Unnachahmlich, wie der Kolumnist es schafft, die BLÖD für ihr schamloses Leichenschütteln zu geißeln, ohne auch nur einmal ihren Namen oder den ihres Chefredakteurs zu nennen.
Der Presserat hat den Artikel der BLÖD übrigens gerügt.
Bei der BLÖD zittert man schon.
Spoiler
Katastrophe
Bei Katastrophen von der Art der Tat von Solingen wird schmerzlich deutlich, wie groß das menschliche Bedürfnis ist, ein plötzliches Hereinbrechen von Schrecken und Unsicherheit klaren, übersichtlichen Ursachen zuzuschreiben. Das ist weder verwerflich noch verwunderlich, sondern macht deutlich, wie fragil die Sicherheiten sind, auf denen unser Lebensgefühl beruht. Unter allen Katastrophen der übersichtlichen, persönlichen, zwischenmenschlichen Art ist es die denkbar größte und furchterregendste, dass eine Mutter heimtückisch ihre Kinder tötet, ohne Ankündigung und ohne erkennbaren äußeren Anlass. Die Angst, die ein solches Ereignis in jedem auslöst, der damit konfrontiert ist, schleicht sich tief ins Empfinden und muss vom Einzelnen bewältigt, verarbeitet, in das eigene Alltagsleben integriert werden. Dafür gibt es verschiedene Strategien auf der individuellen Ebene. Sie reichen von einer unverhältnismäßigen, hysterisierten Identifikation mit Tatopfern, deren Schicksal und Leiden auf diese Weise quasi zum eigenen gemacht werden, bis zu scheinbar abgebrühtem, desinteressiertem Zynismus. Viel wichtiger aber sind kollektive Methoden der Verarbeitung: Deutungen, Abgrenzungen, Zuordnungen, Konsequenzen. Ist die Tat, die geschehen ist, ein Teil der Normalität? Ist der Täter oder die Täterin eine(r) von uns? Gibt es Erklärungen, die auf allgemeine, vertraute, sozial verträgliche Ursachenbehauptungen gestützt sind? Und welche Schlussfolgerungen sind zu ziehen? Was geht das alles uns oder jeden Einzelnen an? Wer ist zuständig für die Verarbeitung?
All diese Fragen findet man, so oder so, mehr oder weniger verdreht, versteckt oder verzerrt, regelmäßig wieder, wenn katastrophale Ereignisse wie in Solingen öffentlich bekannt werden. Dabei ist, wie man nicht vergessen darf, dieses Bekanntwerden auch selbst schon ein Teil der Bühne, auf welcher sich alles entfaltet: Was überhaupt wahrgenommen, wichtig genommen und berichtet wird, ist nicht zufällig. Es gibt Filter der Wahrnehmung und Bewertung. Selbst ein so schreckliches Ereignis wie der Tod von fünf Kindern ist nicht singulär; noch viel weniger gilt das von zahllosen anderen Ereignissen, die eine große Zahl von Menschen aufwühlen und beschäftigen. Ein fünffacher Mord in Solingen ist objektiv nicht "schlimmer", als es dieselbe Tat in Kapstadt oder Shanghai wäre. Sie scheint uns gleichwohl näher, obwohl es nicht auf die räumliche Entfernung ankommt. Die Nähe ergibt sich vielmehr aus der Vertrautheit der Situation: Wir gehen gefühlsmäßig davon aus, dass wir wissen, wie es in Solingen aussieht, riecht und sich anfühlt, wie man dort wohnt, einkauft oder arbeitet. "Solingen" erscheint also als vertraute Nähe, in die mit umso grausamerer Plötzlichkeit Gewalt und Angst einbrechen. Kapstadt oder Shanghai dagegen sind für die meisten hier lebenden Menschen eine weite, unbekannte Ferne, die schon im Grundsatz als gefahrvoll und unberechenbar wahrgenommen wird. Es ist also nicht eigentlich ein persönliches Interesse an Opfern oder Tätern, das uns an Gewalttaten im näheren sozialen Raum besonders bewegt. Sondern es ist das Interesse an uns selbst, an der eigenen Sicherheit und dem Vertrauen in die Einrichtung, Umgebung und Routinen des eigenen Lebens.
