Jeden Absatz habe ich genossen.
Spoiler
Ausgangssperren, Hausarrest, Stilllegungen. Nachrichten über Nachrichten, Fragen über Fragen - manche gut, die meisten purer Zeitvertreib.
Keine Prognose
Darf man für den 23. März 2020 eine Kolumne schreiben, die nichts mit der Epidemie zu tun hat? Na klar: Man darf schon, läuft aber Gefahr, dass niemand sie liest, weil alle kaum erwarten können, auch an dieser Stelle eine Prognose, eine Analyse, einen Vergleich oder zumindest einen Hinweis darauf zu erhalten, wie es bei uns wäre, wenn es hier so wäre wie in Italien, oder wie es in Amerika sein wird, wenn es dort ist wie in Iran, und so weiter. Bitte denken Sie nicht, dass ich einem sinnfreien kolumnistischen Zynismus verfallen bin. Tatsächlich finde ich die genannten Themen nämlich durchaus interessant, allerdings ist die Update-Häufigkeit etwas übertrieben.
Empathien
Das Bemühen des Nachrichten- und Infotainmentsektors hat in diesen Tagen etwas Rührendes. Zum einen imponiert die Empathie für den Zuschauer und Leser, die sich schon in der exzessiven Verwendung des Pronomens "Wir" andeutet. Wann je haben uns Intendanten und Regisseure, Chefredakteure und Vorstandssprecher derart aus der Nähe gesagt, dass wir ganz und gar zurückgeworfen seien auf das, was sie uns gewähren, und dass ihnen das von Herzen leid tue?
Das ist verbunden mit der anrührenden Erkenntnis, dass sich hinter Statements, Reportagen und Analysen ähnlich viel oder wenig Sachverstand verbirgt wie bei den Konsumenten: Eine "Börse vor Acht" ist eine schöne Sache: Zum Handelsbeginn schmierte der DAX ab, erholte sich mittags, brach am Nachmittag wieder ein und ging abends fester aus dem Markt. Ob er morgen husten wird, weiß man nicht, und die Börsenexperten sehen noch zauseliger aus als sonst und wissen nicht, ob sie nächste Woche noch da sind. Da keimt im Zuschauer der Verdacht, das sei vielleicht schon immer so gewesen, und man habe sie am Ende all die Jahre gar nicht mit der Auskunft behelligen müssen, dass auch der erfahrene Anleger keine Ahnung hat, wohin die Reise geht. Was aber für unseren DAX gilt, gilt auch für die Lebenserwartung der Kreuzfahrerinnen und die Versorgungslage beim Palmöl.
Schließlich ist noch festzustellen, dass die Presse einfach so ist, wie sie ist, und tut, was sie kann. Daher umgibt sich die Nachricht, dass die alte Welt zurzeit untergeht, mit Tröpfchennebel aus Alltagsthemen der Vergangenheit. Das erlaubt es, die News halbstündlich upzudaten, ohne immer nur die neuesten Zahlen des RKI wiederzugeben. Man kann zum Beispiel fragen, wie es den Friseuren mit dem Rasierverbot geht, und anschließend, wie es in Osnabrück mit dem Brötchenverkauf läuft.
Die Reflexe funktionieren noch, wenngleich auf niedrigem Niveau: So ist zum Beispiel die Differenz zwischen der täglichen Zahl des RKI und der täglichen Zahl der JHU Baltimore durchaus eine aggressive Frage beim Pressebriefing wert. Wir waren ja schließlich auf der Henri-Nannen-Schule! Zum Problem, ob man Mundschutzmasken gut gebrauchen könnte, wenn sie vorhanden wären, lassen sich ohne Weiteres verschiedene Theorien vertreten. Sie können zwar dahinstehen, weil ja gar keine Masken da sind, geben aber Gelegenheit, die spannenden Missverständnisse zu diskutieren, die bei ihrer Darstellung aufgetreten sind und die unbedingt "Widersprüche" genannt werden sollten, damit der Eindruck vermittelt wird, man sei einem echten Skandal auf der Spur. Wenn zum Beispiel das RKI mitteilt, in den Samstagszahlen seien Daten von solchen Gesundheitsämtern nicht enthalten, die am Wochenende nicht arbeiten, kann man melden, das RKI habe behauptet, die Wirrnis der Zahlen sei Folge eines Chaos bei den Gesundheitsämtern.
