sie dann. „Aber nur, wenn sie für alle gilt. Also auch für Long-Covid-Fälle.“ Menschen, die unter den Folgen ihrer Corona-Erkrankung litten, lernte Carolin in der Tagesklinik in Leipzig kennen. In der Liebigstraße werden beide Patientengruppen im selben Haus therapiert, weil sie ähnliche Leiden haben.
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„Man hat ja immer gesagt, die Impfung ist sicher. Das habe ich geglaubt. Was soll ich also bereuen?“: Carolin B. (29, rechts) und ihre Schwester Stefanie.
Hirnvenenthrombose nach Astrazeneca-Impfung
Carolin und die 0,0004 Prozent
Der Impfstoff des Herstellers Astrazeneca hat in einigen Fällen vor allem bei jungen Frauen Hirnvenenthrombosen ausgelöst. Derzeit laufen Schadensersatzprozesse vor verschiedenen Gerichten.
Urteil nach Corona-Impfung
Studentin aus Leipzig zieht vor Gericht: Astrazeneca nach Corona-Impfschaden verurteilt
Carolin selbst zieht noch nicht vor Gericht. Außer, ihre Freundin Konstanze hat Erfolg. Für diesen Fall hat der Anwalt für sie bereits formlos eine Klage angemeldet. Denn mit Jahresende erlischt der Anspruch, einen Impfschaden geltend zu machen. Konstanze fordert 150.000 Euro Schadensersatz. Durch ihren Impfschaden ist sie nicht mehr in der Lage, viele Stunden unter hoher Belastung zu arbeiten. Sie brach ihr Medizinstudium ab.
Nun könnte sie den Weg für weitere Klagen bereiten. Ein erster Schlag gegen Astrazeneca ist ihr bereits gelungen: Das Dresdner Gericht verurteilte den Konzern, alle Nebenwirkungen und Gefahren seines Mittels offenzulegen. Am 19. März 2021, drei Tage nach dem deutschen Impf-Stopp für „Vaxzevria“, ergänzte Astrazeneca auf dem Beipackzettel seines Mittels, dass Thrombosen „sehr selten nach Impfung“ auftreten können. Auf eine Anfrage zum Prozess in Dresden erklärt der Konzern, sich „zu laufenden Verfahren nicht äußern“ zu können.
Carolin braucht keinen Sieg vor Gericht, um sich ein neues Leben aufzubauen. Sie möchte die Kontrolle über ihre Krankheit zurückgewinnen. Sie möchte die Krankheit als überstanden ansehen. Obwohl das nie ganz so sein wird. Kürzlich fragte sie jemand, warum sie denn nicht arbeiten gehe? Warum sie Rente bekäme, knapp 2000 Euro im Monat? Den Impfschaden sieht man ihr nicht an. „Ich habe bei solchen Fragen immer eine bestimmte Scham“, sagt Carolin. „Obwohl ich weiß, dass ich das nicht muss.“