Ich hatte ja den "Staranwalt" Hannig in Verdacht bezüglich der Weitergabe der Videos an "STRG", wie es scheint, dürften es aber mal wieder (AfD-/NPD-nahe?) "Gerichtsmitarbeiter" gewesen sein.
Es scheint aber gar nicht so leicht zu sein die Widersprüche in Ernsts Aussage zu klären. Unklar scheint zu sein, ob der "Mittäter" und "Waffenlieferant" überhaupt dabei war.
Auch der Angriff auf einen Flüchtling in Köln durch Ernst war gestern wohl Thema.
Spoiler
Tag 11: Im Dunkeln
Als Jan-Hendrik Lübcke in der Nacht auf den 2. Juni 2019 zu seinem Elternhaus zurückkehrte, konnte er nicht einmal erahnen, dass sein Vater tot auf einem Stuhl auf der heimischen Terrasse saß. Zwei Baustellenstrahler, die der heute 30-Jährige selbst am Balkon angebracht hatte, leuchteten die Einfahrt und ein Stück der angrenzenden Wiese aus. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen Wildpinkler. Nur wenige hundert Meter entfernt fand an diesem Tag die Isthaer Kirmes statt. Der Lieblingssitzplatz von Walter Lübcke aber lag im Dunkeln, unterhalb der Strahler. Dort starb der Kasseler Regierungspräsident.
Etwas überraschend muss Jan-Hendrik Lübcke an diesem Donnerstag noch einmal in den Zeugenstand treten. Auf dem Programm des 5. Strafsenats am Oberlandesgericht Frankfurt steht eigentlich die weitere Befragung des Hauptangeklagten Stephan Ernst durch die Bundesanwaltschaft. Doch deren Vertreter Dieter Kilmer will zuvor noch einmal erläutert haben, wie gut der Tatort beleuchtet war.
Jan-Hendrik Lübcke gibt detailliert Auskunft, zeichnet auf einem Luftbild zwei Lichtkegel ein, die einen Großteil der Auffahrt und des Gartens der Lübckes abdecken. Für die Bundesanwaltschaft steht am 11. Prozesstag eine Frage im Mittelpunkt: Was genau geschah im Licht und was im Dunkeln?
Aus dem Schatten in Lübckes Blickfeld
In zwei seiner drei bisherigen Einlassungen zum Tatgeschehen hat Ernst behauptet, gemeinsam mit dem Mitangeklagten Markus H. gehandelt zu haben. Auch in der letzten, in der er die Verantwortung für den tödlichen Schuss auf Lübcke wieder übernahm. Gemeinsam habe man im Dunkeln gewartet, bis Lübcke auf der Terrasse erschienen sei. Dann habe man sich getrennt, um von zwei Seiten zuschlagen zu können. Ernst selbst will außerhalb des Lichtkegels auf einer angrenzenden Pferdekoppel gelauert haben, Markus H. im Schatten eines Gebüschs schräg gegenüber von Lübckes Sitzplatz. "Er sagte, dass er sich am Gebüsch aufstellt und halt guckt, ob jemand kommt", erinnert sich Ernst an die Absprache in der Tatnacht.
Abgesprochen sei auch gewesen, dass H. das Signal zum Losschlagen geben soll. Tatsächlich habe H. sich dann als erster in Bewegung gesetzt. Auf einer weiteren Luftaufnahme, auf denen die Ermittler "augenscheinliche Laufspuren" auf der Pferdekoppel markiert haben, identifiziert Ernst seinen Weg und den von Markus H. Letzterer allerdings hätte durch den Lichtkegel eines der Strahler geführt - und ins direkte Blickfeld von Walter Lübcke.
Björn Clemens, einer der Verteidiger H.s, weist als erster darauf hin, dass sich sein Mandant auf diese Weise selbst "präsentiert" hätte. "Das ist nicht im Sinne eines Täterplans", betont Clemens. Auch Oberstaatsanwalt Kilmer hat seine Zweifel. Warum sich H. nicht über die zwar auch ausgeleuchtete, aber für Walter Lübcke nicht einsehbare Einfahrt genähert habe, will er von Ernst wissen. Man sei eben von der Pferdekoppel gekommen. Der direkte Weg auf die Terasse sei "das Naheliegendste" gewesen.