Öffentliche Berichterstattung in Medien ist ein sehr wichtiger Motor und Filter der kollektiven wie individuellen Verarbeitung. Sie kann sich traditionell auf die organisatorische und inhaltliche Distanz stützen, welche "die Presse" vom schlichten Stammtisch- und Treppenhaus-Gequatsche unterscheidet - nicht in der Wirklichkeit vielleicht, aber im Prinzip. Die formalisierte, professionelle Herstellung "öffentlicher Meinung" in der Presse hat insoweit einen hohen Vertrauensvorschuss, als sie eine soziale Autorität außerhalb der individuellen, ersichtlich kleinrahmigen, oft erbärmlichen Subjektivität darstellt und so eine Aufgehobenheit des individuellen Lebensgefühls in einer als gemeinsam empfundenen sozialen Struktur symbolisiert. Das funktioniert, wie man täglich erleben kann, selbst noch auf einem extrem eingeschränkten intellektuellen und sozialen Glaubwürdigkeitsniveau: Die wohl weitaus meisten Leser der eingangs erwähnten "größten" deutschen Tageszeitung halten diese intellektuell für durchweg unglaubhaft, sensationsgeil und moralisch fragwürdig. Sie wird aber gleichwohl konsumiert, weil sie in ebendieser fragwürdigen Funktion als Teil sozialer Orientierung wahrgenommen wird und eine Quasiverlässlichkeit herstellt. Das ist ein ähnlicher Effekt, wie ihn der deutsche "Volksmusik"-Schlager oder die standardisiert ♥♥♥ische TV-Vorabendserie erzeugen.
Die Wirklichkeit des Internets und die Revolutionierung der Kommunikation haben die Restgewissheiten dieser Art durchgreifend infrage gestellt, wirken allerdings in unterschiedlichen Alters- und Sozialgruppen verschieden stark. Es gelingt bislang aber nicht, die Funktionen einer quasiautoritativen Öffentlichkeit durch die Chaotisierung der "digitalen Räume", Chats, Blogs und Foren tatsächlich zu ersetzen: Die meisten Nutzer wissen oder ahnen zumindest, dass auf "Twitter" oder "Instagram" nichts Gültiges entsteht, sondern chaotische Blähungen sich entfalten. Das ändert sich auch nicht dadurch, dass aus Funk und Fernsehen bekannte Komiker ihre Twitter-Tweets ausdrucken und zwischen zwei Buchdeckel binden lassen: Mehr als ein Tagebüchlein der Beliebigkeit kann keinesfalls entstehen.
Mitnahme
Für das Strafrecht sind sogenannte Mitnahmesuizide meist nur von Interesse, wenn sie - ganz oder teilweise - scheitern. In der Lebenswirklichkeit ist das nicht die Mehrzahl; von den gelungenen Taten erfährt die Öffentlichkeit aber seltener. In der Kriminologie und der Rechtsmedizin, soweit sie sich mit tatsächlichen Abläufen, Ursachen und Folgen von rechtswidrigen Handlungen befassen und nicht mit dem Suchen und Bestrafen von Schuldigen, sind Mitnahmesuizide eine Fallgruppe von speziellem Interesse. Die Annahme, dass der Fall aus Solingen als solcher anzusehen sei, beruht vorläufig auf Vermutungen und Presseberichten. Ob sie stimmen, weiß man bisher nicht genau. Es gibt auch keine Notwendigkeit, auf der Basis von Berichten aus zweiter und dritter Hand zu abschließenden Urteilen oder Kategorisierungen zu kommen.
Beim Begriff "Mitnahmesuizid" liegt das inhaltliche Gewicht auf der Selbsttötung. Ob dies in der Wirklichkeit der Fall ist, ist aber oft gerade die Frage. Der Begriff "Mitnahme" ist, in aller Regel, ein zynischer Euphemismus. Das würde auffallen, wenn in der Presse begonnen würde, terroristische sogenannte Selbstmordattentate als "Mitnahmesuizid" zu bezeichnen. Denn beim Attentat unter Inkaufnahme oder Gewissheit des eigenen Tods kommt es inhaltlich nicht auf letzteren, sondern auf die Tötung der anderen, "Mitgenommenen" an.
In der Bezeichnung einer Tat als "Mitnahmesuizid" liegt daher stets schon eine Wertung, die stimmen kann, aber nicht muss - wobei auch dieser Begriff schon eine Mehrzahl von möglichen Deutungen enthält, welche sich aus unterschiedlichen Motiven ergeben. Die sozusagen klassische Zuschreibung ist die, das Täter oder Täterin aus einem Motiv in der Nähe des Gefühls von Mitleid, Sorge oder Zugewandtheit gehandelt habe. Das kommt vor, ist aber natürlich nur eine von zahlreichen Deutungen. Überdies ist sie sehr schlicht und eindimensional. Selbst unter extremer situativer Verengung der Wahrnehmung und Verhaltenssteuerung werden Gefühle und Motive nicht als schlichte Schlagworte, als Gefühlsgesamtheiten ("Mitleid") wahrgenommen. Das ahnt man, wenn man versucht, sich eigene Affekte und Handlungsmotive in kritischen Situationen zu vergegenwärtigen: Man denkt nicht "Wut", "Angst" oder "Mitgefühl", sondern empfindet eine große Vielzahl meist unklarer, teils seltsam konkretisierter, teils vager Emotionen, Assoziationen, Entschlüsse oder Erwägungen.
