Autor Thema: Thomas Fischer  (Gelesen 30049 mal)

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

dtx

  • Gast
Re: Thomas Fischer
« Antwort #135 am: 20. Juni 2020, 09:17:34 »
Off-Topic:
Ob den Schweizern nicht auch ein Fischer guttäte? Offensichtlich, mag man nach dieser Lektüre denken

https://www.tag24.de/thema/geld/achtjaehriger-zahlt-mit-spielgeld-polizei-ermittelt-umfangreich-schweiz-1546090

Blättert man aber weiter, fallen eklatante Unterschiede zwischen dieser Schilderung und den tatsächlichen Vorgängen auf

https://www.stern.de/panorama/stern-crime/schweiz--achtjaehriger-kriegt-aerger-mit-der-polizei--weil-er-mit-spielgeld-zahlen-will-9297476.html

 
Folgende Mitglieder bedankten sich: Rolly

Offline Reichsschlafschaf

  • Souverän
  • *
  • Beiträge: 20223
  • Dankeschön: 65305 mal
  • Karma: 630
  • Auszeichnungen Auszeichnung für 20000 Beiträge Auszeichnung für 15000 Beiträge Auszeichnung für 10000 Beiträge Sehr Wertvolle Beiträge! Bereits 1000 "Danke" erhalten! Auszeichnung für 750 Beiträge
    • Auszeichnungen
Re: Thomas Fischer
« Antwort #136 am: 27. Juni 2020, 15:42:35 »
Nachdem unser Kolumnist zur Verwunderung einiger festgestellt hatte, Böhmermann könne Kunst und gleichzeitig Strafbares geliefert haben
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-05/jan-boehmermann-kunst-strafe-fischer-im-recht


verwundert es nicht, wenn er nun auch zur jüngsten Satire der taz Stellung nimmt.

Zitat
Nun zum anzeigenden Bundesinnenminister. Er sprach, er erwäge, Strafanzeige zu erstatten. Deutschland erzitterte. Der Minister erwog es hin und erwog es her. Er sagte, seine Strafanzeige sei ein Vorgang von großem Gewicht. Er führte Gespräche, sogar mit "seinen Juristen". Dann teilte der Chef des Bundespresseamts mit, die Gespräche des Ministers mit dem Bundeskanzleramt dauerten an. Dann sagte der Minister eine Pressekonferenz ab. Dann wurde die Entscheidung wieder erwogen, dann war Stille, dann wurde die Verkündung abgesagt, dann angekündigt. Am 25. Juni die Niederkunft: keine Strafanzeige. 

Machen Sie das auch so, wenn Sie erwägen, eine Strafanzeige zu erstatten? Veröffentlichen Sie in Ihrer Lokalzeitung eine Pressemitteilung, wonach Sie erwägen, gegen Herrn X oder Frau Y eine Strafanzeige zu erstatten? Und wenn ja: Wundern Sie sich, wenn Sie dann für einen unerträglichen Wichtigtuer gehalten werden? Falls Sie beide Fragen mit Ja beantworten, haben Sie, glaube ich, ein Problem. Das liegt aber nicht an Herrn X oder Frau Y.


https://www.spiegel.de/panorama/justiz/horst-seehofer-und-die-taz-kolumne-die-anzeige-kolumne-a-5a48d344-b5d9-4f49-b638-a01f3ad1e881
Merke: Es genügt natürlich nicht, dämlich zu sein. Es soll schon auch jeder davon wissen!

„Nur weil es Fakt ist, muß es noch lange nicht stimmen!“ (Nadine, unerkannte Philosophin)
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: Sandmännchen, Rolly, klimaschutz

Offline Reichsschlafschaf

  • Souverän
  • *
  • Beiträge: 20223
  • Dankeschön: 65305 mal
  • Karma: 630
  • Auszeichnungen Auszeichnung für 20000 Beiträge Auszeichnung für 15000 Beiträge Auszeichnung für 10000 Beiträge Sehr Wertvolle Beiträge! Bereits 1000 "Danke" erhalten! Auszeichnung für 750 Beiträge
    • Auszeichnungen
Re: Thomas Fischer
« Antwort #137 am: 3. Juli 2020, 16:57:56 »
Anläßlich des Mordes an Walter Lübcke und des widerrufenen Geständnisses widmet sich der Meister diesmal dem Strafprozeß und dem Geständnis im Besonderen.

Gleichzeitig bekommen wird auch eine Kurzfassung des sonntäglichen "Tatorts".
Und eine Filmempfehlung gibt es auch.   ;)



Zitat
Thomas Fischer

Strafprozess
Gestehen Sie!

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Im Frankfurter Strafprozess um den Mord an Walter Lübcke machen zwei Geständnisse von sich reden. Sie stammen vom selben Angeklagten und widersprechen sich. Wie finden wir das?
Spoiler
03.07.2020, 15.28 Uhr

Filme
Zur Einstimmung zunächst einmal ein kleiner Ausflug in die Fiktion. Sie kennen gewiss die Filme, in denen es, jedenfalls an der Oberfläche, um nichts anderes geht als um ein Geständnis. Beispielhaft will ich einmal nennen: "Das Verhör" (1981) von Claude Miller, (1981), mit Lino Ventura, Michel Serrault und Romy Schneider. Es geht, sehr vereinfacht gesagt, um ein Gespräch, das als Auskunft beginnt und als Überlebenskampf endet, um Wirklichkeit, Wahrheit, Intelligenz und Empathie, Angst, Wut, Verzweiflung, Liebe. Und um ein Geständnis. Großes französisches Kino also. Falls Sie den Film nicht kennen, holen Sie das möglichst nach; es lohnt sich.

Wir kennen aber natürlich auch zahllose andere Kriminalfilme, in denen ein tatsächliches Geschehen - eine Tat - mittels eines Bemühens um ein Geständnis rekonstruiert oder imaginiert wird. Die klassische "Tatort"-Konstellation macht das, nachdem der Zuschauer mittels einer durchweg humorvollen Rechtsmedizinerin und allerlei Spurensicherung über das Auffinden einer Leiche und bei Gelegenheit einer dienstlichen Autofahrt über die aktuellen Beziehungsprobleme des Hauptkommissars informiert wurde, gern mittels Einblicken durch die innenverspiegelte Scheibe in den Vernehmungsraum. Hinter der Scheibe stehen eine Staatsanwältin und der zweite Kommissar und betrachten gemeinsam mit dem Zuschauer gespannt die Szene; innen rät der Kollege dem Verdächtigen, seine letzte Chance zu nutzen, "reinen Tisch" zu machen, am besten ohne störenden Verteidiger. Irgendwann muss der Vernehmer abgelöst werden, weil er sonst die Nerven verliert und den verstockt lügenden Mörder zu schlagen beginnt …

Nun gut, lassen wir das. Beim "Tatort" wissen wir ja, anders als bei Millers Film, wie es ausgeht. Aber gerade dann, wenn, wie üblich, das Gewicht der Indizien "erdrückend" ist und der Beschuldigte "unter ihrer Last zusammenbricht", kann es doch merkwürdig erscheinen, dass man sich so viel Mühe macht, das Bekenntnis der Schuld leibhaftig und ausgesprochen zu erlangen. Wobei auch dies nicht immer nötig ist: In einem infolge einer veröffentlichten Schilderung durch einen Verfahrensbeteiligten bekannt gewordenen Fall hat die strafjuristische Fachwelt einst Kenntnis erlangt von einer Gerichtsszene, in welcher zum Zweck eines "Deals" mit abgesprochenem Geständnis der Angeklagte unwillig schweigend die angeblich geständige Fantasiegeschichte seines Verteidigers anhörte und partout nicht laut zugeben wolltel, dass es so gewesen sei. Daraufhin rief ihm der Vorsitzende mehrfach laut zu: "Nicken Sie! Nicken Sie!" - Ein schönes Beispiel empathischer Kommunikation, fast so spannend wie "Hören Sie auf mich!".

Ein Geständnis ist gar nicht so leicht. Das weiß man eigentlich, auch wenn die Fernsehkommissare noch so oft versichern, dass man zu Ruhe und Frieden gelange, wenn man sich die Dinge von der Seele rede, oder der Ermittlungsrichter, dass man über Haftverschonung durchaus reden könne, falls ein Geständnis erfolge. Probieren Sie's einfach mal aus: Auch wenn Sie, wovon ich selbstverständlich ausgehe, keine unentdeckten Straftaten begangen haben, gibt es gewiss die eine oder andere geständniswürdige Begebenheit oder Motivation in Ihrem Leben, irgendetwas, dass Ihnen total peinlich ist und dessen Offenbarung unangenehme Folgen haben könnte. Wenn Sie sich einmal kurz darauf konzentriert haben, könnten Sie zur befreienden Tat schreiten und heute ein Geständnis ablegen - der Person gegenüber, die es angeht. Na? Wie sieht es aus? Hemmschwelle? Ja, so ist es mit den Geständnissen. Man kann davon ausgehen, dass es bei Mord und Vergewaltigung auch nicht wesentlich leichter fällt als beim Seitensprung oder einer kleinen Unterschlagung im Betrieb.

Wirklichkeiten
Man kann dem Menschen nicht in den Kopf hineinschauen. Das ist eine ebenso banale wie bedeutsame Tatsache. Vor vierhundert Jahren, zu Beginn der Neuzeit, kam die europäische Gesellschaft auf der Grundlage der Hinwendung zur Rationalität zu der Ansicht, in Strafprozessen gehe es um die wirkliche, dem Beweis und der zwischen rational denkenden Menschen kommunikativ vermittelbare Wahrheit. Bis dahin war überwiegend Gott für die Wahrheit zuständig gewesen, die sich auf Erden niemals ganz enthüllte und vom Menschen nur aufgrund von Gnade und Erleuchtung geahnt werden konnte. Die "Gottesbeweise" des Mittelalters waren also keine Denkfehler, sondern Zeugnisse des Glaubens. Die Neuzeit hingegen schritt zur "Inquisition", also zur Untersuchung und Befragung, mit dem Ziel der Erforschung einer überprüfbaren, nachvollziehbaren, materiellen Wahrheit. Der Inquisitionsprozess war, aus dem Blickwinkel der Moderne, ein großer Fortschritt; die zeitweise exzessive Ausdehnung seines Beweismittels Folter steht dem nicht entgegen.

Wenn Gottesbeweise und magische Rituale die Wahrheit nicht enthüllen und unbezweifelbare Beweise fehlen, kann die Wahrheit nur durch ein Geständnis des Täters festgestellt werden. Das ist der Ursprung des Gedankens an eine überragende Beweiskraft eines Geständnisses. Denn nur der Täter selbst weiß - oder kann wissen -, was er im Einzelnen gedacht, gewollt, getan hat; nur er kennt alle Motive, alle Erwägungen, alle Hemmnisse.

Natürlich hat ein Geständnis nur dann rationalen Wert, wenn es "frei" ist, also das Ergebnis einer selbstverantworteten Entscheidung. Die Folterpraxis des 17. und 18. Jahrhunderts stand dem nicht grundsätzlich entgegen, auch wenn dies aus heutiger Sicht befremdlich erscheinen mag. Denn die Folter der Inquisition wurde "maßvoll" und wissenschaftlich eingesetzt, sie folgte strengen Regeln, die dem Verdächtigten eine Chance sowohl zur Reflexion als auch zum Freispruch ließen. Die die "peinliche Befragung" durchführten, wussten selbstverständlich, dass man unter der Folter fast alles zugibt und dass solche Geständnisse nichts wert sind. Verwertbar waren daher Geständnisse vor und nach der Folter, ausgeruht und bei klarem Verstand, nicht aber abgequälte Bekenntnisse.

Vieles, was damals erstmals gedacht wurde und in die europäische Rechtskultur Eingang fand, lebt bis heute fort. Dazu gehört auch der in der Bevölkerung weit verbreitete Glaube an die überragende Beweiskraft eines Geständnisses. Auch bei professionell damit befassten Personen besteht eine oft unbewusste Überzeugung, es komme auf die "ganze Wahrheit", das Offenbaren des Innersten und die intersubjektive Glaubhaftigkeit dieser Offenbarung an. Das Geständnis gewinnt so eine über den Rang eines bloßen "Beweisanzeichens" (= Indiz) hinausgehende informelle Bedeutung. Im allgemeinen Bewusstsein gilt das umso mehr, als dieses oft Bilder und Vermutungen aus anderen Rechtsordnungen, insbesondere dem amerikanischen, englischen und französischen Strafprozess, vor Augen hat, die zudem noch den Filter fiktiver Bearbeitungen durchlaufen haben. Daher erscheint es fast schon naheliegend und jedenfalls verständlich, wenn in bestimmten Situationen immer wieder die Frage gestellt wird, wie "bindend" ein Geständnis eines Beschuldigten sei, ob man wieder "davon loskommen" könne, was ein "Widerruf" prozessual bedeute, und so weiter. In der Presse wird das regelmäßig erörtert, wenn, wie im derzeit laufenden Frankfurter Prozess wegen der Ermordung Walter Lübckes, sich widersprechende Geständnisse eines Beschuldigten vorliegen. Auch in der Premium-Presse gilt so etwas als spektakulär und nehmen Erwägungen über die Beweiskraft breiten Raum ein (siehe z.B. "FAZ" vom 1.7.2020, S. 2; "SZ" vom 1.7., S. 5; SPIEGEL vom 18.6.).

Seit der Zeit des Inquisitionsprozesses hat sich an der Strafprozessordnung in den deutschen Landen viel geändert. Das betrifft vor allem auch den Umgang mit dem Beschuldigten, den Zugriff auf seinen Körper und sein Inneres sowie die ausdifferenzierte Behandlung und Bewertung von Beweismitteln. Rein formal ist darauf hinzuweisen, dass die Mittel des so genannten "Strengbeweises", also eines im Gesetz genau geregelten Verfahrens zur Beweiserhebung mittels bestimmter Beweismittel, nur die folgenden vier sind: Zeugen, Sachverständige, Urkunden und richterlicher Augenschein. Die Aussage des Beschuldigten - gleich ob "Bestreiten" oder "Geständnis" - gehört nicht dazu. Bekanntlich ist ein Beschuldigter im deutschen Strafprozess nicht verpflichtet, sich zur Sache zu äußern, er kann auch nicht im eigentlichen Sinn zur "Wahrheit" verpflichtet sein, wenn er aussagt. Aus der Tatsache an sich, ob ein Beschuldigter aussagt oder nicht, dürfen keine Schlüsse gezogen werden; ebenso wenig daraus, ob er sich "früh" oder "spät" äußert. Beweiserwägungen von Gerichten, wonach für die Schuld des Angeklagten spreche, dass er z.B. ein Alibi "nicht früher" vorgetragen habe, sind rechtsfehlerhaft und führen regelmäßig zur Aufhebung durch das Revisionsgericht.

