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Die Geschichte, die Tanja G. den Beamten des Polizeiabschnitts 65 in Berlin erzählt, ist die Geschichte eines Monsters. Sie handelt von einem 19-jährigen Flüchtling namens Hussein H. Und sie geht so: Tanja G. und Hussein H. sind seit acht Monaten ein Paar. Sie ist zehn Jahre älter als er. Sie lieben sich leidenschaftlich. Sie streiten sich laut. Doch am 13. September 2017 ist alles anders. Da ist Hussein H. plötzlich ganz still.
Tanja G. ist fast nackt, trägt nur einen BH, als Hussein H. seine Freundin aufs Sofa stößt. Er bindet ihre Hände mit einem Ladekabel zusammen und die Füße mit seinem Gürtel. Um ihren Mund wickelt er Leggings. Dann, so schildert sie es, holt er die Rasierklingen. Setzt an, schneidet tief in ihren Arm, setzt ab. Setzt wieder an, schneidet tief in ihren Oberschenkel, setzt wieder ab. Zehn Mal wiederholt er diese Bewegung. Hussein H. fährt mit seinen Fingern über die offenen Wunden, leckt das Blut ab und spuckt es ihr ins Gesicht. Du ♥♥♥, sagt er, du Stück Dreck. Mehr als eine halbe Stunde lang dauert es. Dann geht Hussein H. in die Küche und kommt mit Salz und einer Zitrone zurück, vermischt beides miteinander. Er reibt die Flüssigkeit in die offenen Wunden. Es brennt höllisch, sie schreit, er macht Fotos. Wie von einer Trophäe.
Tanja G. erzählt bei der Polizei, dass Hussein H. eifersüchtig gewesen sei, weil sie sich mit zwei Männern am Alexanderplatz getroffen habe. Dafür sollte sie bestraft werden. Es sei nicht das erste Mal gewesen. Ein halbes Jahr lang habe er ihr ständig ins Gesicht geschlagen, sie in ihrer Wohnung eingeschlossen, sie mit dem Tode bedroht. Einmal habe er versucht, ihr eine Brustwarze abzuschneiden. Hussein H. kommt im Oktober 2017 in Untersuchungshaft.
Für die AfD gibt es keinen besseren Zündstoff als einen sadistischen Flüchtling
Als der Prozess am 2. Mai 2018 vor dem Berliner Landgericht beginnt, veröffentlicht die Boulevardzeitung B.Z. einen Artikel mit der Überschrift: "Geliebte (30) sechs Monate lang gefesselt, geschnitten, gequält!" Wenige Tage später greift die AfD den Fall auf. "Widerwärtig: Iraker quält Frau bestialisch über ein halbes Jahr", postet die Partei auf ihrer Facebook-Seite. Mit Hussein H. habe Tanja G. "den Teufel in ihr Leben gelassen". Den Bürgern sei es nicht zumutbar, "den menschlichen Bodensatz aufzufangen".
Unter dem Text prangt ein Link zum AfD-Mitgliedsantrag. Der Beitrag wird mehr als 5700-mal geteilt, mehr als 1200 Nutzer kommentieren, die Politikerin Erika Steinbach schickt einen wütenden Smiley. Einer fordert: "Solcher Assiabschaum gehört aus dem Land gejagt." Ein anderer: "Der gehört entmannt und dann für immer eingesperrt bei täglich 12 Stunden harter Arbeit." Für die AfD könnte es keinen besseren Zündstoff geben als die Geschichte von Hussein H., dem sadistischen Flüchtling, der seine deutsche Freundin quält.
Allein: Die Geschichte stimmt nicht. Tanja G. hat sich das alles nur ausgedacht.
Der Fall Hussein H. ist ein Lehrstück über ein verunsichertes Land, in dem eine einzige – vermeintliche – Straftat eines Flüchtlings genügt, um einen Sturm maßlosen Hasses loszutreten. Und er ist die Geschichte eines jungen Mannes, der seine Heimat aus Angst vor dem Tod verlässt und sich in seinem neuen Zuhause in die falsche Frau verliebt.
Hussein H. knibbelt unablässig an seinen Fingernägeln. Sein rechter Fuß wippt so schnell auf und ab, als wolle er jeden Moment losrennen. Zehn Monate nach seiner Festnahme wegen einer Straftat, die er nie begangen hat, sitzt er in der Berliner Kanzlei seines Rechtsanwalts Clemens Hof und versucht zu verstehen, was da eigentlich passiert ist in diesem Land, von dem sie im Irak sagten, dort sei alles besser: die Menschen, die Jobs, das Leben.