Von der Tat in Solingen konnte man in den vergangenen Tagen vielfach lesen, die mutmaßliche Täterin habe sich möglicherweise "überfordert" oder "total überlastet" gefühlt. Das ist eine recht seltsame Beschreibung eines Zustands, durch welchen die aktive Tötung von fünf (eigenen) Kindern erklärt werden soll. Denn jedermann kennt aus dem Alltag das Dauergeräusch allgegenwärtiger "Überlastung" und des angeblich ununterbrochen kaum erträglichen "Stresses", deren wechselseitiges Bejammern den Kern zahlloser Gespräche in den Sphären von Arbeit, Freizeit, Familie und sonstigem sozialem Umfeld darstellt. "Überlastung" und "Überforderung" sind daher für gewöhnlich keine naheliegenden oder auch nur plausiblen Mordmotive, sondern Beschreibungen eines angeblich notwendigen, jedenfalls unvermeidlichen Zustands des sozialen Alltags: Der "Stress" beginnt beim Frühstück, reicht über die Anforderungen der Arbeit, der Familie, der Beziehungskonflikte, der Bankgeschäfte bis zum Shopping, zum Leistungssport und zur Abendgestaltung. Wer fünf Arbeitskollegen umbringt, weil er vom Akteneinlauf oder vom Frühstückschaos seiner Kinder gestresst war, kann nicht auf Sympathie und Mitgefühl hoffen.
"Überforderung" ist daher allenfalls eine vage Annäherung an einen Gemütszustand und eine Motivationslage, die sich die große Mehrheit der Bevölkerung, wenn man den Verlautbarungen des Schreckens glauben darf, schlechterdings "nicht vorstellen" kann. Daran könnte man zweifeln, wenn man die Chaträume aufsucht, in denen gemeinhin und zu gegebener Gelegenheit über die angeblich angemessenen Foltern und Strafen für Kindermörder und Kindermissbraucher gefachsimpelt wird. Mit gutem Willen zur Menschenfreundlichkeit könnte man annehmen, dass die dort regelmäßig vorgeschlagenen Grausamkeiten und Gewaltexzesse Ausgeburten nicht allein des Seelen- und Gewissenszustands, sondern auch der schlichten Dummheit sowie der emotionalen Verarmung und Unfähigkeit sind, das zu empfinden, was angeblich die Fantasien hervorbringt: Mitgefühl und Empathie.
Die Motive, Dritte, namentlich auch enge Angehörige zu töten, können bekanntlich extrem vielfältig und verschieden sein. Das gilt auch dann, wenn im Zusammenhang mit einer solchen Tat vom Täter ein - ernsthaft erscheinender - Versuch unternommen wird, sich selbst zu töten. Natürlich muss man stets sorgfältig prüfen, wie viel Ernsthaftigkeit dem gescheiterten Unternehmen des Suizids zugrunde lag, insbesondere wenn dieser eher kläglich scheitert, nachdem zuvor andere Personen mit hohem Aufwand und erheblicher Tatenergie getötet wurden. Aber nicht jeder gescheiterte Suizid legt den Verdacht einer bloßen Täuschung nahe. Es ist nicht "vorgeschrieben", dass Mörder und Suizidenten mutig, schmerzfrei, hart gegen sich selbst und unerbittlich in der Umsetzung ihrer Pläne und Impulse sein müssen. Anders gesagt: Es ist durchaus sehr naheliegend, dass man Todesangst bekommt, wenn man sich selbst die Pistole an den Kopf oder das Messer an den Hals hält oder am offenen Fenster im zehnten Stockwerk steht. Und es kann durchaus sein, dass das Erleben der eigenen Todesangst den "Lauf" durchbricht und zum Innehalten bringt, der das vorherige Tatgeschehen trug. Das alles gilt natürlich erst recht, wenn das Scheitern des Suizids auf einer quasitechnischen Panne beruht: Ladehemmung, Bewusstlosigkeit, Verfehlen des Ziels, Eingreifen von Rettern.