Damit ist auch klar, dass die Darstellungen in amerikanischen Kriminalfilmen, in denen Angeklagte eingangs "Erklärungen" abgeben, ob sie sich "schuldig bekennen" oder nicht, in Deutschland ebenso wenig eine Rolle spielen wie die Vernehmung von Angeklagten als Zeugen in eigener Sache - das sind die Filmszenen, in denen die bösen oder guten Angeklagten mit bebender Stimme, die Hand auf der Bibel, geloben, die ganze Wahrheit und nichts als sie zu bekunden, dieweil im mitfiebernden Publikum in Großaufnahme Tränen der Ergriffenheit fließen. Echos dieser Szenen und Indizien für den Fernsehkonsum von Journalisten finden wir in Presseberichten, in denen Verteidiger oder Beschuldigte angeblich "auf nicht schuldig plädieren" oder "auf fahrlässige Tötung statt auf Mord plädieren", woraufhin der Staatsanwalt irgendetwas "fallen gelassen" habe. Das stammt, davon können Sie ausgehen, eher aus Netflix-Serien als aus deutschen Gerichtssälen.

Wahrheit
"Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung."
So lautet § 261 StPO ("Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung"). Was einfach klingt, ist auch hier recht kompliziert in den Einzelheiten; überdies ist es das Ergebnis einer langen rechtsgeschichtlichen Entwicklung. In dem schlichten Satz stecken gleich mehrere grundlegende Prinzipien unseres Strafprozesses.

Das erste ist: Freie Beweiswürdigung. Das bedeutet nicht: Willkür, pures Meinen, "Gefühl", auch nicht "Erleuchtung" oder "Eingebung". Richter nach der StPO sind keine gottbegnadeten Salomons, keine "Kadis" aus dem Morgenland, keine Priester der Wahrheit. Sie wenden rationale Regeln, Wissenschaft und Normen an wie alle anderen auch und sind auch nicht klüger, weiser oder wahrheitsnäher als der Rest der Gesellschaft. Der Unterschied zwischen Richtern und Nichtrichtern liegt nicht darin, dass die ersteren "besser" sind im Erkennen der Wahrheit, sondern dass sie die (demokratische) Legitimation dazu haben und das Amt: nicht als Privileg, sondern als Pflicht und Verantwortung.

Es ist daher für Berufsrichter auf Dauer recht ermüdend zu hören, dieser oder jene "hätten" anders entschieden, als er selbst es getan hat. Das kann sein. Sie haben aber nicht, und durften auch nicht. Wer Prozesse entscheiden will, soll halt Jura studieren und Richter werden, oder sich bei den Schöffenwahlen zur Verfügung stellen. Spontanurteile vor dem Fernseher oder nach Lektüre der Tageszeitung können Qualifikation, Amt und Legitimation nicht ersetzen. Man wird nicht Chirurg durch Betrachten der TV-Serie "Die jungen Ärzte", nicht dadurch, dass man jemanden kennt, der auch schon einmal operiert wurde, und auch nicht durch die feste Überzeugung, sich wie kein Zweiter in die Schmerzen der Patienten einfühlen zu können.

"Freie Überzeugung" in § 261 StPO heißt: Ohne Bindung an Beweisregeln. Alle Erkenntnisse sind im Grundsatz gleich viel wert. Es gibt keine "immer" durchgreifenden Beweise, keine wertvollen und weniger wertvollen Zeugen aus Gründen des Stands, des Berufs, der Bedeutung. Es gibt kein Abzählen von Zeugen: Wenn neun das eine bekunden und einer das andere, kann das Gericht gleichwohl dem einen glauben, wenn es dafür rationale, mittelbare und nachvollziehbare (nicht: "richtige") Gründe hat und diese auch mitteilen kann. Zu sagen: Ich habe so entschieden, weil ich das so fühlte, ist zu wenig: Das ist heute keine akzeptable Begründung mehr. 

Das dritte Prinzip: Unmittelbarkeit. "Inbegriff der Hauptverhandlung" ist der Stoff, aus dem Urteile gemacht sind und gemacht sein dürfen. Das bedeutet: Nicht, was der Richter von irgendwo her weiß, was er "gehört hat", nach Feierabend selbst ermittelt, ihm jemand heimlich verraten hat. All das kann auch zum "Inbegriff" werden, aber nur, wenn es ordnungsgemäß in die Verhandlung "eingeführt" wurde: Durch Strengbeweis, unter Umständen auch durch Berichte oder Vorhalte und daran anknüpfende Beweiserhebungen. Wenn im Urteil Beweismittel verwertet werden, die im Hauptverhandlungsprotokoll nicht auftauchen, führt das meist zur Aufhebung des Urteils. Dahinter steckt das Gebot der Fairness und des rechtlichen Gehörs: Der moderne Strafprozess ist kein Geheimtribunal.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Richter wie leere Festplatten in die Hauptverhandlung gehen. Sie wissen, wie Bier schmeckt, wie der Straßenverlauf zwischen X und Y ist, wer deutsche Meisterin der rythmischen Sportgymnastik ist, wie viele Nieren ein gewöhnlicher Mensch hat. Das sind allgemeinkundige oder gerichtskundige Tatsachen; sie sind zu erwähnen, aber nicht zu beweisen. Richter wissen, zur Überraschung vielen Justiz-Skeptiker, gelegentlich auch sonst allerlei, weil sie Verfahrens- und Lebenserfahrung gewinnen. Das kann und soll man nicht ausschließen. Man muss es aber - als Richter - kontrollieren und darf nicht aus der bloßen Tatsache, dass man die Macht hat zu sprechen wann man will, schließen, alles von einem selbst Gesagte sei bedeutend. Ob man Angeklagten raten soll, "nicht auf ihre Verteidiger zu hören", sondern auf den weisen Vorsitzenden, ist da Geschmackssache, ganz unabhängig von § 24 Abs. 2 StPO (Besorgnis der Befangenheit). 

Im Strafprozess wird Wirklichkeit rekonstruiert. Das geht immer nur zum Teil und kann nie vollständig sein. Der Strafprozess ist daher auch ein mächtiger Filter der Wirklichkeit. Was hinten herauskommt, ist - wenn's gut geht - "Wahrheit". Damit ist nicht eine "forensische Wahrheit" als Fantasieprodukt gemeint, keine abgesprochene, ausgedealte Schein-Wahrheit. Sondern eine Wahrheit als Kondensat des äußeren und inneren Geschehens, die für die Beteiligten und die Gesellschaft im Großen und Ganzen "akzeptabel" ist, vor allem, weil ihre Feststellung auf einem fairen, offenen Prozess und dem Bemühen um Rationalität beruht. Das allein ist die verfassungsmäßige Grundlage des Vertrauens in die Strafjustiz - nicht die Höhe der Strafen oder das Maß der jeweils kundgegebenen "Empörung", wie es heute oft angenommen wird, weil das Publikum es gern gefühlig hat.

Für die Geständnisfrage beim OLG Frankfurt folgt aus all dem: Es gibt keine Regeln für die Bewertung, die Reihenfolge, die Glaubhaftigkeit von Geständnissen, auch wenn sie mehrfach und widersprüchlich sind. Das Gericht erhebt darüber Beweis (z.B. durch Augenschein einer Videoaufzeichnung, durch Vernehmung eines Vernehmungsbeamten oder durch Verlesung von Urkunden) und entscheidet "nach seiner freien Überzeugung" auf der Grundlage und unter Abwägung aller Beweisergebnisse, über die Glaubhaftigkeit. Dem Geständnis oder den sonstigen Einlassungen von Angeklagten kommt nicht die überragende, geradezu magische Bedeutung zu, die gelegentlich in Presseberichten aufscheint. Sie sind vielmehr Teil des Ganzen: des "Inbegriffs der Hauptverhandlung". Das ist eine große Chance, aber auch eine schwierige Verantwortung. Erinnern Sie sich, verehrte Leser, zum Abschluss noch einmal an die Geständnisse Ihres eigenen Lebens: Dass sie immer ganz und gar wahrhaftig, umfassend, "rückhaltlos" waren, möchten Sie vermutlich selbst nicht ganz glauben. Es bleibt immer ein Rest. Wir schauen den Menschen nicht in die Köpfe, und was sie sagen, ist, wenn wir Glück haben, ein Teil des Ganzen.
[close]
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/walter-luebcke-prozess-gestehen-sie-kolumne-a-7d632fa5-92d7-4c57-882b-1e21d4146542
Merke: Es genügt natürlich nicht, dämlich zu sein. Es soll schon auch jeder davon wissen!

„Nur weil es Fakt ist, muß es noch lange nicht stimmen!“ (Nadine, unerkannte Philosophin)
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: Rolly, klimaschutz

dtx

  • Gast
Re: Thomas Fischer
« Antwort #138 am: 3. Juli 2020, 20:01:32 »
Für Geständnisse gilt mithin dasselbe wie für Zeugenaussagen: Mit der Zeit, die Polizei und Justiz bis zum Prozeß verlieren, verlieren auch diese Beweismittel an Wert. Staatsanwaltschaft und Gericht dürfen also ein Geständnis nicht freudestrahlend wie eine Schultüte entgegennehmen, ohne zu hinterfragen, was drin ist und wie das hineinkam.

Nicht nur wenn der Angeklagte mehrere sich widersprechende Einlassungen liefert, die man für sich gesehen schon als Geständnis werten darf und nicht als Vermutung oder trügerische Erinnerung betrachten muß, vorgetragen im Bemühen um umfassende Kooperation, kann davon vielleicht etwas zutreffend sein, muß es aber nicht: Vera F. Birkenbihl hatte sich zur Kürze der Halbwertszeit des menschlichen Gedächtnisses sehr eindringlich und allgemeinverständlich geäußert.
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: Rolly, Reichsschlafschaf

Offline Reichsschlafschaf

  • Souverän
  • *
  • Beiträge: 20223
  • Dankeschön: 65305 mal
  • Karma: 630
  • Auszeichnungen Auszeichnung für 20000 Beiträge Auszeichnung für 15000 Beiträge Auszeichnung für 10000 Beiträge Sehr Wertvolle Beiträge! Bereits 1000 "Danke" erhalten! Auszeichnung für 750 Beiträge
    • Auszeichnungen
Re: Thomas Fischer
« Antwort #139 am: 5. Juli 2020, 14:44:05 »
Von mir bisher unbemerkt, gibt es seit März auch einen Podcast:


Zitat
Reingehört in: "Sprechen wir über Mord?!" Thomas Fischer erklärt die Welt

Podcast-Rezension von Pia Lorenz

04.07.2020
Spoiler
Podcasts rund ums Recht haben Hochkonjunktur - von, mit, für und über Juristen gibt es viel zu sagen. Manches hören wir uns an. Und haben natürlich eine Meinung, dieses Mal zum neuen True-Crime-Format von SWR2.

Man muss kein Fan von Thomas Fischer sein, um den noch relativ neuen Podcast von und mit Holger Schmidt und Viktoria Merkulova zu abonnieren. Man sollte allerdings bereit sein, sich auf ein eher ungewöhnliches Erklärbär-Format einzulassen. Im neuen True Crime Podcast von SWR2  "Sprechen wir über Mord?!" erklärt der ehemalige Bundesrichter Prof. Dr. Thomas Fischer der Moderatorin Merkulova und dem ARD-Terrorismus-Experten Schmidt die Welt.

Anhand jeweils eines echten Kriminalfalls aus Deutschland erläutert Fischer in jeder Folge, was bei diesem Fall eigentlich wirklich das Problem ist; oder, so manches Mal, auch die Frage ist, die die Journalisten ihm richtigerweise hätten stellen sollen.

Das ist, wenn man sich auf das Konzept einlässt, äußerst unterhaltsam. Nichtjuristen erfahren viel Spannendes aus der Welt des Rechts. Spannend in einem ungewöhnlichen Sinn: Dass vieles viel sachlicher ist, als es den Anschein hat. Dass es für Entscheidungen in aller Regel juristische Gründe gibt, nicht emotionale, wie Medien gern wild spekulieren. Auch Juristen, die im Strafrecht nicht – noch nicht oder nicht mehr - allzu versiert sind, können viel lernen.

Wer selbst über solide strafrechtliche Kenntnisse verfügt, braucht zeitweise etwas Geduld. So mutet manche Frage von Schmidt und Merkulova geradezu gewollt unsachlich an, Fischer antwortet mit Selbstverständlichkeiten, beginnend bemerkenswert häufig mit der Feststellung, dass er dieses oder jenes schlicht nicht wisse und/oder beurteilen könne.
It’s not a bug, it’s a feature

Das stimmt. Immer. Dem ehemaligen Richter am BGH werden nämlich keineswegs nur Rechtsfragen gestellt, die er mit der gewohnten messerscharfen rhetorischen und inhaltlichen Präzision beantwortet. Mindestens ebenso häufig befragen die Journalisten Fischer zum Sachverhalt der True-Crime-Fälle aus Deutschland (den er ebenso wenig kennt wie alle anderen Menschen bundesweit auch), zur Motivation eines Täters (den er nie gesehen hat) oder auch dazu, ab wann man denn wohl so als normaler Mensch davon ausgehen müsse, dass Benzin zu brennen beginnt (Fischer:  "Das weiß ja nicht einmal ein Sachverständiger genau ").

Normalerweise gelten Juristen aus genau diesem Grund für Journalisten als schwierige Gesprächspartner. Journalisten wollen Emotion und Konflikt, es ist Teil ihres Jobs, als Fragen getarnte Vermutungen aufzustellen. Juristen hingegen arbeiten mit Fakten, Konflikte versuchen sie zu entwirren. Und häufig müssen sie klarstellen, dass nicht alles mit allem zu tun hat und hinter so mancher Entscheidung nicht das gewünscht Skandalöse steckt, sondern ein ganz profaner, zum Beispiel prozessualer Grund.

In  "Sprechen wir über Mord? " aber ist diese juristische Sachlichkeit nicht Bug, sondern Feature. Sie ist Teil eines Konzepts, das von der Person Thomas Fischer lebt. Der sehr deutlich macht, was er nicht weiß oder auch nur wissen kann. Und im Übrigen der Meinung ist, er wisse es sowieso besser - und damit meistens auch noch Recht hat. Die Bühne, die ihm geboten wird, nutzt der wortgewaltige Ex-Richter auch für freundliche Herablassung und nur selten liebevolle Ironie.

Es mag dem Konzept geschuldet sein, dass die Journalisten in diesem strukturellen Subordinationsverhältnis harmlos bleiben. Auf so manches Statement von Moderatorin Merkulova geht Fischer erst gar nicht ein. Und selbst die Fragen des juristisch versierten Rechtsjournalisten Schmidt scheinen manchmal geradezu darauf abzuzielen, dem Experten die Möglichkeit zu bieten, die Frage als falsch gestellt zu brandmarken, angebliche Fakten als Vermutungen zu entlarven und juristisch Relevantes von Unwichtigem zu trennen.

