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Spoiler
Treptow-Köpenick
Masern
Warum sind in einem Kiez im Südosten der Stadt besonders viele Kinder nicht geimpft? Die Suche führt in eine Kinderarztpraxis.
20.10.2019, 05:00
Ulrich Kraetzer und Martin Nejezchleba
Berlin. Fast hätte es der Junge nicht bis auf die Intensivstation geschafft. Das war im Februar 2015, zwei Tage, nachdem ein Kinderarzt Fieber und Hautausschlag festgestellt hatte. Das Herz stand still, der Kreislauf auch. Wiederbelebung. Dann wird er, ein Kitakind aus Reinickendorf, in die Kinderklinik der Charité verlegt, in einen graubraunen Betonkasten auf dem Virchow-Campus.
Die Ärzte verabreichen Adrenalin und ein Medikament gegen Herzschwäche. In einem Bericht, den später das Robert Koch Institut (RKI) veröffentlichen wird, schimmert Hoffnung zwischen medizinischen Wortungetümen. Verbesserung der Herzfunktionen, steht da, Blutdruckstabilisierung.
Der Junge hatte eine Vorerkrankung am Herzen. Er war geimpft – aber nicht gegen Masern. Sieben Tage nach dem ersten Fieberausbruch ist er tot. Er wurde 18 Monate alt.
Keine hundert Meter entfernt, in einem Labor des RKI, wird später das Virus typologisiert. Ergebnis: Es gehört zum Virusstamm „R8-Rostov-am-Don“. Und damit zum größten Masernausbruch in Berlin seit Einführung der Meldepflicht. 1329 Menschen waren erkrankt, Kinder mussten mit schweren Lungenentzündungen über Wochen im Krankenhaus behandelt werden.
„R8-Rostov-am-Don“ hat den Berlinern einiges in Erinnerung gerufen. Kleine Impflücken reichen aus, und das Virus findet seinen Weg, verbreitet sich, wird zur Epidemie. Die Symptome sind fast immer gravierend. Und: Bei einem von 1000 Patienten endet die Krankheit tödlich. Kurz: Die Masern sind alles andere als eine harmlose Kinderkrankheit.
Die Masern sind eine Krankheit der Paradoxe
Die Fakten sind seit langem bekannt. Aber die Masern sind eine Krankheit der Paradoxe. Eines geht so: Je entschlossener gegen das Virus gekämpft wird, desto harmloser wirkt es. Je seltener die Masern ausbrechen, desto öfter überdeckt Impfskepsis die Fakten.
Der Berliner Ausbruch hat die Politik wachgerüttelt. Das Ziel, zu dem sich die Gesundheitsministerkonferenz bereits 1998 verpflichtet hatte, war offensichtlich gescheitert: die Elimination der Masern bis 2015. Der „Nationale Aktionsplan 2015 bis 2020“ wurde aufgesetzt. Als Ziel nennt er die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO): 95 Prozent der Bevölkerung sollen zweimal gegen Masern geimpft sein. Auch das Land Berlin hat den Masern den Kampf angesagt, auf 24 Seiten mit dem Titel „Berliner Masern-Röteln-Eliminationsplan“. Er setzt Fristen: Bis Ende 2019 sollen bei der Einschulungsuntersuchung 95 Prozent der Kinder vollen Impfschutz nachweisen.
Das dürfte schwierig werden. Die aktuellsten Zahlen, sie stammen aus den Untersuchung für das Schuljahr 2017/18, weisen 92,6 Prozent aus. Das sind nur 0,4 Prozentpunkte mehr als zur Zeit des großen Ausbruchs.
Und es gibt große regionale Unterschiede. In manchen Kiezen lag die Impfrate fast zehn Prozentpunkte unter der Zielmarke. Da sind Frohnau und Hermsdorf mit 87,6 Prozent. Genauso wie im Osten Kreuzbergs, rund um den Görlitzer Park und das einstige SO36. Sorgen bereitet Virologen vor allem eine Region, die die Statistiker Treptow-Köpenick 5 nennen. Im Norden Köpenicks, Friedrichshagen und Rahnsdorf liegt die Rate 85,9 Prozent. Der niedrigste Wert in ganz Berlin.