Im Fall von Solingen muss man schlicht sagen: Man weiß es nicht. Es gibt bislang keine angemessene Untersuchung der Hintergründe und Abläufe, und wenn es sie gäbe und geben wird, ist niemand verpflichtet, als Erstes oder baldmöglichst die Leser, Zuschauer und Empörungshungrigen darüber aufzuklären. Das gilt für den gesamten Zusammenhang, einschließlich der Gründe, Anlässe, Motivation und Folgerichtigkeit der Tat. Dass "eine Mutter" ihre Kinder nur töte, wenn sie "verzweifelt" oder "überfordert" sei, ist eine Vermutung mit Rührungs- und Plausibilitätspotenzial, aber genauso spekulativ wie irgendeine andere aus dem Ärmel geschüttelte "Story" von "zurückgezogenem Leben", Geld- und Beziehungsproblemen, Scheidungsstress oder jugendlicher Schwangerschaft. Es kann eine psychische Erkrankung eine Rolle spielen, aber auch ein verwerfliches Motiv. Alles möglich, alles Fantasie, alles Projektionen. Die Beschuldigte kann, wie wir wissen, froh sein: Der Schritt von der überforderten, verlassenen jungen Mutti bis zum selbstsüchtigen Monster ist in mehr als einer Redaktion extrem kurz und weniger eine Frage der Tatsachenlage als der Markteinschätzung.
Affekt
Schwere Gewalttaten werden in fast allen Fällen in affektiv hoch angespannten Situationen begangen. "Coole", gefühllose, emotional unbeteiligte Killer, wie sie als Fantasiehelden durch die Unterhaltungswelt streifen, sind erstens extrem selten und zweitens regelmäßig nicht ansatzweise so sympathisch oder auch nur erträglich, wie es die Bewohner von Beverly Hills die Jugend der Welt Glauben machen wollen.
Affekt, Erregung, Angespanntheit ist daher nicht die Ausnahme, sondern die Regel bei Begehen von Tötungsverbrechen. Wie genau die Affektlage sein könnte, wenn man nacheinander mehrere Menschen tötet, die zudem noch enge Angehörige, ja eigene Kinder sind, kann man sich nur sehr schwer vorstellen. Wer sich bei Gelegenheit solch schrecklicher Taten stets viel auf seine "Empathie" zugutehält, mag einmal die Probe machen und sich nur vier oder fünf Minuten (das ist sehr lang!) auf die emotionale Sicht der mutmaßlichen Täterin zu konzentrieren versuchen. Voraussetzung dafür ist, dass man nicht zu früh und zu furchtsam abbricht und nicht jede Gelegenheit nutzt, um sich ins belanglose "Das kann ich mir nicht vorstellen" und in den sozial erwünschten Empörungsaffekt flüchtet. Es gilt vielmehr, den "Plan" durchzuhalten und sich ernsthaft anzustrengen, sich die Konzentration und Fixiertheit, die Entschlossenheit und all die kleinen Randbedingungen vorzustellen, welche die Täterin erfüllt haben könnten. Man wird feststellen, dass das schwierig ist, aber auch ziemlich lehrreich. Teddybären und Kerzen auf die Straße zu stellen aus Mitleid mit toten Kindern, die einen bis vor wenigen Tagen nicht im Geringsten interessiert haben oder hätten, ist rührend und gut gemeint, aber emotional nicht sehr anstrengend. Viel schwieriger, aber mindestens ebenso wichtig ist es, sich ernsthaft auf den Gedanken einzulassen, was das Geschehen mit einem selbst zu tun haben könnte - nicht im Sinne von "Schuld" oder "Verantwortung", sondern auf der Ebene des Verstehens.
Die Fragen, die nun ein ums andere Mal gestellt werden, sind so vorhersehbar wie unvermeidlich und regelhaft: Wie konnte es kommen? Wer ist schuld? Hätte man es verhindern können? Wer könnte versagt haben? Welche Schlussfolgerungen sind zu ziehen? Man muss diese Fragen hier nicht diskutieren. Sie gehen ihren Weg, fast unbeeinflussbar wie die Vermutungen, Behauptungen und Aufregungen um mögliche Antworten. Irgendjemand wird sagen, das Jugendamt hätte die Familie enger kontrollieren müssen, andere werden sagen, das könne man so nicht sagen, wieder andere, der Staat sei schuld, eine weitere Gruppe, die gesellschaftliche Kälte sei schrecklich. Alles wahr, alles unwahr.