Letzteres kann zumindest der (straf-)rechtlich versierte Hörer im besten Fall selbst. Er kann es aber nur ganz selten so präzise, scharfsinnig und mitleidslos wie Thomas Fischer. Und so ist  "Sprechen wir über Mord? " trotz oder gerade wegen seines eher ungewöhnlichen Formats ein echtes Hörvergnügen für alle, die True Crime und Strafrecht lieben.

Sprechen wir über Mord?! - Der SWR2-True-Crime-Podcast von und mit Viktoria Merkulova, Holger Schmidt und Prof. Dr. Thomas Fischer, verfügbar in allen bekannten Podcast-Apps.
[close]
https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/podcast-recht-jura-rezension-strafrecht-true-crime-sprechen-wir-ueber-mord-swr2-thomas-fischer-holger-schmidt-viktoria-merkulova/


Den Podcast selbst gibt es hier:
https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/podcast-sprechen-wir-ueber-mord-100.html

(Hab ich noch nicht reingehört, lesen geht bei mir schneller als zuhören oder Video-Gucken ...)

Edit.
So, jetzt habe ich reingehört.
Ehrlich gesagt, habe ich es nicht lange ausgehalten.
Begonnen habe ich mit dem Mord von Haid, aber nach einigen Minuten war es das für mich.
Seine Kolumnen sind herrlich unaufgeregt, unemotional und von stringenter Logik durchzogen.
Was bei einem Revisionsrichter nicht direkt verwundert.

Und dann kommen im Podcast so Fragen wie: „Was macht das mit uns?“

Diese Frage regt mich seit langer Zeit schon auf!
Warum werden Menschen dauernd als Objekte hingestellt, mit denen etwas gemacht wird?
Warum lautet die - wesentlich interessantere - Frage nicht:  „Wie reagiere ich darauf?“ Oder: „Warum reagiere ich in einer ganz bestimmten Weise darauf?“

Oder „Ganz viel Emotionalität bei der Polizei“
Klar, ohne Emotionalität geht es heute nicht! Ein Profi ist nur der, der von Emotionalität bestimmt wird, besser noch von ganz viel Emotionalität!
Vermutlich rennt der Polizeipräsident total emotional in der Gegend rum, als er die Nachricht erhält und auch die ermittelnden Beamten können sich vor lauter Emotionalität gar nicht halten ...   :doh:

Und natürlich wird die Frage von der Frau in der Runde gestellt, denn Frauen sind ja vor Emotionalität zuständig, das weiß man ja ...

Also, wenn's schee macht, bzw. wenn dieses Format das Publikum glücklich macht! Aber für mich ist das nix.
Natürlich will ich niemand Vorschriften machen, wie er es zu finden hat und die Redaktion wird schon wissen, was sie ihrem Publikum anbieten will, um es zu binden. Aber für mich halt nicht.

Meine Bewunderung gilt Thomas Fischer. Dafür, wie er das aus- und durchhält.

„Emotional“ kommt derzeit ja auch gut an. Grade gesehen:
Zitat
„Riverboat“: Jörg Kachelmann ganz emotional – „Ich bin froh, dass er es...“
   :(
« Letzte Änderung: 5. Juli 2020, 15:57:14 von Reichsschlafschaf »
Merke: Es genügt natürlich nicht, dämlich zu sein. Es soll schon auch jeder davon wissen!

„Nur weil es Fakt ist, muß es noch lange nicht stimmen!“ (Nadine, unerkannte Philosophin)
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: Rolly, Rechtsfinder, klimaschutz

Offline Reichsschlafschaf

  • Souverän
  • *
  • Beiträge: 20223
  • Dankeschön: 65305 mal
  • Karma: 630
  • Auszeichnungen Auszeichnung für 20000 Beiträge Auszeichnung für 15000 Beiträge Auszeichnung für 10000 Beiträge Sehr Wertvolle Beiträge! Bereits 1000 "Danke" erhalten! Auszeichnung für 750 Beiträge
    • Auszeichnungen
Re: Thomas Fischer
« Antwort #140 am: 11. Juli 2020, 18:31:03 »
Diesmal geht es um Studien und das Licht. Oder so ähnlich.  ;)




Zitat
Polizei, Rassismus und Struktur

Studienlage unklar

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Fast hätte der Bundesinnenminister eine Studie über die Polizei anfertigen lassen. Er hat es sich aber noch mal überlegt und möchte doch lieber erst mal "tun, was notwendig ist". Aber was wäre notwendig?
10.07.2020, 15.14 Uhr

Spoiler
Sein und Nichtsein
Haben Sie, sehr geehrte Leser, heute schon eine Studie gelesen? Wenn nein: Haben Sie gestern eine Studie gelesen? Oder ganz hart: Haben Sie eigentlich überhaupt schon jemals eine Studie gelesen? Ich meine: die Studie gelesen; nicht: gelesen, dass es eine Studie gibt. Die letztgenannte Variante ist scheinbar einfacher, aber das kann täuschen. Sie enthält nämlich die Möglichkeit, dass es gar keine Studie gibt. Und dann wird es ja ziemlich kompliziert, weil man dann über Studien sprechen muss, die es nicht gibt und die man nicht gelesen hat, aber vielleicht gern gelesen hätte. Und dann muss man gleich wieder erklären, warum man gern etwas gelesen hätte, was es gar nicht gibt; und es stellt sich heraus, dass man in Wirklichkeit vielleicht schon meint zu wissen, was drinstehen könnte, denn sonst würde man sie ja nicht gern lesen wollen. 

Ach je, das ist ja wieder kompliziert! Ich weiß, dass solche Fragen, wenn sie unverhofft kommen, alles andere als geschenkt sind. Sie können einem schon deshalb die Stimmung verderben, weil man, kaum hat man sie gelesen, unbemerkt anfängt zu überlegen, was das eigentlich ist: eine Studie.

Grenzen wir ein: Diese Kolumne ist keine Studie. Die Kurznachrichten, denen Sie entnehmen können, dass es eine neue Studie gibt, sind auch keine. Wenn Ihr Arzt Ihnen sagt, dass Ihr LDL-Cholesterin nach neuen Studien nicht mehr unter 80 liegen muss, sondern dass 115 auch ein schöner Wert ist, hat er sehr oft nicht die Studien gelesen, sondern die Kurzmeldung im Ärzteblatt, was ihm und uns zwar vielleicht reicht, jetzt aber nicht weiterhilft. Studien gibt es, so dachte man früher, in Amerika. Denn dort gibt es 5000 Institutionen, die "Universität von irgendwas" heißen, an denen 20 Millionen Menschen mit der Erstellung von Vor-, Zwischen- und Abschlussstudien befasst sind. Diese stammen sodann von "Forschern", von "Forschergruppen unter Leitung von" oder gleich von Universitäten selbst. "Eine neue Studie der Universität Harvard" ist die in diesem Kosmos nicht mehr zu toppende Ankündigung eines veritablen Pfingstwunders. Sie hat vielleicht "jetzt ergeben", dass man von Knäckebrot nicht abnimmt, wenn man zwei Kilogramm davon pro Tag isst, wohl aber von Schweinebauchspeck, falls man ihn in Abständen von 8 Stunden in einer Menge von jeweils 20 Gramm verzehrt und zwischendurch nur ungesüßten Tee zu sich nimmt.   

Daran sehen wir schon, dass eine Studie jedenfalls etwas Exaktes ist, oder sagen wir es mit Wikipedia: eine wissenschaftliche Arbeit, deren Veröffentlichung mindestens geplant ist. Ob uns das jetzt weiterführt, weiß nur, wer ahnt, was eine "wissenschaftliche Arbeit" ist. Darüber gibt es, "Review"-Prozess hin oder her, unterschiedliche Meinungen, wie wir anhand der berühmten Studien der Wissenschaftler Guttenberg, Schavan oder Koch-Mehrin wissen und angesichts der Hannoveraner Studie zum "Entspannungsbad in der Geburtsvorbereitung" sowie der Berliner Studie zu "Europas Weg zum Bürger" ahnten. Letztere fiel durch "amerikanische Zitierweise" auf, was in diesem Fall aber eine Entschuldigung für gewisse, nun ja, Suboptimalitäten war. Gerade auch in Amerika ist nicht alles Studie, was glänzt! Jedenfalls "seit Corona-Zeiten" (neue Epoche!) ist klar, dass Studien auch in Deutschland entstehen können.

Sprechen und Nichtsprechen
Man versucht sich vorzustellen, wann der Herr Bundesinnenminister zum letzten Mal eine Studie gelesen hat. Denn Minister lesen eigentlich keine Studien, sondern "Vermerke" sowie "Sprechzettel", auf denen steht, was zu sagen ist und in den beigefügten Vermerken kurz begründet wird. Den Sprechzettel (Redetext) kriegt der Minister gern auf der Fahrt zum Termin vom Persönlichen Referenten oder vom Pressereferenten; da kann er sich dann noch zwei Minuten ins Thema einarbeiten. Da es ungefähr 20 Termine mit fünf bis zehn Sprechzetteln pro Tag sind, muss man sich ranhalten und kann nicht auch noch die Studien lesen, auf deren Fundament man mit Worten die Welt lenkt. Ich weiß aber natürlich nicht, wie es der Herr Bundesinnenminister handhabt. Die dem Kolumnisten bekannt gewordenen Minister waren aber an Texten, die länger waren als zwei Seiten, meist nicht interessiert. Und wer glaubt, unterhalb der ministerialen Leitungsebene in den Tiefen der Parlamentsfraktionen vollziehe sich ein summendes Studien-Studieren, muss enttäuscht werden. Studien-Lektüre findet, in verträglicher Dosierung, auf der Referentenebene statt, bei prekär beschäftigten Politologie-Mastern; von dort aus verschlankt sich das in Vermerkform gegossene Substrat pyramidenartig durch die Referate, Unterabteilungen und Abteilungen zum Licht.

Ist eigentlich die Polizei rassistisch? So gefragt eine ziemlich doofe Frage, muss man sagen! Denn weder weiß man, wer mit "die Polizei" eigentlich genau gemeint ist, noch was genau abgefragt werden soll. Was ist "rassistisch"? Wir sind ja selbst schon ganz durcheinander, seit dieser Donald T. aus Amerika und seine zehn Millionen Golf spielenden Pressesprecherinnen ihren antirassistischen schwulen Botschafter geschickt haben, um den Berlinerinnen und Berlinern einmal freundlich nahezubringen, wie man sich zu benehmen hat. Was jetzt wiederum das Schwulsein mit dem Rassismus zu tun hat und dieser mit der "Rasse", die es, wie wir wissen, nicht gibt, außer im Grundgesetz und in Amerika, das weiß man auch noch nicht ganz genau, jedenfalls in Berlin nicht. Eine verbreitete Theorie nimmt an, "rassistisch" sei alles, was sich irgendwie auf "diskriminierend" reimt, und davon versteht man in Berlin nun wirklich was, denn dort ist praktisch jeder diskriminiert außer den Potsdamern.

In Amerika ist ein Mensch von Polizisten umgebracht worden, und seither ist einmal mehr eine große Unruhe ausgebrochen über die Frage, ob vielleicht die deutsche Polizei rassistisch sei. Nicht dass der brutale Tod des amerikanischen Bürgers George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis sich dem deutschen akademischen Prekariat als Anlass wirklich aufgedrängt hätte: Man hätte natürlich auch irgendeinen anderen Tod oder irgendein anderes Leiden nehmen können: aus Mallorca vielleicht oder aus Moskau, aus Dubai oder aus Zwickau, aus Paris oder Mumbai. Das kam allerdings nicht im Fernsehen, und ist außerdem meistens irgendwie kompliziert, weil wer weiß, was man da alles berücksichtigen muss, bevor man sich festlegt. Es ist ja sogar mit dem Rassismus gar nicht so einfach heutzutage, wie wir ja wissen aus der Kölner Sylvesternacht und der "Bekämpfung der Clankriminalität" und seit Herr Yanis Varoufakis uns erklärt hat, wie das Steuersystem in Piräus funktioniert und der Kapitalismus auf Mykonos. Jedenfalls haben deutsche Polizisten meist viel mehr nicht deutsche Kollegen als deutsche Verlautbarungs-Antirassisten, deren Liebe zur Multikulturalität gelegentlich arg beschränkt erscheint auf ein bisschen Freizeitspaß und selektive Verachtungsrituale.

Vermuten und Wissen
Irgendjemand hat die supertolle Idee gehabt, dass das Bundesinnenministerium ja mal eine Studie machen lassen könnte über - ja über was eigentlich? Darüber, ob es Rassismus bei der Polizei gibt? Hat jemand daran ernsthafte Zweifel? Gibt es Rassismus im Bäckerhandwerk, oder unter Universitätslehrstuhlsekretärinnen? Gibt es Studien über die Rassismuslage unter den Berliner Taxifahrern, insbesondere denen aus dem Nahen Osten und Afrika?

Nein, es ist natürlich viel anspruchsvoller: Gibt es "strukturellen Rassismus?", lautet die fiktive Studienfrage. Seit sie gestellt wurde, erklären sich Hunderte fiktive Studienleiter, Studienleser und Studienschlussfolgerer darüber, wie die Sache zu beurteilen sei: Was also vermutlich oder sicher herauskommen werde und warum und wie das zu bewerten sei. Insoweit hat die Studie die in sie gesetzten Erwartungen also bereits vollständig erfüllt, und wir haben einen Haufen Geld dabei gespart, sie einfach mal nur in der Fantasie durchzuspielen, denn nichts ist preisgünstiger als ein paar Talkshows und Pressemitteilungen. Außerdem sind Studien, die nur in der Fantasie stattfinden, schon allein deshalb besser und empfehlenswert, weil ihre Ergebnisse etwas flexibler sind als die von wirklich existierenden Studien, und sich deshalb besser als Grundlage von Interviews, Resolutionen und Absichtserklärungen eignen.

Der Bundesinnenminister zum Beispiel hat im "Morgenmagazin" gesagt, dass er eine Studie nicht machen möchte, sondern "jetzt erst mal das Notwendige". Das war schön gesagt, denn was das Notwendige ist, wüssten wir ja gerade gern, aber er weiß es, und wer das weiß, braucht keine Studien. Auf diese Weise sagt der Bundesinnenminister allen, dass er sowieso schon weiß, was bei dieser Studie herauskommt, und dass er das nicht braucht. Andererseits weiß aber kaum jemand so recht, was eigentlich ein "struktureller Rassismus" ist. Jedenfalls die Zuschauer des Morgenmagazins und die meisten Kollegen aus den Revieren und Dienstgruppen und Polizeigewerkschaften haben über Fragen der Strukturalität noch nicht sehr intensiv nachgedacht. Da ist es zwar einerseits wiederum vertrackt, andererseits aber wirklich ausgesprochen lobenswert, dass der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter anmerkte, wer lauthals keine Studie erstellen wolle, lege die Vermutung nahe, er fürchte sich vor ihrem Ergebnis, obwohl doch in Wahrheit gar nichts zu befürchten sei. So haben wir erfahren, dass auch der BDK das Ergebnis der Studie bereits kennt, was dann allerdings erneut die Frage aufwirft, warum man sie denn machen sollte, wenn alle sowieso schon das Ergebnis kennen. 