„Diese regionalen Nester von Impfkritikern sind massiv gefährdet“, sagt Regine Heilbronn, die Leiterin des Instituts für Virologie der Charité. Martin Terhardt, Kinderarzt in Neukölln und seit 2011 Mitglied in der Ständigen Impfkommission (Stiko) des RKI sagt: „Solche Zahlen sind eine Katastrophe.“
Was sind Gründe für die Unterschiede in den Kiezen? Und warum klafft gerade in Köpenick eine Impflücke?
Die Suche nach Antworten führt zu ratlosen Stadträten, zu Verschwörungstheoretikern auf Lautsprecherwagen und zu Dr. Marcel Wille: Ein schlanker, nachdenklicher Mann mit schütterem Haar, der sich von Patienten dafür bezahlen lässt, dass er ihnen in seiner Praxis einen Raum für ihre Impfskepsis bietet – und ihre Kinder in Gefahr bringt. Aus rechtlichen Gründen wurde sein Name von der Redaktion geändert.
Eine Person kann mehr als zwölf weitere anstecken
Aber erstmal führt die Recherche an ein Elektronenmikroskop. Legt man eine präparierte Masernzelle darunter und vergrößert sie 98.000-mal, dann ergibt sich folgendes Bild: ein schwabbeliges Wattebällchen, mit kleinen Haarbüscheln auf der Oberfläche. Das Wattebällchen ist die Eiweißhülle, die die Erbinformation des Virus schützt.
Eine Person, die diesen Virus in sich trägt, kann mehr als zwölf weitere anstecken. Dafür kann es reichen, die Luft in einem Raum einzuatmen, den der Virusträger bis zu zwei Stunden zuvor verlassen hat. Die allermeisten werden wieder gesund.
„Der normale Verlauf ist eine schwere Erkrankung, Entzündungen von Lunge und Bindehäuten, mit Kreislaufbeschwerden“, sagt Virologin Heilbronn. Masern können Mittelohrentzündungen oder Bronchitis auslösen. Jeder Tausendste stirbt an einer Hirnhautentzündung – in manchen Entwicklungsländern sterben fünf Prozent. Gehörverlust und schwere Gehbehinderungen können Folgen sein. Und: Jeder Zehntausendste erkrankt erst fünf bis zehn Jahre später an der Hirnhautentzündung. Und stirbt innerhalb von Monaten.
Um all das zu verhindern, gelten die Impfempfehlungen der Stiko. Das ist laut eigenen Angaben ein unabhängiges Expertengremium des RKI. Der Bundesgerichtshof hat geurteilt: Was die Stiko vorgibt ist „medizinischer Standard“. Die Empfehlung in Sachen Masern lautet: Kitakinder frühestens ab dem 9. Monat, ansonsten zwischen dem 11. und 14. Monat impfen. Da diese bei bis zu zehn Prozent nicht anschlägt, ist die eine zweite Impfung vor dem zweiten Geburtstag wichtig.
Die Impfung ist wie ein Schutzschild
Man muss sich die Impfung wie einen Schutzschild vorstellen. Wenn es genügend davon in der Gesellschaft gibt, wenn die Angriffsflächen für den Virus so gering wie möglich sind, können auch Menschen ohne eigenes Schild abgeschirmt werden. Säuglinge etwa oder jene Wenigen, die wegen Allergien oder Immunschwächen den Impfstoff nicht vertragen. Der Anteil der Menschen mit Schutzschild, die gebraucht werden, um auch die Schutzlosen abzuschirmen, ist klar benannt: 95 Prozent. Nur dann werden die Übertragungswege gekappt, tritt ein, was die Mediziner Herdenimmunität nennen. „Wir alle tragen eine immense Verantwortung für die Menschen, die nicht geimpft werden können“, sagt Virologin Heilbronn.
Auch deshalb hat die Bundesregierung jetzt zu jenem Mittel gegriffen, das viele als die Ultima Ratio im Kampf gegen die Impflücken nennen. Sie will die gesetzliche Masernimpfpflicht einführen. Nur wer seine Kinder gemäß Stiko-Empfehlung schützt, kann sie in Kitas oder Schulen schicken. Bei Verstößen droht Bußgeld von bis zu 2500 Euro.
Mehr als tausend Impfgegner ziehen durch Berlin
Ein Septembersonnabend am Brandenburger Tor. Mehr als tausend Menschen mit orangefarbenen Luftballons laufen einem Lautsprecherwagen hinterher. Sie demonstrieren gegen das Gesetz zur Impfpflicht, das der Bundestag noch in diesem Jahr absegnen könnte. Zur Demonstration aufgerufen hat auch der als „Volkslehrer“ bekannte YouTuber Nikolai N., der den Reichsbürgern zugeordnet wird.
