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Alle hätten Anspruch darauf zu erfahren, was in der Nacht passiert sei, in der Walter Lübcke auf seiner Terrasse im hessischen Wolfhagen-Istha erschossen wurde. Das hat sein mutmaßlicher Mörder, Stephan Ernst, im Rahmen seines dritten Geständnisses über seinen Verteidiger angekündigt. Und alle hätten Anspruch darauf zu erfahren, wie es dazu gekommen sei. Dazu werde er auch Fragen beantworten.
Die entscheidendste stellt der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel an diesem neunten Verhandlungstag um 11.11 Uhr selbst: Ausführlich hat Stephan Ernst geschildert, wie er gemeinsam mit dem Mitangeklagten Markus H. an jenem 1. Juni 2019 abends an einer Waschanlage falsche Kennzeichen an sein Auto geschraubt habe - um Spuren und mögliche Hinweise zu vertuschen. Man habe den Kasseler Regierungspräsidenten erschrecken, ihn mit der Waffe in der Hand einschüchtern wollen. Dann seien sie zum Anwesen der Familie Lübcke gefahren.
Stephan Ernst steht direkt vor dem Richtertisch, neben ihm sein Verteidiger Mustafa Kaplan. Ernst soll an einer Skizze erklären, wie er sich mit Markus H. an die Terrasse, auf der Walter Lübcke saß, heranpirschte.
Richter Sagebiel lehnt sich nach vorn, fixiert Stephan Ernst und fragt, warum er und H. die Kennzeichen getauscht, sich aber beim Angriff auf Walter Lübcke nicht maskiert hätten. "Sie nahmen hier in Kauf, unmaskiert auf Herrn Lübcke zuzugehen. War das nicht ein Risiko?" Sie hätten das nicht als Risiko gesehen, antwortet Ernst arglos. "Man könnte auf den Gedanken kommen, dass Sie deshalb kein Risiko sahen, weil Herr Lübcke auf jeden Fall sterben sollte. Ist das so zwischen Ihnen besprochen worden?"
Ernst verharrt. Er blickt zu Kaplan. Wieder kann man diesem groß gewachsenen Mann fast dabei zusehen, wie er zu straucheln beginnt. Sagebiel hat diesen Angeklagten bereits am ersten Tag verunsichert, als er ihm riet, er möge auf ihn, den Richter, hören, nicht auf die Verteidiger. Sagebiel, sich seiner Wirkung also bewusst, sagt beherzt in väterlichem Ton: "Am sinnvollsten wäre es, wenn Sie uns sagen, was Sie denken, nicht, was Herr Kaplan denkt." Stille. "Brauchen Sie eine kurze Pause?"
Ernst und Kaplan gehen zur Anklagebank zurück, beraten sich kurz. Ernst schaltet kurz darauf sein Mikrofon an: "Es ist so, wie Sie sagen."
Das ist die komplette Kehrtwende von dem, was er in seiner schriftlichen Erklärung am Mittwoch und in den vergangenen zwei Stunden immer wieder behauptet hat: dass Markus H. ihm eingebläut habe, nur dann zu schießen, wenn Walter Lübcke ihnen "blöd käme".
Anspannung im Saal 165. "Ist das expressis verbis thematisiert worden?", hakt Sagebiel nach. "Ja, das ist so thematisiert worden." Und zwar, das räumt Ernst auch ein, bereits bei einem Treffen im April. Richter Lars Rhode schaltet sich ein: Das bedeute, dass es gar keine Aufforderung H.s gegeben habe zu schießen, wenn Walter Lübcke ihnen "blöd käme". Vielmehr sei verabredet gewesen: "Du schießt auf jeden Fall!" - "Ja", bestätigt Ernst, den Kopf gesenkt, die Hände ineinander gefaltet.
Gezielt das Kirmes-Wochenende ausgewählt
Noch einmal beschreibt Ernst, wie er auf Walter Lübcke zugegangen sei, ihn angesprochen und mit seinem Rossi-Revolver Kaliber .38 auf ihn geschossen habe. Bewusst hätten sie sich für das Kirmes-Wochenende in Istha entschieden, das Volksfest sollte die nötige Geräuschkulisse bieten, um "den ziemlich lauten" Schuss zu übertönen.