So eine Studie muss formalen Anforderungen genügen; das kriegt man aber leicht hin. Schwieriger ist die Frage der Operationalisierung der Studienfrage; anders gesagt: Wie kriegt man heraus, was man wissen will? Dazu muss man ziemlich genau wissen, was man wissen möchte, in diesem Fall also: Was ist struktureller Rassismus? Die Antworten, die wir dazu in den letzten Tagen gehört haben, waren etwas beunruhigend, denn allerlei Berufene äußerten sich zum Beispiel zu der Frage, ob es "Netzwerke" gebe oder nicht - als ob das eine Antwort sei. Damit ist allerdings die Frage nach "Strukturalität" nicht beantwortet, genauer gesagt: noch nicht einmal gestellt. In eine Post-"Flüchtlingskrise"-Gesellschaft hineinzufragen, ob man einmal fragen dürfe oder solle, ob es "bei der Polizei" strukturellen Rassismus gebe, erscheint ein wenig albern, finde ich. Denn dazu müsste man ja zunächst wissen, was man mit "Struktur" meint, und was Struktur mit Gesellschaft, Staat, Verwaltung zu tun hat. Das sind interessante Fragen, die ziemlich weit ans Eingemachte gehen.

Beunruhigend ist letztlich weniger die oberflächliche Naivität, mit welcher fiktive "Ergebnisse" der fantasierten "Studie" vorweggenommen und diskutiert werden. Sondern das Gefühl, es gehe in Wahrheit eher darum, dass die bloße Durchführung der "Studie" als hochgefährliche Störung des Friedenszustands der "Struktur" angesehen werden könnte. Also so ähnlich, als schicke man ein paar Tiefenpsychologen und Coaches von außen in das Kommando Spezialkräfte oder in den Generalstab und lasse sie mal nachschauen, was da so los ist in der fremden seltsamen Welt strukturellen Entschiedenseinmüssens.

Ich selbst habe eine Vermutung darüber, ob es "strukturellen Rassismus" in den deutschen Polizeien gibt. Sie spielt hier aber keine Rolle. Es ginge bei jeglicher "Studie" nicht darum, in instrumentalisierungsgeeigneter Weise irgendwelche "Einstellungen" abzufragen. Polizei als solche hat "Struktur", und man müsste ganz allgemein zunächst fragen, welche man sucht, finden will, anstrebt. Noch einfacher: Was, wenn eine Untersuchung die Frage nach dem "strukturellen Rassismus" bejaht? Was tun wir dann? Was hätte die Antwort mit den allgemeinen Vorstellungen von Ordnung, Staatsmacht, Verantwortung, gesellschaftlicher Entwicklung überhaupt zu tun? Welche Polizei hätten wir denn gern? Letzteres dürfte die Frage sein, um die es geht, und sie könnte und müsste ganz unabhängig von "Studien" gestellt und breit diskutiert werden, die Vor-Urteile nicht dekonstruieren, sondern nur abfragen.

Die üblichen Schemata der Bewertung sind da ziemlich nutzlos und führen nicht weiter. Damit meine ich sowohl diejenigen der kenntnisfreien Denunziation als auch die der kenntnisfreien Affirmation: Herablassende Verachtung und pauschale Verdächtigung für die und von Polizeien sind albern und falsch; Überidentifikation und furchtsame Bewunderung sind es auch. Man muss sich darüber klar sein - und klarer werden als bisher -, dass Sicherheitsapparate nicht allein nach ihren allgemeinen Programmsätzen, wichtigen Aufgaben und schönen Zielen zu beurteilen sind, sondern immer auch ein ausgeprägtes Eigenleben haben, das positive und negative, beruhigende und gefährliche Tendenzen beinhaltet. Dass diejenigen, die sie tragen, gelegentlich beleidigt sind, muss man aushalten und ihnen zumuten. "Sicherheit" ist kein Wert an sich und vor allem eine Kategorie, die in sich keine Begrenzung hat. Für Einschränkungen, Voreingenommenheiten, Kategorisierungen, Beschränktheiten gibt es in den meisten Fällen einen "sachlichen" Grund, wenn man nur lange genug und praxisnah genug sucht. Es geht darum, die "Strukturen" solcher Gründe denen offenzulegen, die sie entwickeln, haben, umsetzen, fortführen. Das sollte das Gegenteil von denunziativer Verdächtigung sein, kann aber trotzdem schmerzen. Das geht bei der Polizei nicht anders als bei der Justiz oder anderen Institutionen.

So seltsam also insgesamt das Agieren und Reden über die "Studie" ist, die es nicht geben soll, und über das "Notwendige", das statt ihrer zu unternehmen ist, könnte es doch sein, dass der Ausfall des Ereignisses sich als genauso nützlich erweist wie sein fiktiver Eintritt. Voraussetzung wäre allerdings, dass die Studien-Frage aus dem abgestandenen Zusammenhang schematischen Verlautbarens, Besserwissens und des "Warnen vor…" herauskommt und inhaltlich ernst genommen wird. Es geht nicht darum, rasch ein paar neue Opfer-Gruppen und "Betroffenen"-Statements aus den Zylindern zu zaubern. Sondern es wird, auch hier, die ganze Zeit über ganz wirklich darüber verhandelt, was diese Gesellschaft ausmacht. Die Studien dazu werden keinesfalls in Amerika gemacht.
[close]
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/studienlage-unklar-a-3771b70d-b89e-4af3-8ba3-e2c70d408219
Merke: Es genügt natürlich nicht, dämlich zu sein. Es soll schon auch jeder davon wissen!

„Nur weil es Fakt ist, muß es noch lange nicht stimmen!“ (Nadine, unerkannte Philosophin)
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: Rolly, klimaschutz

Offline SchlafSchaf

  • Souverän
  • *
  • Beiträge: 16519
  • Dankeschön: 68320 mal
  • Karma: 904
  • Nemo me impune lacessit
  • Auszeichnungen Auszeichnung für 7500 Beiträge Ein einzigartiger Award der nur für beteiligte der Plakataktion verfügbar ist. Für unerschütterlichen Kampf an forderster(!)  Front Liefert Berichte von Reichsdeppenverfahren für das SonnenstaatlandSSL Der Träger dieses Abzeichens war im Außendienst!
    • Auszeichnungen
An Rüdiger Hoffmann: Der Faschist sagt immer, da ist der Faschist  (in Anlehnung an die Signatur des geschätzten MitAgenten Schnabelgroß)

Wir kamen
Wir sahen
Wir traten ihm in den Arsch
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: Rolly, klimaschutz

Offline Reichsschlafschaf

  • Souverän
  • *
  • Beiträge: 20223
  • Dankeschön: 65305 mal
  • Karma: 630
  • Auszeichnungen Auszeichnung für 20000 Beiträge Auszeichnung für 15000 Beiträge Auszeichnung für 10000 Beiträge Sehr Wertvolle Beiträge! Bereits 1000 "Danke" erhalten! Auszeichnung für 750 Beiträge
    • Auszeichnungen
Re: Thomas Fischer
« Antwort #142 am: 21. Juli 2020, 09:53:54 »
Jetzt haut er's aber raus!

Das dumme Geschwalle der Presse hat ihn wieder veranlaßt, etwas klarzustellen.
Dabei spielt auch wieder der berühmte Fall der Notwehr bzw. Putativnotwehr eine Rolle (vermutlich, weil man an Extremen gut das Prinzip erkennen kann) und der Fall des „Katzenkönig“.

Den kannte ich noch gar nicht, ließ mich aber spontan an einen anderen König denken ...   :whistle:





Zitat
Strafrecht
Rechtswidrig, ohne Schuld

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Nicht selten liest oder hört man von schlimmen Verbrechen, deren Täter "freigesprochen" und in ein Krankenhaus eingewiesen werden, weil sie "ohne Schuld" sind. Viele denken, da seien die Täter gut weggekommen. Ein Irrtum.
17.07.2020, 16.59 Uhr

Anlasstat
Am 9. Dezember 2019 geschah in Stuttgart etwas, was "Bild" wie folgt beschrieb: "Bürokaufmann (37) ersticht Rentnerin. Er mordete aus Hass auf Rentner. Killer wollte alte Menschen sterben sehen." Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man fast morbide Genugtuung empfinden über die wie üblich vollendete Erfüllung des blatttypischen Informationsanliegens. Tatsächlich ist man traurig über die pietätlose Zurschaustellung des Tatopfers und über das Unheil, das da vor acht Monaten hereingebrochen ist über eine völlig unschuldige Person, über den Täter und alle, die von der Sache betroffen sind.

Nun hat das Landgericht Stuttgart - Schwurgerichtskammer - in dieser Sache ein Urteil gefällt. Die "Stuttgarter Zeitung" untertitelte am 15. Juli: "Er hat eine ihm unbekannte 77-Jährige im Stuttgarter Westen auf offener Straße getötet. Trotzdem muss der Angeklagte nicht ins Gefängnis." Dieser Untertitel spielt ein wenig mit der stets vorhandenen latenten Bereitschaft der Leser, sich zu "empören" oder irgendetwas "unerhört" zu finden, was im Zusammenhang mit Straftaten, Strafverfahren und Strafurteilen steht. Die spontane, reflexhafte Reaktion auf Meldungen aus diesem Bereich scheint zu sein, zunächst einmal den Ansatzpunkt für die pflichtgemäße Entrüstung zu finden.

Spoiler
Das ist wie bei den Wimmelbildern auf den Rätselseiten der Kindheit. Sie hießen "Wo ist der Hase?" und zeigten meist ein dichtes Blattwerk, in dem an versteckter Stelle, auf dem Kopf stehend oder nur ausschnittweise, ein Hase verborgen war, den man durch Drehen und aufmerksames Betrachten finden musste. Das Schöne an diesen Wimmelbildern ist, dass der Hase garantiert immer da ist. Man muss ihn also nur finden. Die Möglichkeit, dass die richtige Antwort auf die Frage "Wo ist der Hase?" lautet: Nirgendwo, wird freundlicherweise von den Wimmelbildzeichnern ausgeschlossen: Es wäre einfach zu frustrierend, während das Finden des kleinen Kerls stets eine große, mit etwas Anstrengung, Fantasie und Ausdauer zu erringende Freude ist.

Vielen Menschen hat sich das Hasensuchen und -finden so ins emotionale Gedächtnis eingebrannt, dass sie es das ganze Leben lang fortsetzen, obgleich draußen in der weiten Welt die allermeisten Wimmelbilder des Lebens gar keinen Hasen haben. Das geht bis in die Höhen des strafrechtlichen Revisionsrechts, wo viele Verteidiger entweder denken oder jedenfalls ihren Mandanten sagen, es sei nur eine Frage des Geschicks, der Schlauheit und des Honoraraufwands, die im angefochtenen Urteil verborgenen "Rechtsfehler" zu finden. Anders als in den Übungsklausuren der Referendarausbildung gibt es aber zahllose Strafurteile, in denen einfach kein Hase = Rechtsfehler versteckt ist. Das erbittert den verurteilten Revisionsführer, ist aber ein Resultat davon, dass unsere Strafjustiz aufs Ganze gesehen ziemlich gut und sorgfältig arbeitet. Ich weiß: Das kann man glauben oder nicht, und wer nicht will, glaubt's halt nicht. 

Zurück zur Anlasstat aus Stuttgart. Sie ist es in doppeltem Sinn: Anlass für die Verurteilung des Täters zu "Freispruch" und "Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus" und in Folge davon Anlass für diese Kolumne. Die Tatgeschichte hat die "StZ" so beschrieben:

"Der Mann... leidet seit 2007 an einer paranoid-halluzinatorischen Psychose... Man will ihm Böses, ist der 37-Jährige überzeugt. Er begibt sich mehrfach in psychiatrische Behandlung - es bringt nichts. Auch der Einsatz von Neuroleptika bleibt erfolglos... 2019 verschlimmert sich sein Zustand. Er bekommt erstmals Tötungsgedanken. Sein Plan, der ihm... von einer Stimme in seinem Innern eingeflüstert wird: Er müsse einen älteren Menschen töten, damit er ins Gefängnis komme... Er versucht, die (Tat) zu verhindern. Nach einer schlaflosen Nacht (wartet er) in der Notfallpraxis des Marienhospitals auf den Psychiater. Die Wartezeit ist ihm zu lang..."

Der Angeklagte fährt in seine Wohnung, holt ein Küchenmesser und tritt auf die Straße. Dort trifft er zufällig die ihm unbekannte 77-jährige Frau und ersticht sie. Anschließend offenbart er die Tat und lässt sich festnehmen.

Nun ist der Angeklagte, sieben Monate nach der Tat, vom Vorwurf des Mordes freigesprochen worden; zugleich wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Das gibt Anlass, noch einmal die Beurteilung psychischer Ausnahmesituationen bei Straftaten, das Wesen der Schuld und das Verhältnis von Strafe und "Maßregel" kurz zu erläutern. Obwohl es sich um eine der grundlegenden Abgrenzungen unseres Rechtssystems handelt, gibt es hier viel Un- und Missverständnisse.

Tatfragen
Wenn man von Urteilen wie dem genannten liest, stößt man in der Regel auf die Formulierung, das Gericht habe diese oder jene Tatsachen "festgestellt". Der Begriff des Feststellens (oder: der "Feststellungen") wird im (Straf-)Recht ein bisschen anders und spezieller verwendet als in der Alltagssprache. Während im täglichen Leben damit gemeint ist, dass eine Person einen wirklich gegebenen, wahren Umstand, eine "Tatsache" erkennt, meint das Prozessrecht eher das "Festschreiben eines Sachverhalts", welcher der Entscheidung (dem Urteil) zugrunde zu legen ist. Das heißt im Zivil- und Verwaltungsrecht "der Tatbestand", im Strafrecht "der Sachverhalt" oder "die tatsächlichen Feststellungen". Auch Letzteres ist wieder etwas anders zu verstehen als im Alltag: Es geht hier nicht darum, dass "Feststellungen" tatsächlich gemacht, sondern dass "Feststellungen über Tatsachen" getroffen wurden.