Ernst bringt sich in Position - Lübcke sieht zu
Die Anklage scheint diese Antwort wenig zu überzeugen. Seit zwei Verhandlungstagen befragt sie Stephan Ernst mittlerweile. Und es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass es aus ihrer Sicht wenig bis keine Hinweise auf eine Anwesenheit von Markus H. am Tatort gibt. Und zahlreiche Ungereimtheiten vermag Ernst auch an diesem Prozesstag nicht überzeugend aufzuklären.
Warum etwa hatte H. keine Handschuhe dabei, wenn er doch ebenfalls geplant haben soll, Lübcke körperlich anzugreifen? Sein Handy soll H. ebenso wie Ernst zu Hause gelassen haben, um eine nachträgliche Ortung zu verhindern. Für Ernsts Wagen, mit dem man angeblich zum Tatort fuhr, soll H. falsche Nummernschilder organisiert haben. Derselbe H. aber traf angeblich keine Vorkehrungen, um zu verhindern, dass seine DNA-Spuren am Tatort zurückbleiben.
Auch Ernsts Schilderung des eigentlichen Tatgeschehens auf der Terrasse wirft weitere Fragen auf. Auf einer Visualisierung des Tatorts, die an diesem Donnerstag gezeigt wird, ist die Sitzposition Walter Lübckes durch einen gelben Umriss in Menschenform dargestellt, der in einem Stuhl sitzt. Ernst behauptet, dass H. etwa anderthalb Meter vor Lübcke gestanden hätte. Er selbst habe sich aus Lübckes Sicht von rechts genähert. Lübcke habe Anstalten gemacht, sich aufzurichten, woraufhin Ernst ihn in den Stuhl zurück gedrückt hätte. Dann sei er einige Schritte zurückgewichen. Als Lübcke ihn und H. anschrie, habe er geschossen.
Das Problem dieser Version: Auf der Visualisierung stehen rechts von Lübcke, wo Ernst bei der Schussabgabe gestanden haben will, eine kleiner Tisch und ein weiterer Stuhl. Ernst hätte erst um diese herumgehen und sich wieder in Position bringen müssen. Und Walter Lübcke hätte in dieser Zeit nichts getan als abzuwarten.
Mysteriöses Wärmebild
Man muss Ernst allerdings zugute halten, dass er noch bevor dieser Punkt zu Sprache kommt, erklärt, sich an Stuhl und Tisch nicht erinnern zu können. Wie die Möbel auf der Terrasse zum Tatzeitpunkt tatsächlich aufgestellt waren, lässt sich kaum mehr rekonstruieren. Jan-Hendrik Lübcke hatte bei seiner Befragung erklärt, dass er selbst und später auch die Besatzung des herbeigerufenen Rettungswagens Möbel verrückt hätten, um Wiederbelebungsmaßnahmen durchzuführen.
Eine mögliche Erklärung. Für andere Widersprüche jedoch fehlen diese in Gänze. Auf einer Wärmebildkamera Ernsts etwa wurde eine Aufnahme von Lübckes Haus gefunden. Laut Ernsts Aussage entstand sie erst am Tatabend - versehentlich. Eigentlich habe er nur durch den Sucher gucken wollen, um Personen im Dunkeln ausmachen zu können. Ein Gutachter allerdings kommt zu dem Schluss, dass das Bild bereits am Abend des 31. Mai 2019 entstand - 24 Stunden vor der Tat.