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 38/2018. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
Das Leben im Irak, das sei immer nur Krieg gewesen, Terror, Zerstörung. So viele "schlimme Tage", an denen er das Haus nicht verlassen durfte. Wenn er dann doch mal vor die Tür kommt, besäuft er sich mit seinen Freunden. Whisky, Wodka, sie hätten halt vergessen wollen, sagt er. Bereits mit elf beginnt er auf dem Bau zu arbeiten und unterstützt seinen Vater bei der Viehzucht. Und dennoch, sagt er, habe er damals vor knapp drei Jahren nicht weggewollt. Da war ja dieses Mädchen, seine erste große Liebe. Doch diese Liebe durfte nicht sein. Als ihre Eltern erfuhren, dass die beiden miteinander geschlafen hatten, schworen sie Rache. Hussein sollte sterben. Der Vater drängte seinen ältesten Sohn, das Land zu verlassen, kratzte das letzte Geld zusammen, um einen Schleuser zu bezahlen, der den Jungen nach Europa bringen sollte.
Der Schutzlose will Beschützer sein
Über die Türkei, Griechenland und den Balkan gelangt Hussein H. im Herbst 2015 nach Deutschland. Nach fünf Tagen im Ankunftszentrum Halberstadt kommt er nach Berlin. 17 Jahre alt, allein, ohne ein Wort Deutsch in einer Stadt, die schon für jeden 17-jährigen Westfalen oder Franken eine Überforderung wäre. "Ich war sehr traurig und sehr happy", sagt Hussein H. Happy, endlich angekommen zu sein, traurig darüber, allein zu sein.
Er wird in einer Sammelunterkunft untergebracht. Der junge Iraker bräuchte dringend Unterstützung vom Jugendamt, bekommt sie aber nicht. Die Behörden sind am Limit. Er beginnt wieder zu saufen, an manchen Tagen neun Flaschen Bier, dazu einen halben Liter Wodka. Nachts tanzt er im SchwuZ in Neukölln oder in den Clubs rund ums Ostkreuz, nimmt Kokain und Speed. Um an Geld zu kommen, prostituiert er sich. Für ein paar Monate hat er eine Freundin, platonisch nur, sie tut ihm gut, lange Spaziergänge, etwas Konstanz. Doch dann verliert er sein Handy, ihre Nummer und damit die Freundschaft. Er sieht sie nie wieder. Hussein H. weiß nichts mit seinem Leben anzufangen.
In dieser Zeit, im Februar 2017, lernt er am Alexanderplatz über einen Bekannten die zehn Jahre ältere Tanja G. kennen, die genauso wenig mit ihrem Leben anzufangen weiß. Meistens trinken sie einfach. Sie sind noch gar nicht richtig zusammen, als sie ihn fragt: Warum lebst du in diesem scheußlichen Heim? Komm doch zu mir! Und Hussein H. kommt. Zwei Zimmer, Plattenbau in Treptow. Für ihn ein wunderschönes Zuhause. Das erste seit so langer Zeit.
Mit G. und H. finden zwei Ertrinkende zueinander, die sich gegenseitig festzuhalten versuchen und dabei gemeinsam untergehen. Sie ist arbeitslos, planlos und haltlos. Er auch. Wenn sie ihre Probleme nicht mehr aushält, verletzt sie sich selbst, "um Druck abzulassen", wie sie später gegenüber einer Rechtsmedizinerin der Charité zugeben wird. Wenn Hussein H. nicht mehr klarkommt, rennt er weg und kommt oft erst nach 48 Stunden zurück. "Ich habe dann immer getrunken und mich selbst geritzt, danach war mein Herz wieder ruhig."
Später, als Hussein H. in Untersuchungshaft sitzt, wird eine Psychiaterin bei ihm eine Borderline-Störung diagnostizieren. Menschen mit diesem Störungsbild sind oft impulsiv, emotional instabil, in ihrer Selbstwahrnehmung gestört. Viele Borderliner neigen dazu, sich selbst zu verletzen.
Obwohl er sicher war, dass Tanja G. ihn immer wieder betrog, so erzählt H., kam er jedes Mal zurück. Er habe diese Frau ja geliebt. "Sie hat das Gesicht eines Kindes, das mag ich." Er habe sie beschützen wollen, weil sie doch so viele Probleme gehabt habe. Der Schutzlose will Beschützer sein, es kann nicht gut gehen.
