Stephan Ernst wollte mit seinem (angeblich falschen) Geständnis also ein Mehrtürer werden, ein Mehrtürer für die Zeit nach der Machtübernahme (wie im Hennig wohl souffliert hat).
Spoiler
Dritter Verhandlungstag
Lübcke-Prozess: Das rätselhafte zweite Geständnis von Stephan E.
Joachim F. Tornau • 30. Juni 2020
Eine Kooperation mit bnr.de
Der mutmaßliche Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat sein ursprüngliches Geständnis im Ermittlungsverfahren widerrufen und durch eine ganz andere Version ersetzt. Doch das wirft deutlich mehr Fragen auf als es beantwortet.
Im Saal C 165 des Frankfurter Oberlandesgerichts wird erneut eine Leinwand hinter der Richterbank ausgerollt. Wieder erscheint darauf der Angeklagte Stephan E., wie er stundenlang vernommen wird zu dem tödlichen Schuss auf Walter Lübcke am späten Abend des 1. Juni 2019. Zu sehen ist er aus derselben Perspektive wie bei der ersten Videovernehmung, die das Gericht am vorangegangenen Verhandlungstag abspielen ließ, und sogar im selben Raum des Kasseler Polizeipräsidiums.
In jenem ersten Geständnis, abgelegt gut drei Wochen nach der Tat und später widerrufen, hatte der heute 46-Jährige den rechtsextrem motivierten Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten offen eingeräumt: Als Einzeltäter habe er gehandelt, getrieben von fast krankhaftem Hass auf die liberale Flüchtlingspolitik, für die sich der CDU-Politiker stark gemacht hatte. Am Dienstag nun nahm das Gericht in Augenschein, was E. bei einer zweiten Videovernehmung im Januar dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs erzählte. Schnell ist klar: Nicht nur, was der Kasseler Rechtsextreme sagt, sondern auch wie er das tut, könnte sich zwischen beiden Versionen kaum stärker unterscheiden.
Angeklagter belastet Komplizen Markus H. schwer
Das betrifft vor allem die Rolle seines Freundes und Neonazi-Kameraden Markus H., der jetzt wegen Beihilfe zum Mord mitangeklagt ist: Die Bundesanwaltschaft wirft dem 44-Jährigen vor, Stephan E. durch gemeinsame Schießübungen und Demonstrationsbesuche in seinem Tatentschluss bestärkt zu haben – ohne allerdings in den konkreten Mordplan eingeweiht gewesen zu sein. So ähnlich hatte es E. auch in seinem ursprünglichen Geständnis dargestellt. In seinem zweiten dagegen macht er Markus H. zum Mittäter, der den Anschlag auf Walter Lübcke von Anfang an mitgeplant habe, der in der Tatnacht dabei gewesen sei – und der den tödlichen Schuss abgegeben habe. Allerdings nur aus Versehen.
„Einschüchtern“ wollen hätten sie den Kasseler Regierungspräsidenten, sagt E. in dieser richterlichen Vernehmung. Von einem „Denkzettel“ spricht er, von einer „Bestrafung“. Gemeinsam hätten sie sich das überlegt, gemeinsam seien sie mehrfach zu Lübckes Haus nach Wolfhagen-Istha gefahren, gemeinsam hätten sie die Dorfkirmes im Juni für ihre Aktion auserkoren, gemeinsam hätten sie sein Auto dafür mit falschen Kennzeichen versehen. Doch an Mord hätten sie nicht gedacht. „Ich habe mich dazu bereit erklärt, ihn zu schlagen. Markus wollte ihn mit der Waffe bedrohen“, erklärt er, „Das war der grobe Plan.“ Gleichwohl unmaskiert seien sie dem auf seiner Terrasse sitzenden 65-Jährigen gegenübergetreten, hätten ihn beschimpft. Und dann habe sich, als Lübcke aufgestanden und Markus H. deshalb ein paar Schritte zurückgewichen sei, der Schuss gelöst. Unabsichtlich. Ein Unfall.
Selbstsicher und durchaus wortgewandt hatte sich der mutmaßliche Mörder bei seinem ursprünglichen Geständnis präsentiert, hatte detailliert nicht nur die Tat, sondern auch seine Gefühle und Beweggründe geschildert, hatte sich reuig gezeigt und das eine oder andere Mal um Fassung ringen müssen. Jetzt hört und sieht man ihm dabei zu, wie er mit stockender Stimme erst eine dürre Erklärung verliest und anschließend drucksend und einsilbig Fragen beantwortet, dabei mitunter nur wörtlich wiederholend, was er bereits zuvor gesagt hatte. Gefühlsregungen? Nicht erkennbar.
Zweites Geständnis gibt Rätsel auf
Als „glatte Lügengeschichte“ geißelte Nebenklageanwalt Holger Matt, der die Familie Lübcke vor Gericht vertritt, am Dienstag die Version vom Unfall. Auch Markus H.s Verteidiger Björn Clemens tat die behauptete stärkere Beteiligung seines Mandanten als reine „Geschichtenerzählerei“ ab. Und in der Tat wirft dieses zweite Geständnis mehr Fragen auf als es Antworten gibt. Allen voran: Warum nahm Stephan E. zunächst einen Mord auf sich, den er nicht nur nicht begangen haben will, sondern der noch nicht einmal einer gewesen sein soll? Gleich eine Vielzahl von Erklärungen liefert Stephan E. dafür in der Vernehmung, vom psychischen „Ausnahmezustand“, in dem er sich damals befunden habe, über mangelnde juristische Kenntnisse bis zu dubiosem Verhalten seines ersten Verteidigers, des hessischen NPD-Aktivisten Dirk Waldschmidt.
Der, sagt E., habe ihm unter Verweis auf den rechtsextremen „Ehrenkodex“ geraten, Markus H. aus der Angelegenheit herauszuhalten, und ihm im Gegenzug Unterstützung für seine Familie in Aussicht gestellt, Übernahme der Ratenzahlungen fürs Eigenheim im Kasseler Stadtteil Forstfeld inklusive. Auch die rechtsextreme „Gefangenenhilfe“ – eine in Stockholm ansässige Nachfolgeorganisation der 2011 in Deutschland verbotenen Hilfsgemeinschaft für nationale politische Gefangene (HNG) – habe Waldschmidt ins Spiel gebracht. Der Anwalt bestreitet das alles freilich vehement.
Wollte Stephan E. von rechten Strukturen ablenken?
Aber auch noch ganz andere Erklärversuche unternimmt Stephan E.: Zum „Märtyrer“ der rechten Szene habe er durch das freimütige Geständnis werden wollen, in der Hoffnung, frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen zu werden, „wenn sich die politischen Verhältnisse ändern“, wie ihm sein Anwalt Frank Hannig souffliert. Und: „Ich wollte den Verdacht weghaben, dass es da ein größeres Netzwerk gibt, eine Verbindung zum NSU.“ Zum rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrund“ also, der auch in Kassel gemordet hatte. Deshalb habe er sich als Einzeltäter dargestellt und betont, wie ihn Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht oder islamistische Anschläge zur Tat getrieben hätten. Was ebenfalls nicht stimme.
Am Donnerstag wird der Prozess fortgesetzt. Dann soll eine Nachvernehmung zum zweiten Geständnis gezeigt werden. Auch vor Gericht will sich der Angeklagte noch äußern. Möglicherweise, so kündigten seine Verteidiger an, schon bald.