Nicht, dass es von praktischem Belang wäre - aber es ist beruhigend zu wissen, was man vielleicht gemacht hätte oder hätte machen können, wenn die Lage anders wäre als sie ist. Das ist viren-unspezifisch, und wer das nicht glaubt, setze sich an einem coronafreien Tag drei Stunden lang ins Wartezimmer seines Hausarztes oder in ein vollbesetztes Bahnabteil 1. Klasse und verfolge die Kommunikation darüber, welche Tabletten man hätte nehmen können, wenn man eine ganz andere Krankheit hätte, und welchen Zug man nicht hätte buchen wollen, selbst wenn man hätte verreisen wollen.
Heimelig sind Schlagzeilen darüber, was jemand "gemeint" oder "gesagt" habe. Armin Laschet zum Beispiel rechnet damit, dass die Krise noch einige Wochen lang dauern wird. Herr Minister Altmaier hat sich zuversichtlich geäußert, dass Deutschland die Krise überstehen werde. Julia Klöckner verlieh der Überzeugung Ausdruck, es sei genug für alle da. Und für autoritäre Charaktere: "Söder droht mit Ausgangssperre", ersatzweise: "Merkel schließt weitere Maßnahmen nicht aus." Das sind Nachrichten am Rande des Nichts, aber doch gerade deshalb irgendwie schön.
Natur und andere Gesetze
Eine Pandemie ist ein Ereignis, das nicht selten ist und dessen Wahrscheinlichkeit mit der Entwicklung der Zivilisation stark steigt. Ein Ebola-Ausbruch in Zentral-Kongo verläppert sich mit Glück durch annäherndes Aussterben der ortsansässigen Bevölkerung. In Berlin liefe das deutlich anders. Deshalb darf man über die Sterblichkeitsrate von Covid-19 sehr froh sein, auch wenn 0,7 Prozent von gut 60 Prozent der Weltbevölkerung immer noch 50 Millionen sind.
Man kann nicht sagen, wir hätten es nicht gewusst oder wissen können. Seit 25 Jahren teilen uns die Virologen mit, dass nicht das Ob einer katastrophalen Pandemie zweifelhaft sei, sondern allein das Wann. Das wurde intellektuell und emotional aber ebenso verarbeitet wie die Nachricht, dass ein großer Ausbruch des Vesuvs sowie der Einschlag eines Asteroiden auf der Welt nur eine Frage der Zeit seien. Solche Auskünfte vermag nämlich ein in zwei Millionen Jahren gereiftes Primatengehirn wie das menschliche nicht angemessen - sagen wir: auf dem Niveau eines Commodore-64-Rechners - zu verarbeiten, weil ihm das limbische System ständig ins Kalkulationsprogramm hineinpfuscht. Deshalb ja sind wir jedes Mal, wenn wir uns ins Auto setzen oder die heimischen Fenster putzen, fest davon überzeugt, dass wir den Tag ohne Querschnittslähmung zu Ende bringen werden - obwohl die Sache in Wahrheit ziemlich offen ist.
