Der Bericht vom zweiten Tag. Hannig ist anscheinend sehr bemüht, er gibt quasi sein Bestes. Ein Mimimi-Video auf seinem Kanal ist noch nicht vorhanden.
Spoiler
Prozess um Lübcke-Mord Das widerrufene Geständnis des Stephan Ernst
Ohne Anwalt und unter Tränen gestand Stephan Ernst den Mord an Walter Lübcke. Vor Gericht wurde nun ein Video der Vernehmung abgespielt. Es erschütterte vor allem eine Person im Saal: ihn selbst.
Von Julia Jüttner, Frankfurt am Main
18.06.2020, 19.08 Uhr
In der Mitte von Saal 165 steht ein silberner Fernseher. Hinter der Richterbank verdeckt eine große Leinwand das Landeswappen Hessens. Beides deutet darauf hin, dass der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main an diesem zweiten Prozesstag im Mordfall Walter Lübcke mit einem brisanten Video in die Beweisaufnahme einsteigen will.
Als die Verteidiger der Angeklagten Stephan Ernst und Markus H. den Saal betreten, ist die Leinwand zunächst wieder hochgefahren. Sie sind überrascht, als der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel nach einem erneuten Befangenheitsantrag verkündet, er wolle nun eine Videoaufnahme vom 25. Juni 2019 abspielen.
Die Aufnahme zeigt die polizeiliche Vernehmung von Stephan Ernst, zehn Tage nach seiner Festnahme. Darin gibt er zu, den Kasseler Regierungspräsidenten in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf seiner Terrasse im hessischen Wolfhagen-Istha mit einem Rossi-Revolver Kaliber .38 erschossen zu haben.
Ernsts Anwälte haben Bedenken. Das Video sei auf fragwürdige Weise entstanden, moniert Verteidiger Frank Hannig: Stephan Ernst habe die drei Nächte vor der Aufzeichnung nahezu ohne Schlaf in einem ständig beleuchteten Raum verbracht und unter Einfluss von Beruhigungsmitteln gestanden. Zudem habe es vor der Vernehmung im Polizeipräsidium ein eineinhalbstündiges Vorgespräch in der Justizvollzugsanstalt (JVA) gegeben - wovon es keine Aufzeichnung gebe.
Hannig schlägt vor, erst eine andere Videovernehmung anzusehen: Es gibt nämlich ein zweites Geständnis, das Stephan Ernst abgelegt hat. Darin widerruft er seine Aussage. Er sei am Tatort gewesen, er sei auch an der Tötung Walter Lübckes beteiligt gewesen, aber er habe nicht geschossen.
Richter Sagebiel bleibt bei seinem Fahrplan: Erst das Geständnis vom 25. Juni 2019, dann Version zwei mit dem Widerruf.
Das Video zeigt den mutmaßlichen Mörder im Polizeipräsidium
Und so erscheint um 11.50 Uhr Stephan Ernst auf der Leinwand, unrasiert, im weinroten T-Shirt der JVA, auf einem weinroten Stuhl des Polizeipräsidiums, die Hände auf dem Tisch vor sich verschränkt. Ist er einverstanden, ohne Anwalt zu erscheinen? Verzichtet er ausdrücklich auf einen Anwalt? Ist er mit der Videoaufzeichnung einverstanden? Stephan Ernst nickt dreimal.
Er nickt auch, als einer der Ermittler zusammenfasst: "Sie haben sich im Laufe des Tages bei einem JVA-Bediensteten gemeldet, weil Sie Angaben zur Sache machen wollen. Wir sind daraufhin in die JVA Kassel gekommen, wo wir ein informelles Vorgespräch geführt haben."
Etwa vier Stunden lang dauert die Vernehmung. Sie gleicht einer Lebensbeichte. Stephan Ernst beschreibt, wie er nach seiner Freiheitsstrafe wegen versuchten Totschlags an einem türkischen Imam in die rechte Szene Kassels rutschte. Zuvor habe er seinen Hass auf Ausländer als "Einzelgänger" ausgelebt, ohne einer Gruppe anzugehören.
Er fühlte sich wohl, so klingt es, im Kreis der freien Kameradschaft, umgeben von autonomen Nationalisten, Nationalsozialisten, NPD-Anhängern und "Reichsbürgern". Er lernte die Größen der Szene kennen, begleitete sie zu Heldengedenkfeiern, Rudolf-Heß-Märschen, verbrachte viel Freizeit mit ihnen.
Er habe das Bild dieser Leute mitgetragen, sagt Stephan Ernst. Er wählt seine Worte bewusst, drückt sich gewählt aus. Er spricht von der Wiederherstellung der Souveränität Deutschlands, von der Befreiung von Amerikanern und vom Einhalt der Überfremdung.
Er beschreibt, wie er im Mai 2009 das letzte Mal straffällig wurde, als er mit "Leuten aus dem rechten Spektrum" nach Dortmund zu einer Demo fuhr und sich an gewalttätigen Ausschreitungen beteiligte. Dabei sei er damals schon entschlossen gewesen, sich von seinen rechtsextremistischen Gesinnungsgenossen abzuwenden. Die Bewährungsstrafe wegen der Ausschreitungen habe er dann zum Anlass genommen.