Ob die "Feststellungen" stets die ganze, reine, wirkliche, unveränderte "Wahrheit" sind, also reine, unveränderte Nacherzählungen der (vergangenen) Realität, kann man nie mit letzter, naturwissenschaftlicher Sicherheit wissen. Man kann aber sagen, ob ein Tatsachenverlauf so sicher "bewiesen" und die Feststellungen so plausibel und in sich schlüssig sind, dass es uns als Feststellung der Wahrheit ausreicht. Im Strafrecht betrifft das vor allem die Tatsachen, die in den sogenannten gesetzlichen Tatbeständen beschrieben sind. Sie enthalten die Voraussetzungen, für die der "Bestimmtheitsgrundsatz" des Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz gilt. Wenn § 212 StGB lauten würde: "Wer einen Menschen 'vernichtet' wird...bestraft", wüsste man nicht ganz genau, was mit "Vernichten" gemeint ist: Kann das auch eine schwere Ehrverletzung, ein wirtschaftliches Ruinieren sein? Und kann "ein Mensch" auch der Täter selbst sein? Daher lautet § 212 in "bestimmter" Form: "Wer einen anderen Menschen tötet..."

Urteile wie das genannte enthalten "Feststellungen". Das sind die festgestellten Tatsachen. Da die Strafjustiz nicht einen unbeschränkten, unendlichen Zugang zur Wahrheit hat, sondern sich an tatsächliche und rechtliche Grenzen der Beweiserhebung halten muss (keine Zeugen oder Spuren, Verbot von Komplettüberwachung oder Folter, Schweigerecht des Beschuldigten usw.), ist der Sachverhalt immer nur das, was mit legalen Mitteln in einem legitimen Verfahren festgestellt wurde.

Die Öffentlichkeit (die "Laien") schaut auf solche Sachverhalte stets mit einem speziellen Blick, der sich von dem der professionell Beteiligten unterscheidet: Zum einen mit dem kritischen Blick "Kann das sein?", der die Plausibilität der Beweisführung prüft und infrage stellt. Zum anderen mit dem Blick der Lebenswirklichkeit: "War das schon alles?", der hinter den dürren Sachverhalten alle Wirklichkeiten und Einzelheiten des Lebens sieht, vermutet oder fühlt, die für den gesetzlichen Tatbestand ohne Bedeutung sind, aber für die Alltagswelt vielleicht wichtig: Der Täter von Stuttgart war "ein 37-jähriger Werkzeugmacher", das Opfer "Rentnerin". Für §§ 211, 212 StGB (Totschlag, Mord) ist das ganz egal; dort reicht die Feststellung, dass "ein anderer Mensch...getötet" wurde.

Weil die Bedeutungen auseinandergehen, kommt es zu Missverständnissen und Enttäuschungen. Die Richter, so meinen viele, "interessieren sich nicht" für die wichtigen Fragen des Lebens, sie "fühlen" nicht genug und haben nicht genügend Empathie. Wer als Möbelverkäufer arbeitet, befasst sich allerdings auch nicht Tag und Nacht damit, wer wohl auf dem verkauften Sofa sitzen wird und ob neben dem Tisch zukünftig auch noch ein Schrank stehen wird. Es reicht ihm, den Kunden Sofas und Tische zu empfehlen; er will nicht wissen, was Müllers und Meiers am Tisch zum Frühstück essen. So ähnlich geht es Zahnärzten, Autotechnikern, Gärtnern und eben auch Richtern. Sie können (und dürfen) sich nicht in tausend Fälle "einfühlen", als seien die Täter und Opfer ihre eigenen Familienangehörigen. 

Die "Beweiswürdigungen", die von Lesern, Zuschauern, Hörern nachträglich anhand von Medienberichten vorgenommen werden, sind - so leid es mir tut, das sagen zu müssen - in der Regel ohne inhaltlichen Wert und Bedeutung. Das ist kein Vorwurf; es betrifft genauso meine eigenen "Würdigungen", die ich bei Lektüre der Zeitung vornehme.

Wer die Beweiserhebung nicht erlebt hat und die Beweisergebnisse nicht kennt, hat keine Ahnung; das ist halt so. Dazu werden die Sachverhalte dann noch von mehr oder minder informierten, sachkundigen Journalisten zusammengeschrieben, nach Medien-spezifischen Gesichtspunkten aufgearbeitet und mit - ausdrücklichen oder impliziten - Wertungen angereichert. Heraus kommt alles Mögliche, aber keine "objektive" Wiedergabe, die einem ein eigenes Urteil aus der Ferne ermöglichen könnte. Besonders verbreitet sind allgemeine Mutmaßungen, Verdammungen oder pauschales "Meinen", wenn es um schwere (Gewalt-)Delikte geht und wenn hochspezifische Tatmotive, psychologische Sachverhalte oder Abweichungen vom "Normalen" inmitten stehen: Da erwacht in besonders vielen Lesern der eigene Detektiv, Psychiater und Rechtsgelehrte, meistens in Zusammenarbeit mit dem "gesunden Menschenverstand". Dann wird's gefährlich.

Rechtsfragen
Strafe setzt Schuld voraus. Das ist ein banal klingender Satz, der allerdings historisch und rechtspolitisch nicht selbstverständlich ist. Das europäische Abendland hat 1800 Jahre dafür gebraucht, ihn zu entwickeln. Schuld ist "Verantwortung", und zwar nicht im Sinn von Kausalität (Ursache) und nicht im Sinn von "Dabei gewesen" (Sippenhaft; Blutrache; Zugehörigkeit zu einer Gruppe), sondern von persönlichen "Vertretenmüssens". Der Täter muss für die Handlung und/oder den Schadenserfolg persönlich verantwortlich sein. Das geht nur, wenn er auch eine innere ("subjektive") Beziehung zur Tat hat: Wer gar nicht weiß, dass er irgendwas tut oder unterlässt, kann auch nicht "schuldig" sein.

Etwas komplizierter wird es, wenn der Täter zwar weiß oder wissen kann, dass er handelt und was die Folgen seines Handelns sind, er aber die Bedeutung nicht richtig erkennt. Beispiel ist der kompliziert klingende Begriff der "Putativnotwehr" (spektakulärer Beispielsfall: Tötung eines SEK-Beamten durch einen "Hells Angel" im März 2010; Freispruch durch den BGH im November 2011 wegen "Putativnotwehr"), der aber nicht wirklich schwierig ist: Notwehr ist die erforderliche Verteidigung gegen einen rechtswidrigen (!) Angriff. Wer angegriffen wird, darf den Angreifer verletzen, um den Angriff abzuwehren. Wer sich den Angriff nur einbildet, "darf" das natürlich nicht: Wer irrtümlich meint, der Kellner wolle ihn mit dem Tranchiermesser erstechen, darf nicht den ahnungslosen Kellner zusammenschlagen. Wenn er sich aber irrt, ist er im Irrtum über die Voraussetzungen der Notwehr. Das wird so behandelt, als ob er im Irrtum drüber sei, dass er einen Menschen (und nicht eine Schaufensterpuppe) vor sich hat: Es fehlt ihm der "Vorsatz" zur Rechtswidrigkeit. Er kann aber wegen "fahrlässiger Körperverletzung" bestraft werden, wenn er den Irrtum vermeiden konnte.

Anders liegt die Sache, wenn der Täter nicht über Tatsachen irrt, sondern über rechtliche Grenzen: Wer meint, man dürfe auch schon mal "vorsorglich" Notwehr üben, damit der Kellner erst gar nicht auf dumme Gedanken kommt, ist nicht im Irrtum über Tatsachen, sondern über sein Recht. Das nennt man "Verbotsirrtum" (§ 17 StGB). Es ist sehr schwierig, auf diese Weise "schuldlos" zu sein, denn solche Irrtümer sind meistens leicht vermeidbar.

Jetzt noch ein ganz spezieller Irrtum: Wenn das Verkennen der Tatsachen oder des Rechts ganz oder überwiegend darauf beruht, dass der Täter eine psychische Störung aufweist, die ihm im Moment der Tat unmöglich machte, den Irrtum zu vermeiden, dann handelt er "ohne Schuld", und zwar nach der Spezialvorschrift des § 20 StGB. Die Störung kann ganz verschiedene Ursachen und Formen haben; es kommt aber im Ergebnis nur darauf an, wie sie sich ausgewirkt hat. Die verbreiteten, überwiegend ganz laienhaften Psychologisierungen und Diskussionen über Diagnosen sind zwangsläufig ohne Wert und eigentlich müßig, aber für die Menschen sehr spannend und aufregend, weil sie ja immer die Abgrenzungen zwischen Schuld und Unschuld, "normal" und "unnormal" und daher auch die Grenzen des eigenen Erlebens und Handelns betreffen: Strafprozess und Strafrecht ist stets zu einem großen Teil "symbolisch" im Sinn von stellvertretend, alle betreffend. Mit jedem Mordfall verhandelt die Gesellschaft auch stets darüber, was alle dürfen und welches Maß an Aggression tolerabel ist. "Normbestätigung" nennt man diesen Effekt des Strafens. Das "Du sollst nicht töten / stehlen/ vergewaltigen / rauben / betrügen" ist nicht von der "Natur" auf uns gekommen, sondern muss beständig neu begründet und bestätigt werden.

Ein völliges Verkennen des tatsächlich gegebenen Unrechts kann bei einer psychischen Störung vorliegen, wenn der Täter sich krankheitsbedingt einbildet, angegriffen oder mit dem Tod bedroht zu sein. In spektakulären Fällen kam es auch zu Gewalttaten wegen auf psychischen Störungen beruhenden Annahmen übersinnlicher Bedrohungen. (Beispiel: der berühmte "Katzenkönig-Fall", in dem ein Polizeibeamter (!) einen Menschen zu töten versuchte, nachdem ihm die mittelbaren Täter eingeredet hatten, ein außerirdischer "Katzenkönig" verlange ein "Menschenopfer". Merke: Es gibt im Strafrecht nichts, was es nicht gibt.)

Viel häufiger ist aber der Fall, dass eine psychische Störung sich auf die "Hemmschwelle" so auswirkt, dass eine Person dem Tatimpuls überhaupt nicht oder nur extrem eingeschränkt widerstehen kann. Wenn man einem schwer Heroinabhängigen auf Entzug die Möglichkeit gibt, durch Einfuhr von fünf Gramm Heroin an einen Druck zu kommen, wird er das mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent tun, anders als ein veganer Abstinenzler: Das heißt, das "Hemmungsvermögen" des Täters wird aufgrund seiner Suchterkrankung "erheblich eingeschränkt" oder sogar ganz aufgehoben sein. Er "kann nicht anders", obwohl er weiß, dass es verboten ist.

Das ist im Beispielsfall einfach, in vielen anderen Fällen sehr schwierig festzustellen und abzugrenzen. Es ist Gegenstand unzähliger Gutachten, Diskussionen, Kritiken, Besserwissereien und Erkenntnisse, und die Grenzen verändern sich, denn die Vorstellungen von psychischer Krankheit und die Anforderungen an die "normale" Selbstdisziplin verändern sich unter der Hand ständig. 

In unserem Fall aus Stuttgart meinte der Täter aufgrund einer chronifizierten paranoiden Schizophrenie, er könne sein Leben und seine Zwangsgedanken nur "in den Griff" bekommen, wenn er eingesperrt sei; daher müsse er eine Mordtat begehen. Ob man diese "Feststellungen" des Gerichts überzeugend findet oder nicht, ist (hier) ohne Belang: Wir wissen es jedenfalls nicht besser. Wenn es so war, konnte der Täter, so das Gericht, vielleicht dem Tatimpuls nicht widerstehen: Seine Fähigkeit, entsprechend seiner Einsicht in das Unrecht sich zu verhalten, war "mindestens erheblich eingeschränkt, vielleicht ganz aufgehoben" (§§ 20, 21 StGB).

Strafe und Maßregel
Wenn die Schuld "vielleicht" ganz entfallen war, muss ein Beschuldigter so behandelt werden, als sei das der Fall. Das ist eine Konsequenz des Zweifelssatzes. Dessen Anwendung ist hier allerdings ein bisschen vertrackt. Denn natürlich kann man jemanden, der im Auftrag von "Katzenkönigen" oder aus anderen Verrücktheiten mordend oder vergewaltigend durch die Welt zieht, nicht einfach nach Hause schicken. Er ist "gefährlich".

Für Fälle, in denen Schuld im Sinn von persönlicher Verantwortlichkeit nicht vorliegt oder nicht zugemutet werden kann - weil eben nicht, wie bis vor 200 Jahren angenommen, "Irre" und Verbrecher gleich sind -, sieht das Gesetz sogenannte Maßregeln der Besserung und Sicherung vor (§§ 61 ff. StGB). Sie enthalten Rechtsfolgen, die keine "Strafen" sind, weil ja keine Schuld besteht oder vorausgesetzt ist, sondern nur "Gefährlichkeit". Dabei ist Gefährlichkeit aber nicht gleichbedeutend mit der psychischen Störung: Schizophrenie als solche oder Alkoholismus sind Krankheiten, aber nicht stets Ursache einer erhöhten Gefahr für Dritte.

Anders, wenn sich die Gefährlichkeit in einer "Anlasstat" gezeigt hat: Betrunken einen Unfall verursacht, im Wahn einen Menschen erstochen, in psychisch gestörter rasender Angst oder unkontrollierbarer Wut andere verletzt. Dann wird der Täter von Schuld "freigesprochen", aber zu einer "Maßregel verurteilt. Das kann die Entziehung der Fahrerlaubnis sein (§ 69 StGB), eine milde Maßregel, die viele "anständige" Bürger kennen, aber auch sehr gravierende Eingriffe in die Freiheit: Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64) oder, als folgenreichste Maßregel, Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB). Das sind die sogenannten forensischen Abteilungen von Landeskrankenhäusern oder gesonderte "forensische Psychiatrien". Hier sind Personen untergebracht, die nicht zwangsläufig "gefährlicher" sind als Strafgefangene, aber jedenfalls "gefährlich", und die Taten ohne oder mit zumindest stark eingeschränkter Schuld begangen haben.

Die Maßregeln sind "zur Besserung oder Sicherung". Das berücksichtigt, dass man vieles, aber eben nicht alles "bessern" kann. Behandlung ist die erste Wahl, aber wenn eine Behandlung nicht möglich ist oder nicht zu einer substanziellen Verringerung der Gefahr führt, reicht der Zweck der "Sicherung" (der "Allgemeinheit") aus, um die Unterbringung anzuordnen und fortzusetzen - notfalls unbefristet bis zum Lebensende.

Das ist, wenn man es sich einmal überlegt, ein sehr gravierendes "Sonderopfer" für die Betroffenen. Denn sie haben ja keine "Schuld"; sie sind krank, nicht "schlecht". Trotzdem wird ihnen, wenn es sein muss, die gesamte Freiheit und jedes eigenständige Leben weggenommen, für immer und vor allem ohne bestimmbare Grenze: Wer ins psychiatrische Krankenhaus eingewiesen wird, weiß nicht, ob und wann er wieder herauskommt. Das hängt von Gutachten ab, die in Jahren oder Jahrzehnten erstattet werden, von Prognosen, deren Voraussetzungen sich ändern, von Wertungen, die im Lauf der Zeit anders vorgenommen werden. Wer heute wegen "Pädophilie" untergebracht wird, hat bestimmt wesentlich schlechtere Chancen auf Entlassung als vor 40 Jahren, auch wenn sich an der Neigung und Gefahrwahrscheinlichkeit gar nichts geändert hat.