Jetzt also Ausgangsverbot. Grundlage ist § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (InSG):
"Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, (…) soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen; sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten (…)"
So geht das im Sicherheitsrecht: Generalklauseln, Sachzusammenhang, allgemeine Regeln; das Übrige regelt das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Das Treffen von Maßnahmen geschieht in Form sogenannter "Verwaltungsakte" (Anordnungen in einem konkreten Einzelfall gegenüber konkreten Personen; Beispiel: Platzverweis) oder durch sogenannte "Allgemeinverfügungen" (Anordnungen in Einzelfällen gegenüber unbestimmt vielen Menschen; Beispiel: Parkverbotsschild). Je unübersichtlicher eine Gefahrenlage und je abstrakter eine Anordnung, desto mehr kommt es darauf an, sie für den konkreten Fall handhabbar zu machen: durch Verständnis, Auslegung, Zielbestimmung, Operationalisierung, Handlung. Das gilt für Parkverbote wie für Dampfkochtöpfe und überhaupt im Leben.
Also bleiben wir im Grundsatz ganz gelassen, wenn wir in der Allgemeinverfügung des bayerischen Gesundheitsministeriums vom 20. März 2020 lesen:
"…4) Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt.
5) Triftige Gründe sind insbesondere:
• a) die Ausübung beruflicher Tätigkeiten,
• b) die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen (z. B. Arztbesuch, medizinische Behandlungen…) sowie der Besuch bei Angehörigen helfender Berufe, soweit dies medizinisch dringend erforderlich ist (z. B. Psycho- und Physiotherapeuten),
• c) bis g) …"
Kein Grund zur Aufgeregtheit! Jede Satzung eines Tennisvereins ist komplizierter, und die Hausordnung einer Eigentumswohnungsanlage garantiert 17-mal länger und nur von den allerbesten Rechtsanwälten zu verstehen, die zum Glück jeder Wohnungseigentümer aufgrund eines Tipps seines Schwagers engagiert hat.
Widerspruch
Zum Schluss noch ein trauriges Thema: Es ist dem Menschen, solange es ihm halbwegs gut geht, eingegeben, gegen Verfügungen der Obrigkeit zunächst einmal die Frage "Warum eigentlich" oder vielmehr: "Warum eigentlich ich?" zu erheben. Das ist an sich begrüßenswert, denn die Obrigkeit ist schließlich nicht per se die beste Freundin der Menschen. Andererseits neigt gerade der deutsche Mensch zwar zur hellen Freude an der Obrigkeit, wenn diese gegen andere vorgeht, aber zu starkem Misstrauen hinsichtlich der dabei obwaltenden Gerechtigkeit: Es treibt ihn der schreckliche Verdacht, es gehe allen anderen im Vergleich zu ihm viel zu gut. Wenn man sich diesen Charakterzug in 250 Jahren europäischer Migration antrainiert hat, geht er weder durch ein paar Viren noch gar durch bloßes Wollen weg.
Er verbindet sich vielmehr auf das zierlichste mit der Überzeugung, dass der deutsche Scharfsinn in der Welt unübertroffen und das Internet speziell zu seinem Triumph erfunden worden sei. Wir erleben daher parallel zur Explosion der Infektionszahlen eine Eruption der superkritischen Nachfragen, sinnbefreiten Zweifel und lustigen Fantasien. Ich meine damit nicht die knallharten Journalistenfragen an die Virologen von nah und fern, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn die Quarantäne schon vier Monate früher begonnen und Herr Spahn schon letztes Jahr 100 Millionen Ganzkörperanzüge gekauft hätte. Solche Fragen müssen sein, verkürzen die Wartezeit bis zur nächsten Nachrichtenausgabe und bereiten uns auf die Sondersendung über die Lage in Kasachstan vor.
Ich meine vielmehr die Ebene des gesunden Menschenverstands, wo Verbände, Gremien, Vorstände und E-Mail-Verteiler betrübt im Homeoffice sitzen und ihre jeweilige Klientel mit den Ergebnissen ihres Auslegungs-Scharfsinns verwöhnen. Sofortige Stilllegung aller Zahnarztpraxen! Unerhört, dass noch keine Verwaltungsvorschrift über die Erstattung der Kosten für die ausgefallene Schulspeisungszulage erlassen wurde! Wieso gibt es noch keine Formulare für die Beihilfeanträge quarantänebetroffener Lotto-Toto-Annahmen?