In Saal 165 blicken alle zur Leinwand, nur die Mitglieder des Staatsschutzsenats schauen auf den Fernseher vor der Richterbank. Stephan Ernst sitzt zwischen seinen Anwälten, sieht selten hoch, hält den Kopf gesenkt. Ihm gegenüber sitzen Walter Lübckes Witwe und ihre beiden Söhne. Mit festem Blick fokussieren sie die Leinwand, nur der Ältere der Söhne lässt Stephan Ernst kaum aus den Augen.
Dem Angeklagten kommen die Tränen
"Ich wollte ein normales Leben führen", sagt Stephan Ernst in der Vernehmung, er atmet heftig und weint. Mit dem Ärmel seines T-Shirts wischt er sich die Tränen ab. Er habe gemerkt, dass er "nicht kompetent genug" sei, seinen Kindern zu geben, was sie brauchen.
Stephan Ernst weint nun auch im Gerichtssaal, erst unauffällig, dann legt er seinen Kopf auf den Tisch und versteckt ihn in seinem Arm. Seine Verteidiger bitten um eine kurze Pause.
Im Anschluss wird weiter die Vernehmung gezeigt. Stephan Ernst erklärt darin, wie für ihn das Thema "Überfremdung und Ausländerkriminalität" fortwährend präsent gewesen sei - erst recht, als wieder der mitangeklagte Markus H. in sein Leben getreten sei. Der Kumpel aus der alten Szene war zunächst Arbeitskollege, danach enger Freund, der ihm das Schießen beibrachte und ihm Waffen für den angeblich bevorstehenden Bürgerkrieg besorgte. "Er war für mich wie ein Anker", sagt Stephan Ernst.
Ihn begleitet er am 14. Oktober 2015 ins Bürgerhaus von Lohfelden bei Kassel, wo Walter Lübcke über die Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in einem leer stehenden Baumarkt spricht. Der CDU-Politiker sagt an jenem Abend: "Und da muss man für Werte eintreten und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen."
Wie diese Aussage auf ihn gewirkt habe, fragt einer der Ermittler. "Ich war baff", sagt Ernst. "Ich war richtig aufgebracht, richtig emotional aufgeladen. Ich war fassungslos." - "Haben Sie da schon was überlegt?" - "Ab da hatte ich ihn auf dem Schirm. Ich hab' ab da einen Hass bekommen."
"Ich dachte: Du hast Waffen, du kannst was tun"
Für Ernst ist der Abend im Bürgerhaus ein Schlüsselmoment: Er beginnt zu recherchieren, wer Walter Lübcke ist, wo er wohnt, was er macht. Noch am selben Abend stellte Markus H. ein Handyvideo mit der verkürzten Aussage Lübckes ins Internet. "Wir wollten der Welt vorführen, was wir da für Leute an der Regierung haben", sagt Ernst.
Er feilt ab jetzt an seinem Plan, wie er in der Vernehmung sagt. "Da hat sich bei mir etwas aufgebaut, und das hat mich nicht mehr losgelassen." Die Übergriffe von Nordafrikanern in der Kölner Silvesternacht, der islamistische Anschlag in Nizza, der Mord an der Freiburger Studentin Maria L. und die Hinrichtung zweier Rucksacktouristinnen in Marokko hätten ihn in seinem Vorhaben bestätigt. "Es hat mich persönlich betroffen", sagt Ernst im Video, er stützt den Kopf in beide Hände und weint los. "Ich dachte: Du hast Waffen, du kannst was tun. Du hast Waffen, du tust nichts."
Mehrfach sei er zu Lübckes Wohnhaus gefahren, immer eine Waffe bei sich. In der Nacht auf den 2. Juni 2019 sei er dann nicht umgekehrt. Als er auf dem Grundstück des 65-Jährigen gestanden habe, habe er wieder die Schreie der Rucksacktouristinnen gehört. Walter Lübcke saß auf der Terrasse. "Ich bin da hin, durch die Wiese, er hat mich nicht kommen sehen. Ich trat den Zaun runter, ging zur Mauer, die Waffe in der Hand." - "Der Tatentschluss war klar?", fragt der Ermittler. - "Der Tatentschluss war klar."
Er habe auf den Kopf gehalten und abgedrückt. Walter Lübcke habe noch seinen Schatten gesehen, er habe eineinhalb, zwei Meter von ihm entfernt gestanden. "Einmal geschossen?" - "Einmal geschossen." Stephan Ernst weint in dem Video. "Haben Sie ihn angefasst?" - "Nein." Er sei zurückgerannt, die Waffe in der Hand.
Zu Hause habe er die Waffe in einen Schrank gelegt, geduscht und sich zu seiner Frau ins Bett gelegt. Sie sei aufgewacht, habe ihn gefragt, wo er gewesen sei. "Ich war weg." Mehr habe er ihr nicht gesagt.