Interessant ist vielleicht die Frage: Muss man "verrückt" sein, um solche eine Tat zu begehen? Ist es denkbar, dass eine Frau, die fünf ihrer Kinder nacheinander heimtückisch tötet, dabei "voll schuldfähig" ist, also "zurechnungsfähig" - fähig, Schuld zugerechnet zu bekommen, weil sie sich nicht so beherrscht und gesteuert hat, wie es der normale Bürger in normaler Lage tun sollte? Oder muss man als Vergleichsmaßstab den normalen Bürger nehmen, während er fünf Morde begeht?
Diese Frage ist ziemlich vereinfachend, berührt aber Grundlagen unserer "Zurechnung" von Verantwortung, unseres Verständnisses von "Schuld" und unserer Anforderungen an die Widerstandskraft, Selbstkontrolle, Normalität und soziale Orientierung des Denkens, Fühlens und Handelns. Es wäre ganz verfehlt, an dieser Stelle in Spekulationen hierüber zum konkreten Fall abzugleiten. Wir wissen es schlicht nicht; niemand weiß es zurzeit. Wenn sich der dringende Tatverdacht gegen die Beschuldigte noch mehr bestätigt, werden professionelle Fachleute versuchen, mit den Methoden ihrer Wissenschaften den Fragen nachzugehen. Sie betreten dabei nicht in jedem neuen Fall Neuland; die Karte mit den Koordinaten des "Normalen", Zumutbaren, Voraussetzbaren einerseits und des "Verrückten", Unzumutbaren, Fremden ist keine terra incognita, sondern wird stetig fortgeschrieben auf der Basis des schon Bekannten, Postulierten und Vertretbaren. Wer sich für das menschlich Mögliche und für die Ursachen solcher Katastrophen interessiert, muss sich darauf einlassen und bereit sein, Geduld, Distanz und Selbstkritik aufzubringen.
Das Strafrecht hat zahlreiche Möglichkeiten entwickelt, mit "normalen" und unnormalen Affekten umzugehen. In § 20 StGB, der von der "Schuldfähigkeit" handelt, ist unter anderem bestimmt, dass ohne Schuld handelt, wer sich zur Zeit der Tat in einem Zustand tief greifender Bewusstseinsstörung befand und deshalb entweder das Unrecht seines Tuns nicht erkannt hat oder nicht fähig war, dem Tatimpuls zu widerstehen. Als Anwendungsfall der "tief greifenden Bewusstseinsstörung" wird meist vor allem der "Affektsturm" genannt, der Taten mit "Durchbruchscharakter" hervorbringen soll, "Abrisse der Kontinuität des Erlebens", Explosionen lang angestauten Hasses. Taten solcher Art zeichnen sich oft durch überschießende, irrationale Gewaltexzesse aus, weiterhin durch typische Vortat-Anläufe, durch weitgehendes Fehlen von Sicherungen gegen Scheitern oder Entdeckung sowie durch emotionale "Abstürze", tiefe Erschütterung, Starre und Leere nach der Tat. Man kann dasselbe auch andersherum formulieren: Taten, die solche Kennzeichen aufweisen, werden in der forensischen Psychiatrie "Affekttaten" genannt. Denn ob all die Beschreibungen und "Notwendigkeiten" stimmen und im Einzelfall Einfluss hatten, weiß man keinesfalls allgemein und im konkreten Fall stets nur annähernd. Das Leben richtet sich nicht nach Diagnosen und Begriffen, sondern diese müssen versuchen, die Lebenswirklichkeit wahrhaftig zu beschreiben und verständlich zu machen.
In allen Fällen affektgetragenen Verhaltens, das fremde Rechtsgüter verletzt oder vernichtet, stellt sich die Frage, wie viel Selbstkontrolle dem Einzelnen zugemutet werden kann. Das erstreckt sich sogar auf das zeitliche und emotionale Vorfeld der Tat: Wer sich selbst schuldhaft in einen Zustand versetzt oder ihm nicht entgegenwirkt, der sich als ursächlich für eine Straftat erweist, trägt Schuld und Verantwortung hierfür: Ein solches "Vorverschulden" kann eine zur Tatzeit bestehende Unfähigkeit, sich zu steuern, kompensieren und eine Bestrafung legitimieren. Voraussetzung dafür ist aber selbstverständlich, dass es dem Täter oder der Täterin nach den konkreten Umständen möglich war, den Ablauf vorauszusehen und zu vermeiden.
Über die Tat von Solingen wird gewiss noch viel gesprochen, geschrieben und nachgedacht werden. Es wäre sehr erfreulich, wenn sich alle bemühen würden, den Beteiligten der Katastrophe den Anstand zuteilwerden zu lassen, den sie und wir alle verdient haben.