Daher ist es grob falsch anzunehmen, ein "Freispruch mit Unterbringung nach § 63" sei eine Art "gut weggekommen", eine Wohltat oder eine Fahrkarte in einen fröhlichen Behandlungsvollzug. Viele, die einmal untergebracht waren, kämpfen verzweifelt darum, ins Gefängnis zu kommen und eine klar begrenzte Strafe absitzen zu können. Man muss nicht spektakuläre Sonderfälle oder mögliche Fehlentscheidungen heranziehen, um zu begreifen, dass "psychiatrisches Krankenhaus" nicht ein Ticket in die halbe Freiheit ist, sondern ganz das Gegenteil.

Insoweit und deshalb sollte man sich stets ein wenig zurückhalten mit Andeutungen und Vorstellungen von der "Gnade" oder "Milde" einer Unterbringung. Auch da kann man nur - fiktiv - anraten, sich einmal probehalber, zumindest in der Vorstellung, für einen Monat in eine forensische Abteilung zu begeben. Und sich zu überlegen, wie es sich anfühlte, dort 25 Jahre zu bleiben und "behandelt" zu werden. Und jede Weigerung mitzumachen ein Hinweis auf Behandlungsresistenz und fortbestehende Gefährlichkeit sein könnte. Kein Vergnügen!
[close]
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/strafrecht-rechtswidrig-ohne-schuld-kolumne-a-3f3843b4-78d3-40e4-b4c2-f3928b0ab23d
Merke: Es genügt natürlich nicht, dämlich zu sein. Es soll schon auch jeder davon wissen!

„Nur weil es Fakt ist, muß es noch lange nicht stimmen!“ (Nadine, unerkannte Philosophin)
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: Rolly, klimaschutz

Offline Reichsschlafschaf

  • Souverän
  • *
  • Beiträge: 20223
  • Dankeschön: 65305 mal
  • Karma: 630
  • Auszeichnungen Auszeichnung für 20000 Beiträge Auszeichnung für 15000 Beiträge Auszeichnung für 10000 Beiträge Sehr Wertvolle Beiträge! Bereits 1000 "Danke" erhalten! Auszeichnung für 750 Beiträge
    • Auszeichnungen
Re: Thomas Fischer
« Antwort #143 am: 24. Juli 2020, 16:19:58 »
Heute widmet sich unser Kolumnist dem Gefühl im Allgemeinen und den Gefühl der Öffentlichkeit im Besonderen.
Und dem Hochdruck.




Zitat
Der Fall Yves R.

Die Schauermär vom Schwarzwald-Räuber

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Im Schwarzwald bekämpften 2000 Polizisten eine überschaubare Gefahr. Welche Straftatbestände der "Waldrambo" verwirklicht haben soll, blieb bislang vage. Anlass für einen Blick ins Gesetzbuch.
Spoiler
24.07.2020, 12.01 Uhr

Beeren und Pilze
Der unheimliche Geselle, der am 17. Juli um 17.17 Uhr im Wald bei Oppenau festgenommen wurde, "ernährte sich von Beeren" während er fünf Tage lang auf der Flucht war. Dies erfuhren wir vom "Merkur" (22.7.), und es erregte die Aufmerksamkeit des Kolumnisten, der in seiner Kindheit zahlreiche Bücher gelesen hat, in denen "Beeren und Pilze" die einzige Nahrung bewunderter Helden der Wildnis waren. In den heimatlichen Fichtenwäldern erwies sich das Angebot an Beeren allerdings als derart mager, dass doch meist eine Hunger-Geschichte von Jack London nachempfunden werden musste. 

In Oppenau erklärte ein Polizeisprecher den Zuschauern: "Er saß im Gebüsch. Ob er sich verstecken wollte oder ob er dachte, ich habe keine Chance mehr, da versteck ich mich lieber, das wissen wir nicht." Hier prallen Alternativen aufeinander, die der kriminalistisch nicht geschulte Verstand eher für identisch halten möchte. Aber egal: Wenn es keine Probleme gibt, muss man halt welche erfinden. Jedenfalls ist die Polizei im Südwesten mit ihrem Problem-Waldmenschen schwer beschäftigt: "Die Ermittlungen laufen weiter auf Hochtouren" ("Merkur"), denn "auch fünf Tage nach der Festnahme des Pistolenräubers … sind noch viele Fragen zu seinem Verbleib nach der Flucht … offen" ("Südkurier", 21.7.). Der Leser weiß: Wenn Ermittlungen "auf Hochtouren" laufen oder gar "fieberhaft" verfolgt werden, bleibt kein Auge trocken, und die Fotos von vermummten "Elitepolizisten" im Unterholz erzeugen jenes Gefühl von polizeilicher Geborgenheit, das den Bürgern zuletzt ein wenig fehlte.

An der Suche nach dem als "Sonderling" bekannten Mann sollen zeitweise bis zu 2500 Polizeibeamte beteiligt gewesen sein; der Schwarzwald wurde tagelang durchkämmt, bis er dann "im Gebüsch saß", der Rambo. Das Gebüsch können Sie auf einem Foto in der "Bild"-Zeitung vom 18.7. besichtigen. Wenn man nicht per Überschrift erführe, dass "in diesem Gebüsch" der Waldmensch gesessen habe, könnte man die abgebildete Vegetation für einen schwarzwaldtypischen Nadelbaumbestand ohne einen einzigen Busch halten. Fichte oder Tanne, Hauptsache Laubbaum, sagt sich der "Bild"-Fotograf, der wahrscheinlich schon ganz andere extrem originale Schauplätze gesehen hat. 

Ausgangspunkt des Dramas war ein "Pistolenraub" genanntes Ereignis am 12. Juli: Der Beschuldigte hatte im Wald eine Hütte aufgebrochen und hielt sich dort unerlaubt auf. Er war wohl mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Nach Anzeige durch einen Privaten fuhren zwei Streifenwagen mit jeweils zwei Schutzpolizisten zu der Hütte, um die Sache zu prüfen. Sie stießen auf den Beschuldigten. Dieser bedrohte einen der Beamten mit einer Schreckschusspistole und forderte die Polizeibeamten auf, ihre Dienstwaffen auf den Boden zu legen und sich zu entfernen. Dann floh er unter Mitnahme der vier Pistolen, die er auch bei seiner Festnahme noch bei sich führte.

Wir wollen an dieser Stelle der Lebens- und Vor-Fall-Geschichte des Herrn Yves R. aus Oppenau nicht weiter nachspüren. Ich habe keinen Zweifel, dass in dieser Sache niemand im Umkreis von 20 Kilometern unbefragt und dazu keine Frage offen bleiben wird. Erste Eindrücke vermittelt ein "Bild"-Film vom 22.7., in dem der Schwiegervater einer Frau, die den Beschuldigten auf der Straße wandern sah, beim Traktorfahren gezeigt wird. Der Schwiegervater zeigt uns überdies das Gebüsch, vor welchem er stand, als er den Wandersmann von fern erblickte.

Gegenstand der heutigen Kolumne ist aber nicht die Rambo-Jagd im Schwarzwald; sie wird hier nur als Aufmerksamkeitsköder verwendet. Und dies trotz spannungsgeladener Fragestellungen wie der des "Südkuriers":

Spekulationen gibt es auch weiterhin darüber, welche reale Gefahr tatsächlich während der fünftägigen Flucht von dem schwer bewaffneten Mann für die Bevölkerung und die Beamten ausging. In der Bevölkerung von Oppenau gab es widersprüchliche Aussagen dazu. Sie reichten von 'völlig harmlos' bis zur Einschätzung 'dem trau ich alles zu'." ("Südkurier")

Dass sich "reale tatsächliche" Gefahr anhand von "Aussagen der Bevölkerung" ermitteln lasse und diese "widersprüchlich" seien, wenn eine Person einmal für harmlos gehalten und ihr ein anderes mal "alles zugetraut" wird, ist bemerkenswert. Eine Art Sinn ergibt es allerdings nur, wenn der Umstand, dass Teile der Bevölkerung einem Menschen "alles zutrauen", diesen "real gefährlich" machen würde. Eine Konstruktion, die sich ins Drehbuch schmiegt: "Waldrambo in Einzelhaft. Y. R. hat Zelle mit Waldblick" ("Bild", 20.7.).

Räuber im Wald
Noch interessanter hingegen war die Meldung, gegen den "Pistolenräuber" werde von der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Offenburg "wegen schwerer räuberischer Erpressung und unerlaubtem Waffenbesitz" ermittelt. So ein ganz besonderer Räuber weckt den Juristen im Juristen, der sich reflexhaft fragt, was es wohl bedeuten könnte. Wie schon in früheren Kolumnen erwähnt, bestehen das Recht überwiegend aus Kommunikation und die Gesetze überwiegend aus Worten. Diese haben, nicht anders als im Bäcker- oder Gärtnerwesen, vor allem die Aufgabe, verschiedene Gegenstände voneinander zu unterscheiden. Ob Sie "Brötchen", "Laugenstangen" oder "Himbeerschnitten" bestellen, macht einen Unterschied, selbst wenn Sie eine Woche lang nur Beeren gegessen haben. Und wenn Sie dem Gärtner sagen, er solle Rosen pflanzen, er Ihr Grundstück aber mit Löwenzahn verschönt, fühlen Sie sich missverstanden und lassen sich nicht mit dem Hinweis beruhigen, auf derlei Spitzfindigkeiten dürfe es nicht ankommen.   

Beim Strafgesetz kommt hinzu, dass für Regeln, die eine Strafbarkeit begründen können, das sogenannte "Bestimmtheitsgebot" gilt, das in Art. 103 Abs.2 GG und in § 1 StGB sowie in Art. 7 Abs. 1 MRK festgeschrieben ist. Es ist eines der heiligen Gebote des Rechtsstaats: Niemand darf aufgrund von Gesetzen zu Strafe verurteilt werden, die entweder zur Zeit seiner Handlung noch gar nicht galten oder in denen die strafbare Handlung so unscharf beschrieben ist, dass sich eine klare Grenze zwischen "erlaubt" und "verboten" nicht finden lässt. Beispielhaft ist an dieser Stelle stets § 2 des Reichsstrafgesetzbuchs in der Fassung von 1935 zu zitieren, der (auszugsweise) lautete: "Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die … nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient." Die Menschenrechtswidrigkeit einer solchen Bestimmung ist offenkundig.

Das Beispiel muss auch deshalb immer wieder zitiert werden, weil das Bundesverfassungsgericht, das die Vereinbarkeit von Strafgesetzen mit dem Bestimmtheitsgrundsatz letzten Endes zu prüfen hat, eine phänomenale Zurückhaltung bei der Anwendung des Art. 103 Abs. 2 GG übt -  aus "Respekt" vor dem Gesetzgeber, der sich vermutlich etwas Verfassungskonformes gedacht haben wird, auch wenn es nicht so aussieht. Außer ein paar "verfassungskonformen Auslegungen", z.B. des Begriffs der "Gewalt" (im Zusammenhang mit "Sitzblockaden"), fällt einem daher nicht viel Beispielmaterial zur (Un-)Bestimmtheit aus 70 Jahren Strafgesetzgebung ein. Und dies, obwohl der Vorwurf verfassungswidriger Unbestimmtheit in kaum einer der heute oft als Grundlagenwerke konzipierten strafrechtlichen Dissertationen fehlt und bei jedem neuen Gesetz so zuverlässig wie polyfon aus Rechtsanwaltschaft und Wissenschaft ertönt, um von einem Obersten Bundesgericht alsbald mit einem Dreizeiler erledigt zu werden.

Mit anderen Worten: Raub ist Raub und Diebstahl ist Diebstahl. Wäre es anders, bräuchte man die verschiedenen Wörter nicht, und auch nicht zwei verschiedene Tatbestände im StGB: § 242 (Diebstahl, 1 Monat bis 5 Jahre) und § 249 (Raub (1 bis 15 Jahre). Die Taten sind sich ähnlich: (1) Wegnehmen einer (2) fremden (3) beweglichen (4) Sache in der (5) Absicht, die Sache (6a) sich oder (6b) einer anderen Person (7) rechtswidrig (8) zuzueignen. Das sind acht Tatbestandsmerkmale – eine Menge zu prüfen, bevor auch nur der "objektive Tatbestand" feststeht.  Bei Diebstahl war's das dann. Was den Raub darüber hinaus auszeichnet, ist das Element der Nötigung, also des Zwangs. § 249 StGB lautet:

(1) Wer mit Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.

2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.

Das ist auf jeden Fall mehr als § 242 voraussetzt:

"Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Der Unterschied liegt im Merkmal der "Gewalt gegen eine Person" (nicht: gegen eine Sache) oder der "Drohung mit gegenwärtiger (!) Gefahr für Leib oder Leben (!). Wer nicht glaubt, dass dies auch in der Realität ein Unterschied ist, mag sich zwischen folgenden Varianten eines Abenteuers entscheiden:

Fall 1: Sie gehen durch die Stadt, kommen nach Hause und bemerken, dass Ihnen von einem Taschendieb Ihr Geldbeutel aus der Tasche entwendet wurde.

Fall 2: Sie gehen durch die Stadt, ein 100 kg schwerer Mann tritt auf Sie zu, schlägt ihnen mit der Faust ins Gesicht und nimmt, nachdem Sie benommen zu Boden gestürzt sind, den Geldbeutel aus Ihrer Tasche. Ich bin mir fast sicher vorhersagen zu können, für welche Variante Sie sich entscheiden. Das kommt nicht daher, dass der erste Fall "Diebstahl" heißt und der zweite Fall "Raub"; vielmehr ist es so, dass die beiden tatsächlichen Sachverhalte sich (schmerzhaft) unterscheiden und deshalb verschiedene Namen haben. Das zeigt sich auch in den krass unterschiedlichen Strafdrohungen (Mindeststrafe Diebstahl: 5 Tagessätze à 1 Euro; Raub: 1 Jahr Freiheitsstrafe).

Das ist unabhängig davon, ob im Geldbeutel im ersten Fall 10.000 Euro waren, im zweiten Fall 10 Euro. Wie schlimm oder unverschämt die Taten im Konkreten sind, wird bei der Strafzumessung berücksichtigt. Man darf die Ebenen von "Tatbestand" und Rechtsfolge nicht durcheinanderbringen. Ein BMW wird nicht dadurch zum Fiat, dass er langsam fährt und umgekehrt.