Auf der Bühne ist die Rede von einer neuen „Apartheid“ zwischen Geimpften und Nichtgeimpften, eine Ärztin für Homöopathie spricht. Für den Protestzug singt ein Musiker namens Wojna davon, dass die Nato in Afghanistan mit Uran schieße – und Deutschland sich am Völkermord beteilige. Schnell wird klar: Die Bewegung der Impfgegner versammelt Menschen aus unterschiedlichsten, teils politisch extremen Ecken – sie sind für einen demokratischen Diskurs kaum zu erreichen.
Experten sind sich einig: Diese Menschen sind nicht das Problem. Sie sind laut – aber auch ziemlich wenige. Das zeigt auch die hohe Impfquote bei der ersten Masernimpfung: Sie liegt in Berlin bei 97,2 Prozent. Viel problematischer sind jene, die zwar nicht den falschen Behauptungen glauben, Impfstoffe könnten Autismus auslösen. Die aber teils mit berechtigter Kritik auf die Pharmaindustrie blicken, die Masern als harmlose Kinderkrankheit verklären – oder den durchaus ambitionierten Impfkalender der Stiko einfach etwas nachlässiger abarbeiten.
In anderen Ländern führte die Impfpflicht zu Skepsis
Genau diese Eltern, das sagt der Impfexperte Martin Terhardt, könnte das geplante Gesetz auch abschrecken. Auch eine Befragung der Europäischen Union weist in diese Richtung: Gerade in Ländern mit Impfpflicht ist die Skepsis besonders hoch. Martin Terhardt appelliert an Gesundheitsämter und Kinderärzte: Klärt die Eltern auf, nehmt ihnen die Zweifel.
Nicht jeder scheint sich dieser Verantwortung bewusst. Anruf im Rathaus Reinickendorf. Fragt man Gesundheitsstadtrat Uwe Brockhausen (SPD) nach Gründen für die niedrige Impfrate in Frohnau, hört man Allgemeinplätze darüber, dass dort nun mal das gehobene Bildungsbürgertum wohne – das sei für Impfskepsis besonders empfänglich. Aber näher untersucht habe man die schlechte Impfrate nicht, erklärt der Stadtrat.
Zu den 87,6 Prozent in Kreuzberg-Ost lässt das örtliche Gesundheitsamt über die Bezirkssprecherin ausrichten: Gesicherte Erkenntnisse zu Gründen gebe es nicht, die Zahlen von 2017 seien möglicherweise überholt.
Und die Impflücke von Köpenick? Gudrun Schäfer leitet den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst im Bezirk. Sie sagt: „Ich war auch überrascht.“ Und versucht sich an Erklärungsansätzen: Seit Jahren zöge jene impfskeptische, bildungsbürgerliche Klientel in Ortsteile wie Friedrichshagen. Aber womöglich träfen sie dort auf einen Menschen, der ihre Skepsis teilt – oder sogar verstärkt.
Der Kinderarzt Dr. Wille hält Impfen nicht für nötig
Schäfer hat einen Verdacht. Es gebe da einen Arzt in Köpenick, er heiße, er sei toll im Umgang mit Kindern: Marcel Wille. Immer wieder würden Kinder, die bei ihm in Behandlung seien, beim Gesundheitsamt nachgeimpft – weil der Kinderarzt das ablehne. Manche Eltern seien verunsichert.
Sucht man auf einer Bewertungsseite für Ärzte nach Dr. Wille, stößt man auf 29 Bewertungen. Gesamtnote: 1,7. „Ein wunderbarer Kinderarzt, der individuell auf seine kleinen Patienten eingeht“, schreibt eine Nutzerin. Weiter unten steht unter der Überschrift „Der Beste!“: „Er akzeptiert meine Impfentscheidung, wo andere mit Empörung reagierten und mich daraufhin ablehnten.“
Auch andere loben ihn für seine Haltung zum Impfen, denn notwendig sei keine – was Dr. Wille „überzeugend“ darlege. Die wenigen negativen Bewertungen kritisieren fast ausnahmslos seinen homöopathischen Ansatz – und seine Impfberatung. In einem Kommentar steht, man müsse um Medikamente und Impfungen betteln.