Angeschafft haben will Ernst den Revolver und andere Waffen anfangs, um sich zu bewaffnen und für einen anstehenden Bürgerkrieg zu rüsten; später sei es darum gegangen, Waffen zu horten, sie umzubauen und leistungsfähiger zu machen.
Der Rossi-Revolver habe ihm gefallen, weil man ihn als Kurzwaffe leichter mitführen könne, sagt Ernst. Wie nach der Tat: Da packte er den Revolver in seine Hosentasche und dort blieb er, bis er sich zu Hause auszog, wie er sagt. Ob er vor dem Schuss auf Walter Lübcke schon einmal damit geschossen habe, will Richterin Miriam Adlhoch wissen. Ernst bejaht. Worauf? "Auf eine Zielscheibe von Merkel", sagt Ernst. Er blickt ungerührt in die Runde.
Markus H. macht sich eifrig Notizen. Er ist wegen Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke angeklagt und soll damals die Zielscheibe mit dem Konterfei Angela Merkels zu Schießübungen mitgebracht haben. Damals soll H. angekündigt haben, auch eine Zielscheibe mit einem Porträt Lübckes anzufertigen. Der CDU-Politiker sei "der Nächste"; einer, an den man eher rankomme als an die Bundeskanzlerin.
So erzählt es Stephan Ernst im Gericht. Wenn all das stimmt, dann war der Tod Walter Lübckes kaltblütig geplant und mit Vorlauf ausgetüftelt. Er habe mit Markus H. über den Messenger-Dienst Threema kommuniziert, weil H. diesen als "sehr sicher" empfohlen habe, sagt Ernst. Via Chat hätten sie sich über politische Themen ausgetauscht - auch über Walter Lübcke.
Am Montag soll Stephan Ernst weiter vor Gericht befragt werden. Aber nicht von allen. Sein Verteidiger Mustafa Kaplan hat erklärt: Sein Mandant werde Fragen des Gerichts, der Bundesanwaltschaft, des psychiatrischen Sachverständigen und der Familie Lübcke beantworten. Fragen des Nebenklägers Ahmad E., dem er im Januar 2016 ein Messer in den Rücken gerammt haben soll, nicht.
Das macht aus seiner Sicht Sinn: In Ernsts Haus wurde ein Messer gefunden - mit DNA, die Übereinstimmung mit der DNA von Ahmad E. aufweist. Der aus dem Irak Geflüchtete leidet noch heute unter den Folgen des Angriffs. In seiner Erklärung stritt Ernst die Tat ab, das Messer erwähnte er mit keinem Wort. Würde Ernst Fragen des Nebenklägers zulassen, würde nur Ernsts "Verlogenheit" zum Vorschein kommen, meint E.s Anwalt, Alexander Hoffmann. "Da gibt es schon sehr viele Widersprüche."
Noch mehr Sinn macht es, Fragen der Verteidigung des Mitangeklagten Markus H. nicht zu beantworten. Bislang gibt es keine Beweise dafür, dass H. am Tatort war, keine DNA-Spur, keine Fingerabdrücke, keine Zeugenaussagen. Doch Stephan Ernst bezeichnet ihn als Lenker und Denker beim ersten rechtsterroristisch motivierten Mord an einem Politiker in der Bundesrepublik. Markus H. sei der Agitator, der Scharfmacher, der Demagoge gewesen, der ihn, Ernst, radikalisiert und aufgehetzt habe.
Markus H. hat im Ermittlungsverfahren keine Angaben gemacht, auch im Prozess schweigt er bislang. Seine Mimik konnte man im Gerichtssaal bislang als recht selbstzufrieden interpretieren. Auch Ernsts Geständnis, der Mord sei geplant gewesen, schien H. nicht zu erschüttern. Seine Verteidiger dürften dennoch versuchen, die Anschuldigungen als konstruiert und erfunden zu entlarven.