Das ist gar nicht so selbstverständlich, wie es klingt. Seit fünf Jahren wird der Kolumnist von "Empathie"-Fachleuten dafür beschimpft, dass er einmal in einer TV-Talkshow einer Ladeninhaberin, die von Trickdieben bestohlen worden war, mitteilte, es handle sich entgegen der notorischen Behauptung der Moderatorin nicht um "Ausrauben", sondern um Diebstahl, was ebenfalls schlimm, aber eben kein Raub sei. Wie kann man, so meinte des Volksempfindens Stimme, so herzlos sein! Das arme Opfer! Erst ausgeraubt und dann von Bundesrichtern verhöhnt! Es ist heutzutage verbreitet, (straf)rechtliche Sachverhalte nicht nur gefühlsmäßig aufzublasen, bis alles als gleich "entsetzlich", "unfassbar", "grauenhaft" und "traumatisierend" gilt, sondern auch die Sach- und Rechtsfragen selbst nur noch in einem Vokabular der Dauererregung darzustellen.

Das hat drei Motive und Effekte: Das Hineinsteigern in angeblich permanent hochtouriges Mitfühlen erzeugt ein angenehmes Gefühl des Dabeiseins und der Verbundenheit mit der Welt; die bloße Vorstellung von Opferleiden erlaubt durch Identifikation eine Strukturierung der Welt in fremde Aggression und eigene Opferstellung; schließlich schützt es davor, von Dritten wegen angeblichen Mangels an Emotionalität kritisiert zu werden. Es gilt daher weithin als ausgemacht, dass eine Leberkässemmel plus Salatblatt Begeisterung, jeder blöde Witz Freudentaumel und ein schiefer Blick eines Fremden tiefe Depression auslösen müssen.

Raub und Erpressung
Von Raub ist im Zusammenhang mit dem "Waldrambo" bei Polizei und Staatsanwaltschaft nicht die Rede, wohl aber von räuberischer Erpressung, sogar von schwerer. Was das ist, ist gar nicht so einfach zu verstehen; mit ein bisschen gesundem Menschenverstand kommt man da nicht sehr weit. Die meisten Bürger dürften diesen Tatbestand weder kennen noch seine vielfältigen Abgrenzungen, Varianten und Konsequenzen auch nur ansatzweise durchschauen. Das ist leider ein allgemeines, beklagenswertes Phänomen: Die Strafgesetze, die für alle gemacht sind und von allen befolgt werden sollen, sind vielfach so gemacht, dass sie von denen, die sie angehen, kaum verstanden werden (können).

Zunächst muss man klären, was "Erpressung" ist. Sie ist in § 253 StGB geregelt:

(1) Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.

Wer den Tatbestand aufmerksam liest, stellt fest, dass es hier nicht um "bewegliche Sachen", sondern um "Vermögen des Geschädigten" geht. Das ist nicht dasselbe, obwohl Sachen ein Teil des Vermögens sein können. Das Vermögen umfasst "alle geldwerten Gegenstände", also auch Rechte, Forderungen, Chancen usw. – alles, was sich "zu Geld machen lässt und für das es einen Markt gibt. Daher nimmt der BGH (m.E. zu Unrecht) an, dass auch der unrechtmäßige Rauschgiftbesitz eines BTM-Dealers zu seinem "Vermögen" zählt. (Aber das ist Stoff für eine andere Kolumne.)

Die Tatmittel des § 253 sind "Gewalt" (auch gegen Sachen) und "Drohung mit einem empfindlichen Übel". Das kann alles sein, was irgendwie "unangenehm" ist und dem Opfer nicht ohne Weiteres zumutbar ist. Beispiele: (falsche) Strafanzeige, Offenbarung von Geheimnissen, arbeitsrechtliche Konsequenzen, Kündigung von Verträgen, usw. Der Unterschied zwischen Raub und Erpressung ist, schlicht gesagt: Beim Raub wird vom Täter eine Sache weggenommen; bei der Erpressung wird vom Opfer ein Vermögensgegenstand herausgegeben. Die einfache Erpressung liegt also näher beim Betrug (§ 263: Herausgabe aufgrund von Täuschung) als beim Diebstahl.

Nun kommt § 255 StGB ins Spiel:

Wird die Erpressung durch Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben begangen, so ist der Täter gleich einem Räuber zu bestrafen.

Das ist die sogenannte "räuberische Erpressung": Tatmittel sind hier die Mittel des § 249 (Gewalt gegen Personen oder Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben). Dadurch wird die Tat zum Verbrechen; die Strafdrohung steigt von 1 Monat bis 5 Jahre auf 1 Jahr bis 15 Jahre. Und weil der räuberische Erpresser "gleich einem Räuber" bestraft wird, gelten für ihn auch alle Erschwerungs- und Milderungsgründe des Raub-Tatbestands.

§ 250 ("schwerer Raub") lautet:

(1) Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn

1. der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub

a) eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt,

b) sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden,

c) eine andere Person durch die Tat in die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt oder

2. der Täter den Raub als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Raub oder Diebstahl verbunden hat, unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitglieds begeht.

(2) Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub

1. bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet,

2. in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 2 eine Waffe bei sich führt oder

3. eine andere Person

a) bei der Tat körperlich schwer misshandelt oder

b) durch die Tat in die Gefahr des Todes bringt.

(3) In minder schweren Fällen der Absätze 1 und 2 ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.

Ich weiß: Das ist etwas unübersichtlich und nicht wirklich unterhaltsam. Aber wer über Raub und schweren Raub mitreden will, muss es lesen und verstehen. Das ist am Ende nicht schwierig; ich empfehle daher dringend, die Vorschrift ein- bis dreimal in Ruhe zu lesen.

In den Absätzen (1) und (2) sind zwei verschiedene Strafrahmen (3 bis 15 und 5 bis 15 Jahre) aufgeführt; ihnen sind verschiedene Tatvarianten zugeordnet. Dazu muss man sich noch den "Grundtatbestand" des § 249 denken (s.o.) - mit seinem Rahmen von 1 bis 15 Jahre. Für alle Tatbestände gibt's auch "minder schwere Fälle" mit niedrigerer Strafe.

Anwendung
Sicher ist: Ein "Pistolenräuber", wie einzelne Medien ihn nannten, ist der Beschuldigte von Oppenau nicht. Er hat nämlich keinesfalls "geraubt", sondern allenfalls "erpresst": Er hat ja nicht selbst aktiv etwas "weggenommen", sondern die Polizisten gezwungen, etwas herauszugeben.

Eine "schwere räuberische Erpressung", wie sie nach Ansicht der Staatsanwaltschaft vorliegen soll, setzt eine Erpressung nach § 253 StGB (hier: mittels Drohung) voraus, die nach § 255 StGB in einer Form des § 250 ("schwerer Raub") durchgeführt wurde. In § 250 besteht zwischen Abs. 1 und Abs. 2 noch einmal ein Strafrahmen-Sprung (Mindeststrafe von 3 Jahre auf 5 Jahre). Deshalb wird in der Rechtsprechung der Fall des Abs. 2 "besonders schwerer Raub" genannt, um die beiden Varianten zu unterscheiden.

Im Rambo-Fall kommt § 250 Abs. 2 Nr. 1 (Verwenden einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs) in Betracht, wenn die Schreckschusswaffe geladen war, Abs. 1 Nr. 1b, wenn sie ungeladen war. Wenn sich das nicht klären lässt und Zweifel bleiben (in dubio), muss man von Letzterem ausgehen.

Voraussetzung ist aber immer, dass überhaupt eine "Erpressung" nach § 253 vorlag. Der Tatbestand ist insoweit erfüllt, als es die Nötigung (Drohung mit empfindlichem Übel) und das Vermögen (Dienstpistolen als "geldwerte Gegenstände") angeht. Sehr fraglich ist aber, ob der Täter zum Tatzeitpunkt beabsichtigte, die Waffen "sich zuzueignen". Er müsste die Tat daher gerade zu dem Zweck begangen haben, sich die Waffen zu besorgen. Dafür spricht ausgesprochen wenig. Er wollte fliehen, dazu musste er die vier Polizisten entwaffnen. Was er getan hat, würde in jedem Action-Film als lustiger Gag beklatscht werden: Vier "Cops" lächerlich machen und in den Wald jagen - extrem cool und witzig, meint dazu der Kinofreund in der Regel.

Das Entwaffnen unter Drohung mit der Schreckschusspistole war in jedem Fall eine Nötigung (§ 240 StGB): zwingen zu einer Handlung mittels Drohung mit einem empfindlichen Übel. Eine Erpressung war es aber nur, wenn der Täter schon bei der Drohung vorhatte, sich die Pistolen anzueignen. Wenn es ihm erst später einfiel, die mitzunehmen, lag bei der Drohungshandlung keine "Absicht" im Sinn von § 253 vor. Dann ist in diesem Fall nur eine "Unterschlagung" gegeben (§ 246 StGB), die wie ein einfacher Diebstahl bestraft wird. Also: Ohne Bereicherungsabsicht ist die Strafdrohung wesentlich (!) geringer als mit: 5 Tage Geldstrafe bis 5 Jahre Freiheitsstrafe einerseits; 5 bis 15 Jahre andererseits. Eine Menge Zeit, ein riesiger Unterschied, eine das ganze Leben bestimmende Abwägungsentscheidung, die in der Lebenswirklichkeit nur an einer winzigen Kleinigkeit hängt: In welcher Sekunde entstand bei Y. E. R. der Vorsatz, die Pistolen mitzunehmen?   

Solche "Feinheiten", gern als "juristische Spitzfindigkeiten" verhöhnt, bestimmen die Realität des Strafverfahrens. Es kommt auf sie an - nicht weil Juristen zu dumm sind, Gefühle zu verstehen, oder zu kompliziert, um einfache Sachverhalte lebensnah zu denken. Sondern weil es in der unendlichen Vielzahl von Fallkonstellationen des Lebens eindeutige, klare Grenzen geben muss: Es ist entweder Sonntag oder Montag, entweder Tee oder Kaffee, entweder Erpressung oder Unterschlagung. Erst wenn man das geklärt hat, kann man mit dem Jammern und Klagen und Empören beginnen. Nicht umgekehrt.

Mal schauen, was die Staatsanwaltschaft und die Polizei in Offenburg noch alles "mit Hochdruck" ermitteln! Und was dann rauskommt.
[close]
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/oppenau-im-schwarzwald-und-der-fall-yves-r-erpressung-oder-so-kolumne-a-e831b997-9c8c-4781-aaf0-b3f698ed600c
Merke: Es genügt natürlich nicht, dämlich zu sein. Es soll schon auch jeder davon wissen!

„Nur weil es Fakt ist, muß es noch lange nicht stimmen!“ (Nadine, unerkannte Philosophin)
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: klimaschutz

dtx

  • Gast
Re: Thomas Fischer
« Antwort #144 am: 29. Juli 2020, 11:46:04 »
Heute widmet sich unser Kolumnist dem Gefühl im Allgemeinen und den Gefühl der Öffentlichkeit im Besonderen.
Und dem Hochdruck.

...

Es würde sich auch mal ein Blick über den Tellerrand lohnen um zu erkennen, daß die Spielregeln bei uns gar nicht so schlecht sind:

Zitat
...
Ist man erst mal in den Händen der [US-amerikanischen] Polizei, setzt eine Automatik ein, die meist ohne formelles Gerichtsverfahren mit dem Verlust von Wertsachen und einer jahrelangen Gefängnisstrafe endet, und daraus folgend mit lebenslangem Verlust des Wahlrechts, des Rechts auf einen Führerschein und auf Sozialleistungen.

Das überparteiliche PEW Research Center hat im Juni 2019 publiziert, dass im Jahr 2018 nur zwei Prozent aller Festgenommenen vor ein ordentliches Gericht kamen. 90 Prozent landeten nach einem Geständnis im Gefängnis. Acht Prozent kamen frei. Auf der Ebene der bundesstaatlichen Gerichtsbarkeit war die Rate derjenigen, die vor Gericht kamen, noch niedriger.

Zum Vergleich: Das Statistische Bundesamt meldet für 2018, dass in Deutschland 56,8 Prozent der Ermittlungsverfahren eingestellt wurden, 20 Prozent landeten vor Gericht, 23,3 Prozent der Verfahren wurden an andere Stellen weitergeleitet. Drei Prozent der Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren eröffnet worden war, wurden zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

...

und

Zitat
...
Ein Schuldeingeständnis ist in den USA ein endgültiger Beweis

Das gelingt am einfachsten und besten durch „deal bargaining“, dem Aushandeln von Abmachungen. Dem Festgehaltenen werden die höchstmöglichen Anschuldigungen mit den dafür maximal denkbaren Höchststrafen präsentiert. Dann erfolgt das Angebot, sich zu einem Teil dieser Anschuldigungen schuldig zu bekennen und so mit einer geringeren Gefängnisstrafe davon zu kommen.

Die meisten Beschuldigten gehen darauf ein, auch weil ein Verfahren vor einem Geschworenengericht mit der Gesamtheit der Beschuldigungen, meist zu hohen Strafen führt. Da in den USA, anders als in Deutschland, ein Schuldeingeständnis als endgültiger Beweis gilt, der keine weiteren Ermittlungen oder Verhandlungen mehr erforderlich macht, gehen 90 Prozent der Beschuldigten auf den Deal ein und landen gleich im Gefängnis.

Das Ergebnis ist eine der höchsten Strafgefangenenquoten pro 100 000 Einwohner auf der ganzen Welt: 2018 USA 655, Deutschland 75. Bei den 655 sind die Schwarzen weit überrepräsentiert. Ein großer Teil von ihnen könnte unschuldig einsitzen, weil sie etwas gestanden haben, nur um nicht noch länger ins Gefängnis zu müssen.

...

Bei uns müßte ein Geständnis genauso kritisch hinterfragt werden, wie eine Zeugenaussage. Schließlich darf niemand im Endeffekt dafür verurteilt werden, daß ihm sein Gedächtnis einen Streich gespielt hat.

https://www.tagesspiegel.de/politik/usa-die-schwarze-angst-vor-der-polizei-wenn-die-festnahme-zur-falle-wird/26035396.html
 

Offline Gerichtsreporter

  • Souverän
  • *
  • Beiträge: 9409
  • Dankeschön: 54033 mal
  • Karma: 830
  • Solidarität mit Israel
  • Auszeichnungen Auszeichnung für 7500 Beiträge Sehr Wertvolle Beiträge! Bereits 1000 "Danke" erhalten! Liefert Berichte von Reichsdeppenverfahren für das SonnenstaatlandSSL Der Träger dieses Abzeichens war im Außendienst! Beliebt! 50 positives Karma erhalten
    • Auszeichnungen
Re: Thomas Fischer
« Antwort #145 am: 29. Juli 2020, 12:21:49 »
Naja, der Tagesspiegelartiekl ist durch grobe Unkenntnis des amerikanischen Strafverfahrensrechtes geprägt, von daher wäre ich mit solchen Gleichsetzungen vorsichtig. In den USA ist es zum Beispiel deutlich schwieriger, überhaupt erst einmal angeklagt zu werden.