Ein Gespräch mit der Morgenpost lehnte der Kinderarzt ab
Wer ist dieser Arzt? Und was sagt er zu diesen Vorwürfen? Schwer zu sagen. Eine Webseite seiner Praxis existiert nicht. Aber sie taucht auf einer Liste impfkritischer Ärzte in Deutschland auf. Nur: Ein Gespräch lehnt der Marcel Wille trotz mehrfachen telefonischen Anfragen ab. Auch Patienten wollen sich auf Anfrage der Berliner Morgenpost nicht äußern.
Telefonat mit Gudrun Schäfer vom Gesundheitsamt: Man habe die neuesten Einschulungsdaten von 2019 untersucht: – und neue Indizien für ihren Verdacht. 70 Prozent der Kinder im Bezirk, die nicht ausreichend geimpft sind, kommen aus dem Bereich Nord-Köpenick, Friedrichshagen, Rahnsdorf. Man habe noch nicht ganz ausgezählt, sagt Schäfer, aber die Zahlen seien eindeutig: „Von 69 Kindern ohne ausreichenden Impfschutz sind 52 bei Dr. Wille.“
Auch zu diesen Zahlen will sich der Kinderarzt nicht äußern. Also wählen wir einen anderen Weg – und bitten um eine Impfberatung. Die Sprechstundenhilfe gibt uns einen Termin abseits der Praxiszeiten. Die Termine fänden regelmäßig statt, sind über Monate ausgebucht und kosten 29,49 Euro. Nicht viel Geld, nur: Impfberatung ist eine Kassenleistung – und darf nur bei schriftlichem Einverständnis des Patienten privat abgerechnet werden. Die wird in Willes Praxis nicht eingefordert. Laut der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin müsse man das in einem Disziplinarverfahren prüfen. Mögliche Konsequenzen reichten von einer Verwarnung über Geldstrafen bis hin zu „einem Ruhen der Zulassung bis zu zwei Jahren.“
Seltsame Begegnung mit Kinderarzt Dr. Wille
Montagabend in der Kinderarztpraxis Dr. Wille. Die Wände zieren die obligatorischen Kinderbilder, hinter dem Holztresen nestelt die Sprechstundenhilfe an einem Handy herum. Dann öffnet sich die Tür des Arztzimmers. Dr. Wille bittet zur Impfberatung. Wie er helfen könne?
Was folgt, ist ein mehr als halbstündiges Gespräch, bei dem der Kinderarzt einen immer wieder prüfend mustern und sagen wird: Wenn die Impfpflicht komme, dann hätte sich das alles sowieso erübrigt. Fragt man ihn, ab welchem Alter er denn welche Impfung für das Kind als sinnvoll erachtet, schaut er einen mit festem Blick an, ernst, als hätte er die Frage zum ersten Mal gehört und müsste erstmal einen Moment darüber nachdenken. Ein Mann, so der Eindruck, der gerne viel sagen würde, sich aber nicht festlegen will.
Ein Arztzimmer mit viel Platz für Zweifel
Nach einigen impfskeptischen Anmerkungen des Vaters scheint es so: Wille ist kein radikaler Impfgegner. Die widerlegte Theorie, Impfungen könnten zu Autismus führen, sei Spekulation. Und ja, wer seine Kinder nicht gegen Masern schütze, gefährde andere. Aber immer wieder lässt er Platz für Zweifel, nährt sie mit unwissenschaftlichen Aussagen.
Eine zu frühe Impfung sei nicht sinnvoll. Da sich das Immunsystem langsam aufbaue, überwögen die Nebenwirkungen. Falsch, vergleicht man die Faktenlage laut RKI. Dabei verwendet Wille Argumente, die etwa nach Ansicht der Berliner Ärztekammer „allen nationalen und internationalen Empfehlungen widersprechen“ und „schlichtweg falsch und durch Fakten widerlegt“ sind.
Kinderarzt Wille argumentiert mit Halbwahrheiten und falschen Behauptungen
So sagt Wille, dass in Deutschland vor allem Erwachsene an Masern erkranken. Das stimmt – allerdings ist ihr Anteil an der Bevölkerung auch sehr viel größer. Bezieht man ein, wie stark die Altersgruppe in der Bevölkerung vertreten ist, dann sind Säuglinge am meisten gefährdet. Falsch ist Willes Behauptung, dass diese Erwachsenen zum Großteil geimpft sind. Daten des RKI sagen: 2018 waren 80 Prozent der Menschen mit Impfpass, die an Masern erkrankt sind, nicht geimpft.