Ein Tag im Januar
Schließlich ist da noch eine Aussage Ernsts, die nicht den Anschlag auf Lübcke, sondern den versuchten Mord an dem Flüchtling Ahmed I. im Januar 2016 betrifft. I. war in Lohfelden von einem Unbekannten mit einem Messer in den Rücken gestochen und lebensgefährlich verletzt worden. Der Fall schien unaufgeklärt zu bleiben, bis Ermittler in Stephan Ernsts Wohnung ein Messer mit DNA-Spuren faden, die möglicherweise zu Ahmed I. passen. Näheres muss ein Gutachten klären.
Ernst bestreitet die Tat. In seiner ersten Vernehmung vom Juni 2019 allerdings berichtet er von einem anderen Geschehnis. Nach den massenhaften sexualisierten Übergriffen am Kölner Hauptbahnhof in der Neujahrsnacht 2016 will er so in Rage gewesen sein, dass er einen Mann, den er als Ausländer identifizierte, wüst beschimpft und bedroht haben will. Zudem habe er Wahlplakate von SPD und Grünen zertreten. In der ersten Vernehmung konnte Ernst sich sogar noch an das genaue Datum erinnern: 6. Januar 2016 - der Tag des Anschlags auf Ahmed I.
Bereits am 10. Prozesstag hatte die Bundesanwaltschaft wissen wollen, wie er ausgerechnet auf dieses Datum gekommen sei. Ernst behauptete, es sei "aus der Luft" gegriffen. Und dass er eigentlich "1.6." statt "6.1." habe sagen wollen. Der Vorfall hätte sich demnach erst ein halbes Jahr nach den Übergriffen von Köln ereignet. "Sechs Monate später regt sich doch niemand mehr darüber auf", fasst der Vorsitzende des Senats, Thomas Sagebiel, seine Zweifel zusammen. Zudem dürften im Sommer 2016 nicht mehr all zu viele Wahlplakate in der Öffentlichkeit gehangen haben. Die einzigen Wahlen, die 2016 in Hessen stattfanden, waren die Kommunalwahlen - im März.
Dreieinhalb Prozesstage steht Stephan Ernst mittlerweile Rede und Antwort. Erst dem Gericht, dann der Anklage. Mit jedem Tag verfestigt sich der Eindruck, dass noch zahlreiche Details im Dunkeln sind - und dort wohl auch bleiben sollen. Fragen der Vertreter von Ahmed I. will Ernst ebenso wenig beantworten, wie die der Verteidiger von Markus H. Letztere stellen diese am Donnerstag dennoch - pro forma. Die einzige Antwort, die sie erhalten, ist Schweigen. Ein "Teilschweigen", wie die zweite Verteidigerin von Markus H., Nicole Schneiders, einordnet: "Und ein Teilschweigen kann gewertet werden."
Erneut Aufregung um Fernsehbeitrag
Der Verhandlungstag endet schließlich mit der Vorführung des umstrittenen Fernsehbeitrags des Magazins "STRG_F", in dem Teile aus Ernsts erster Vernehmung vom Juni 2019 gezeigt wurden. Richter Sagebiel lässt es sich nicht nehmen, seine persönliche Meinung zum Vorgehen der Redaktion kundzutun: "Das war die Befriedigung öffentlichen Voyeurismus auf Regenbogenniveau." Manche Urteile werden eben schon vor Ende des Prozesses gefällt. Auch Ernsts Verteidiger Mustafa Kaplan verurteilt die Veröffentlichung. Er spricht von einer "dauerhaften Prangerwirkung", die von dem Video ausgehe.
Seit der Veröffentlichung vor zwei Wochen ist viel darüber spekuliert worden, wer die Vernehmungsvideos an die Journalisten weitergeleitet hat. Kaplan hat einen Verdacht: Seine Recherchen hätten ergeben, dass Teile der Ermittlungsakte im Fall Ernst an Anwälte eines anderen Verfahrens weitergegeben wurden. Von der Bundesanwaltschaft erwartet er nun eine dienstliche Erklärung. Diese soll am nächsten Verhandlungstag, kommenden Mittwoch, folgen. Seine Quelle verrät Kaplan allerdings nicht - auch sie bleibt vorerst im Dunkeln.