Die bayerische Psychotherapeutenkammer teilte ihren Mitgliedern am 20. März mit:
"(Aus Ziffer 4 und 5 Buchstabe b der Allgemeinverfügung) folgt, dass das Verlassen der Wohnung durch eine Patientin/einen Patienten zum persönlichen Aufsuchen einer psychotherapeutischen Praxis nur noch unter der Voraussetzung erlaubt ist, dass dieser Praxisbesuch 'medizinisch dringend erforderlich' ist… Psychotherapeut/innen müssen jetzt jeweils fachlich prüfen und abwägen, ob eine Präsenzsitzung in der Praxis dringend erforderlich ist. Dies ist in der Gesamtsituation eine zusätzliche erhebliche Verantwortung."
Da kann man nur sagen: Genau. Praxisbesuche sind geboten, wenn sie erforderlich sind. Ob sie erforderlich sind, hat der Therapeut zu prüfen. Diese Regelung ist weder überraschend noch belastend. Erstaunlich ist allenfalls, dass sie zwar Erforderlichkeit ausdrücklich voraussetzt, wenn es um Psychotherapien geht, nicht aber bei der sonstigen medizinischen Behandlung, also etwa dem Weglasern eines winzigen Leberflecks über dem linken Knöchel, und auch nicht bei den übrigen in Ziffer 5 a) bis g) der Allgemeinverfügung genannten Ausgangszwecken. Wir wollen aber mit dem eiligen Erlassverfasser nicht allzu kritisch sein, sind überzeugt, dass er es gut gemeint hat, und meinen deshalb, dass sich die Lösung aller erfundenen Probleme schon aus der verdrehten Formulierung selbst ergibt:
Wenn es regelmäßig "triftig" ist, zehnmal am Tag zum Briefkasten zu gehen, um berufliche Briefe einzuwerfen (Buchst. a), ist eine psychotherapeutische Sitzung zur Behandlung einer Depression oder eine physiotherapeutische Rehabilitationsmaßnahme nach Knieoperation allemal ebenso triftig. Sicher nicht dringlich sind dagegen die Durchführung einer Nackenmassage wegen Verspannung im Homeoffice oder die Erstberatung einer Geigenschülerin wegen leichter Tendenzen zur Prokrastination. Ob es "triftig" ist, viermal täglich den Schokoriegelvorrat aufzufüllen, darf jeder selbst entscheiden und gegebenenfalls mit der bayerischen Schutzpolizei diskutieren.
Entspannung
Also alles im grünen Bereich, könnte man also einmal vorschlagen zu sagen. Kein ernsthafter Grund, Aufregungen zu produzieren, die mit dem Ernst der Lage gar nichts zu tun haben, sondern nur eine Übertragung der gewohnten Alltags-Gschaftlhuberei in die Ausnahmesituation sind. Das erzeugt insoweit Vertrautheit, als scheinbar alles ist wie immer: Nichts funktioniert, ich bin von ♥♥♥en umgeben, Beamte sind faul und blöd, usw. Es erzeugt aber auch belastenden Zusatzstress, die lieb gewonnenen Kleinkariertheiten des Alltags in außeralltägliche Situationen mitzunehmen: Wenn der Vesuv ausbricht, kann doch die Frage, ob der Nachbar eigentlich den Müll richtig trennt, eigentlich mal eine Woche dahinstehen.
Daher an dieser Stelle kein weiterer Appell zur großen emotionalen Verschmelzung, kein Aufruf zum Tugendexzess, kein Trost für die angeblich unvorstellbare Zerrüttung der Nerven. Auch Ratschläge zur Traumabewältigung will ich mir vorerst versagen. Stattdessen nur ein staubtrockener Ratschlag eines Juristen: Versuchen Sie, ruhig und freundlich zu bleiben, den Zweck der Anordnungen zu verstehen und sich so zu verhalten, wie es Ihnen Ihre Vernunft sagt. Dann kriegen wir das hin.