Wille aber folgert aus seinem Gemisch aus Halbwahrheiten und falschen Behauptungen, dass ein zu frühes Impfen später für zu einem schlechteren Schutz führe. Laut RKI verringert späteres Impfen nicht die ohnehin sehr geringe Chance, dann noch im Erwachsenenalter zu erkranken.
Und, wann soll die Tochter, deren leeren Impfpass Dr. Wille in den Händen hält, zum zweiten Mal gegen Masern geimpft werden? Seine Empfehlung, sagt Wille: „Erst in der Pubertät.“
Eine spätere Anfrage zu seinen Aussagen lässt Wille unbeantwortet.
Am Ende bleibt die Frage: Wer stoppt Dr. Wille?
Zeigt man Jürgen Maske, Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Berlin, ein Gedächtnisprotokoll der Beratung, dann findet er deutliche Worte: „unverantwortlich“, „unsozial“ und „im Zweifelsfall gefährlich“ sei das. „Letztendlich“, heißt es aus dem Berufsverband, „müsse man so jemandem die Approbation entziehen.“ Zuständig sei die Ärztekammer. Die aber gibt sich deutlich reservierter. In Anbetracht der Recherchen der Berliner Morgenpost würde man „mit großer Wahrscheinlichkeit ein berufsrechtliches Ermittlungsverfahren“ einleiten. Dessen Ausgang hänge aber von zahlreichen Faktoren ab.
Der Berufsverband sieht diese Aussagen skeptisch: Zwar verstoße ein Arzt mit dieser Beratung gegen die Berufsordnung. Genauer: gegen seine Aufklärungspflicht. Aber Konsequenzen habe es in ähnlichen Fällen nie gegeben.
Und Marcel Wille ist nicht alleine. Ein Kinderarzt in Mitte verbreitet über den Verein für Anthroposophische Heilkunst „Gesundheit Aktiv“ Broschüren zur „individuellen Impfentscheidung“. Die Impfpflicht bezeichnet der Verein als „Gesundheitsdiktatur.“ Im Familienforum Havelhöhe in Kladow berät der anthroposophische Kinderarzt Christoph Meinecke unter dem Motto: „Impfen – was spricht dafür, was spricht dagegen?“ Szenen davon tauchen in Dokumentarfilmen und Artikeln auf. In einem wird der Meinecke mit dem Satz zitiert: „Mumps, Röteln und Masern sind im Kindesalter harmlos.“ Auf Anfrage der Berliner Morgenpost fühlt er sich falsch wiedergegeben, beschränkt das Wort harmlos auf die ersten beiden Krankheiten. Aber auch er sagt zum Thema Masern: „Unserer Meinung nach sollte die Zweitimpfung spätestens mit Beginn der Pubertät erfolgen.“
Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) sagt: „Ich appelliere an alle Kinderärztinnen und Kinderärzte in Berlin, die Kinder zu impfen.“ Aber reicht das? Zumindest ihr Masern-Eliminationsplan sieht mehr vor: Bei der Einschulungsuntersuchung gelte es, Impflücken zu identifizieren und zu schließen.
Stadtrat sieht die Ärztekammer zum Eingreifen in der Pflicht
Und warum schließt das Gesundheitsamt in Köpenick seine Impflücke nicht? Der zuständige Stadtrat Bernd Geschanowski (AfD) sagt, die Zahlen, die zur Praxis von Dr. Wille führen, müssten intern geprüft und auf Senatsebene mit den Gesamtdaten verglichen werden. Das sei frühestens im Frühjahr 2020 der Fall. „Zumindest kann ein Gesundheitsamt keine niedergelassenen ärztlichen Kollegen disziplinieren.“
Auch der Stadtrat sieht die Ärztekammer in der Pflicht. Bei der Einschulungsuntersuchung biete man Beratung an. Aber es sei „absolut kontraproduktiv, diesen so nachhaltig schönen Tag für die Kinder“ mit einer eventuellen Impfung zu belasten.
Am Ende scheint es, dass der Masernvirus „R8-Rostov-am-Don“ im Jahr 2015, die Berliner Epidemie und der Tod des 18-monatigen Jungen aus Reinickendorf nur für kurze Zeit aufgerüttelt haben. Wieviel ist schon eins zu 1000?