Über die Zulässigkeit der Anklageerhebung entscheidet dort die Grand Jury, wenn es um ein Verbrechen geht. Die haben  in dem Artikel indictment und arraignment zusammengewürfelt. Der plea bargain ist dann noch einmal eine andere Geschichte.

In den USA gibt es keine Verpflichtung für die Staatsanwaltschaft, Straftaten überhaupt anzuklagen. Anders als bei uns, wo jedes Offizialdelikt verfolgt werden muss. Anders als bei uns, wo Strafzumessung frei Schnauze passiert, ist das in den USA ein eigener Verfahrensschritt  mit sehr detailierten Vorgaben. Das wird da fast schon wissenschaftlich betrieben. Von daher funktioniert das im Artikel beschrieben "Die Staatsanwaltschaft fordert erst einmal die Maximalstrafe" gar nicht.

Es wird übrigens noch einen Zacken komplizierter. Die Staatsanwaltschaft kann sogar verbindliche Zusagen geben, bestimmte Straftaten nicht zu verfolgen. Im Ergebnis fällt dann das Aussageverweigerungsrecht des Verdächtigen weg. Das ist ein sehr starkes Druckmittel, weil so können Straftäter zu Aussagen gegen ihre Kumpane genötigt werden. Klingt erst einmal widersinnig, aber Verzicht auf Strafverfolgung kann manchmal ganz üble Folgen haben. Da bekennt sich manch einer lieber schuldig bevor er in Verdacht kommt, ein Spitzel zu sein.

Für den Tagesspiegel-Artikel gilt daher: Wer keine Ahnung hat, einfach mal Fresse halten. Amerikanisches Strafverfahrensrecht lernt man nicht aus John Grisham Verfilmungen.

Edith ergänzt noch eine Literaturempfehlung für Leute, die sich da mal einlesen wollen (oder im Tagesspiegel darüber schreiben)
https://www.amazon.com/American-Criminal-Justice-Frederick-Davis/dp/1108717470

Der Autor hat als amerikanischer Jurist auch in Europa gelehrt. Der weiß daher um die Fehlvorstellungen, die Leute in der Alten Welt so vom Rechtssystem der Neuen Welt haben.
« Letzte Änderung: 29. Juli 2020, 12:37:57 von Gerichtsreporter »
Frei nach Loriot: Ein Leben ohne Hut-Mops ist möglich - aber sinnlos.
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: Sandmännchen, Morris, Neubuerger, Wildente, califix, klimaschutz

dtx

  • Gast
Re: Thomas Fischer
« Antwort #146 am: 29. Juli 2020, 14:43:13 »
...
In den USA gibt es keine Verpflichtung für die Staatsanwaltschaft, Straftaten überhaupt anzuklagen. Anders als bei uns, wo jedes Offizialdelikt verfolgt werden muss.

...

Theorie und Praxis hat. In letzterer erweisen sich bei uns die Justizbehörden als den Ländern nicht wichtig genug, als daß sie die nötigen Mittel erhielten, um Offizialdelikte dann auch nur einigermaßen zeitnah bearbeiten zu können. Stellt man die Anklageschrift in letzter Minute zu, um die Sache grade noch so vor der Verjährung zu retten, hat sich das mit "erzieherischer Wirkung".

...
Anders als bei uns, wo Strafzumessung frei Schnauze passiert, ist das in den USA ein eigener Verfahrensschritt  mit sehr detailierten Vorgaben. Das wird da fast schon wissenschaftlich betrieben. Von daher funktioniert das im Artikel beschrieben "Die Staatsanwaltschaft fordert erst einmal die Maximalstrafe" gar nicht.

...

Wikipedia schreibt in dem von Dir verlinkten Artikel:

Zitat
The United States Federal Sentencing Guidelines are rules that set out a uniform policy for sentencing individuals and organizations convicted of felonies and serious (Class A) misdemeanors[1] in the United States federal courts system. The Guidelines do not apply to less serious misdemeanors.[2]

Although the Guidelines were initially styled as mandatory, the US Supreme Court's 2005 decision in United States v. Booker held that the Guidelines, as originally constituted, violated the Sixth Amendment right to trial by jury, and the remedy chosen was to excise those provisions of the law establishing the Guidelines as mandatory. After Booker and other Supreme Court cases, such as Blakely v. Washington (2004), the Guidelines are now considered advisory only. Federal judges (state judges are not affected by the Guidelines) must calculate the guidelines and consider them when determining a sentence, but are not required to issue sentences within the guidelines.

...

Diese Richtlinien banden demnach von jeher nur die Bundesgerichte. Und seit 2005 auch die nicht mehr wirklich.

...
Es wird übrigens noch einen Zacken komplizierter. Die Staatsanwaltschaft kann sogar verbindliche Zusagen geben, bestimmte Straftaten nicht zu verfolgen. Im Ergebnis fällt dann das Aussageverweigerungsrecht des Verdächtigen weg. Das ist ein sehr starkes Druckmittel, weil so können Straftäter zu Aussagen gegen ihre Kumpane genötigt werden. Klingt erst einmal widersinnig, aber Verzicht auf Strafverfolgung kann manchmal ganz üble Folgen haben. Da bekennt sich manch einer lieber schuldig bevor er in Verdacht kommt, ein Spitzel zu sein.

...

Sofern man davon ausgeht, daß die Leute in ihrem Milieu verhaftet bleiben (wollen), hast Du wohl Recht. Es gibt aber auch bei uns Kronzeugenregelungen. Und Kleinganoven, die ihre Kumpane verpfeifen (wie fragwürdig ihre Motivation dazu auch sein möge), kriegen das mit ansehnlichen Nachlässen honoriert.

...
Für den Tagesspiegel-Artikel gilt daher: Wer keine Ahnung hat, einfach mal Fresse halten. Amerikanisches Strafverfahrensrecht lernt man nicht aus John Grisham Verfilmungen.

...

Die grundsätzlichen Aussagen, die ja auch statistisch untermauert wurden, können abseits tatsächlicher Unwissenheit selbst in wesentlichen Details nicht so falsch sein.

Die betreffen zum einen die Frage, weshalb sich dort so viel mehr Leute einer Festnahme widersetzen (und weshalb es einige Polizisten scheinbar nicht mal mehr zur Kenntnis nehmen, wenn es einer nicht tut). Zum anderen die Tatsache, daß man hierzulande nicht ohne richterliche Mitwirkung in Haft wandert, schon gar nicht in Strafhaft. Die deutsche StA kann mittels Strafbefehl maximal Bewährungsstrafen ausloben und das auch nur, wenn der Beschuldigte einen Strafverteidiger hat. Über den Widerruf der Bewährung entscheidet dann ein Gericht ...
« Letzte Änderung: 29. Juli 2020, 14:45:15 von dtx »
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: Morris

Offline Gerichtsreporter

  • Souverän
  • *
  • Beiträge: 9409
  • Dankeschön: 54033 mal
  • Karma: 830
  • Solidarität mit Israel
  • Auszeichnungen Auszeichnung für 7500 Beiträge Sehr Wertvolle Beiträge! Bereits 1000 "Danke" erhalten! Liefert Berichte von Reichsdeppenverfahren für das SonnenstaatlandSSL Der Träger dieses Abzeichens war im Außendienst! Beliebt! 50 positives Karma erhalten
    • Auszeichnungen
Re: Thomas Fischer
« Antwort #147 am: 29. Juli 2020, 15:46:36 »
Diese Richtlinien banden demnach von jeher nur die Bundesgerichte.
Natürlich, wen sollten Bundesregelungen den sonst binden? Die Bundesrecht bricht Landesrecht Regelung gibt es in den USA nicht. Da hat jeder Bundesstaat seine eigene Tabelle, die die Gerichte des jeweiligen Staates binden. Gebunden ist der Richter eh nicht. Strafzumessung ist dort eine eigene Verhandlung. Dazu wird zunächst ein Gutachten erstellt, welches anhand der Sentencing Guidelines eine Strafzumessung vorschlägt. In der Verhandlung versucht dann der Staat/das Volk, je nachdem wie die Staatsanwaltschaft in dem jeweiligen Bunesstaat heißt, darzulegen, warum die Strafe zu niedrig ist. Da werden dann weinende Angehörige und Freunde des Opfers vernommen/vorgeführt, die beschreiben wie sehr die Straftat in ihr Leben/das Leben des Opfers eingegriffen hat.

Die Verteidigung bietet dagegen Oma/Pfarrer/Grundschullehrerin des Täters auf, die beschreiben was für ein guter Charakter er doch ist und wie sehr sich der Täter seit der Tat gebessert hat. Eine so hohe Strafe würde das alles zerstören. Dann sagt der Richter, dass er dem Gutachten folgt. Dumm ist es nur, wenn der Täter die ganze Zeit grinsend dagesessen hat. Dann gibt es doch einen Nachschlag.

Die grundsätzlichen Aussagen, die ja auch statistisch untermauert wurden, können abseits tatsächlicher Unwissenheit selbst in wesentlichen Details nicht so falsch sein.
Prüfe selber, hier ist die Original-Arbeit: https://www.pewresearch.org/fact-tank/2019/06/11/only-2-of-federal-criminal-defendants-go-to-trial-and-most-who-do-are-found-guilty/
Da ist die Aussage eher, dass es nichts bringt vor die Jury zu gehen, weil man eh verurteilt wird. Also kann man sich auch gleich schuldig bekennen.

Hier die Zahlen: https://www.uscourts.gov/sites/default/files/data_tables/jb_d4_0930.2018.pdf

Die betreffen zum einen die Frage, weshalb sich dort so viel mehr Leute einer Festnahme widersetzen
Das ist die interessantere Frage. Ich sehe einen Grund darin, dass dort Polizisten alleine auf Streife sind. Da sehen viele die Chance als höher an. Außerdem ist es in den USA leichter unterzutauchen, weil es kein Meldewesen gibt. Wenn Du dem Polizisten entkommen bist, dann bist Du ihm entkommen. In Deutschland verfolgt der Dich gar nicht, wenn er Deinen Namen hat. Der Polizist guckt in den Computer und ehe Du zuhause bist, steht dort schon die Polizei.

Anderer Grund ist, dass Leute auf Bewährung wissen, dass sie länger eingebuchtet werden, wenn sie mit Alkohol, Drogen, einer Waffe oder zusammen mit den falschen Leuten erwischt werden. Weil sie damit gegen ihre Bewährungsauflagen verstoßen haben.
Beispiel: Fund von einem Joint bei einem Vorbestraften -> Knast
Fund von einem Joint bei einem Unbestraften -> Strafzettel

Von den three strikes gar nicht erst zu reden. Ab der zweiten Verurteilung werden die Leute daher alles versuchen, einer weiteren Verhaftung zu entgehen (außer zukünftig keine Straftaten mehr zu begehen, versteht sich).

Weiterer Grund: Die Kaution. Der Kautionsvermittler nimmt 10 % Gebühr, die kriegst Du selbst dann nicht erstattet, wenn Du freigesprochen wirst. Eine Verhaftung geht also richtig ins Geld.

Zum anderen die Tatsache, daß man hierzulande nicht ohne richterliche Mitwirkung in Haft wandert, schon gar nicht in Strafhaft.
Das ist in den USA auch nicht anders. Auch ein plea bargain muss von einem Richter abgesegnet werden. Es gibt nur keine Verhandlung. Um aber erst einmal so weit zu kommen, hast Du indictment und arraignment gehabt. Beim indictment ist zwar kein Richter beteiligt, aber eine Jury. Beim arraignment ist es zumindest ein magistrate, wenn auch kein judge.

Der einzige Unterschied ist, dass Du in den USA wirklich erst einmal in den Knast kommst, wenn Du verhafet wurdest. Nicht so wie bei uns, wo Deine Personalien festgestellt werden und dann darfst Du gehen. In den USA bist du mit einer Nacht im jail dabei, außer der magistrate bietet einen Nachtdienst an.

Einen wirklich großen Vorteil in den USA sehe ich in den gesetzlich festgelegten kurzen Zeiträumen. Da wird zügig entschieden, ob Anklage erhoben wird oder nicht. Da wird nicht jahrelang "ermittelt" (die Akte kompostiert irgendwo) und erst dann geht es vor Gericht. Da hast Du innerhalb von 60 bis 90 Tagen Deine Verhandlung.
« Letzte Änderung: 29. Juli 2020, 15:49:45 von Gerichtsreporter »
Frei nach Loriot: Ein Leben ohne Hut-Mops ist möglich - aber sinnlos.
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: Morris, klimaschutz

Offline Reichsschlafschaf

  • Souverän
  • *
  • Beiträge: 20223
  • Dankeschön: 65305 mal
  • Karma: 630
  • Auszeichnungen Auszeichnung für 20000 Beiträge Auszeichnung für 15000 Beiträge Auszeichnung für 10000 Beiträge Sehr Wertvolle Beiträge! Bereits 1000 "Danke" erhalten! Auszeichnung für 750 Beiträge
    • Auszeichnungen
Re: Thomas Fischer
« Antwort #148 am: 29. Juli 2020, 16:03:11 »
Naja, der Tagesspiegelartiekl ist durch grobe Unkenntnis des amerikanischen Strafverfahrensrechtes geprägt


Das aber bitte nicht dem Tagesspiegel mitteilen!

Wenn man auf Fehler hinweist oder nachfragt, wird man geblockt.

Kritik mag man beim Tagesspiegel eher nicht.
Merke: Es genügt natürlich nicht, dämlich zu sein. Es soll schon auch jeder davon wissen!

„Nur weil es Fakt ist, muß es noch lange nicht stimmen!“ (Nadine, unerkannte Philosophin)
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: klimaschutz

Offline Gerichtsreporter

  • Souverän
  • *
  • Beiträge: 9409
  • Dankeschön: 54033 mal
  • Karma: 830
  • Solidarität mit Israel
  • Auszeichnungen Auszeichnung für 7500 Beiträge Sehr Wertvolle Beiträge! Bereits 1000 "Danke" erhalten! Liefert Berichte von Reichsdeppenverfahren für das SonnenstaatlandSSL Der Träger dieses Abzeichens war im Außendienst! Beliebt! 50 positives Karma erhalten
    • Auszeichnungen
Re: Thomas Fischer
« Antwort #149 am: 29. Juli 2020, 16:13:19 »
Wenn man auf Fehler hinweist oder nachfragt, wird man geblockt.
Unter dem Artikel kann man gar nicht kommentieren. Der Autor ist ehemaliger Professor für Sozialwissenschaften, da erwarte ich keine vertieften Rechtskenntnisse.
Frei nach Loriot: Ein Leben ohne Hut-Mops ist möglich - aber sinnlos.
 
Folgende Mitglieder bedankten sich: klimaschutz