Auf seinen nächtlichen Touren gerät H. im Frühjahr und Sommer 2017 ins Visier der Berliner Polizei. Einmal tritt er im U-Bahnhof Alexanderplatz einem Polizeibeamten betrunken gegen das Schienbein, als der ihn auffordert, sich auszuweisen. Ein andermal findet eine Streife bei ihm ein paar Tabletten Ecstasy und geringe Mengen Heroin und Speed. Am 27. September 2017 stellt die Berliner Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen ihn aus. Sie vermutet, dass er Teil der Berliner Drogenhändlerszene ist und flüchten könnte.
Vier Tage später steht ein Bekannter von Tanja G. vor ihrer Haustür. Er will Geld eintreiben, das sie ihm schuldet. Hussein H. ist auch in der Wohnung. Als er von G.s Schulden erfährt, rastet er aus, es kommt zu einem Gerangel, der Bekannte ruft die Polizei. Als die Beamten von Hussein H.s offenem Haftbefehl erfahren, nehmen sie ihn fest. Dann erzählt Tanja G. ihre monströse Geschichte.
Am Morgen danach untersucht eine Rechtsmedizinerin der Berliner Charité die Verletzungen von G. Sie notiert Hautabschürfungen, frische und bereits verheilte Wunden, Narben, 29 insgesamt. Und sie hat offenbar Zweifel an Tanja G.s Geschichte. Denn auf Nachfrage erwähnt G., dass sie sich mit einem Messer die Bauchhaut und den rechten Unterarm aufgeschlitzt habe. Alle anderen Wunden, die stammten von Hussein, ganz sicher. Nach der Untersuchung ruft die Ärztin den verantwortlichen Kriminaloberkommissar an und sagt ihm, dass G.s Verletzungen vermutlich Selbstverletzungen seien. Die meisten Wunden und Narben, die Tanja G. angeblich von Hussein H. zugefügt wurden, verlaufen in geraden Linien. Ein typisches Schnittmuster bei Menschen, die sich selbst verletzen.
Die Rechtsmedizinerin macht dem Kommissar am Telefon deutlich, dass ein weiteres Gutachten nötig sei, in dem sie die Herkunft der Verletzungen interpretieren könne. Doch dazu kommt es nicht. Die Information findet nie den Weg von der Polizei bis zur Staatsanwaltschaft, die zuständig dafür ist, Sachverständigengutachten anzufordern. "Warum dieser Umstand keinen Niederschlag in den Verfahrensakten gefunden hat, ließ sich bis zum Ende der Hauptverhandlung nicht aufklären", werden die Richter in ihrem Urteil notieren. Die Berliner Polizei teilt mit, es habe "nach unseren Informationen kein Telefonat mit der Gerichtsmedizin" gegeben. Fest steht: Wegen dieses Fehlers macht sich der leitende Staatsanwalt Tanja G.s Version der Geschichte früh zu eigen. Der Charité erteilt er lediglich den Auftrag, ein Gutachten über die Frage einer möglichen "dauerhaften Entstellung" der G. zu erstellen.
"Die Zeit geht nicht weg im Knast"
Erst im Mai, mehr als ein halbes Jahr später, findet die Wahrheit durch einen Zufall Eingang in das Verfahren. Als die Vorsitzende Richterin mit der Rechtsmedizinerin einen Aussagetermin vereinbaren möchte, zeigt diese sich erstaunt davon, dass es überhaupt zu einem Prozess gekommen ist. Schließlich seien die Verletzungen mit großer Wahrscheinlichkeit selbst beigebracht. Da sitzt Hussein H. schon seit sieben Monaten in Untersuchungshaft.
Weil Hussein H. noch unter 21 Jahre alt ist, findet der Prozess weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Das Urteil, abgefasst am 9. Juli 2018, gibt aber Aufschluss über den Verfahrensgang. Denn es war nicht nur das Gutachten, das Tanja G.s Lügengebäude zum Einsturz brachte. Sie hat dazu selbst mit ihrer Aussage beigetragen. Die Richter bescheinigen ihr "Widersprüchlichkeiten" und "eine nur unzureichende Aussagekonstanz".
Zum Plädoyer der Staatsanwaltschaft am 23. Mai 2018 sind Zuschauer wieder zugelassen – allerdings interessiert sich da längst keiner mehr für den Fall. Der in Berlin als Hardliner bekannte Staatsanwalt Rudolf Hausmann fasst sich kurz. Er spricht von "Pleiten, Pech und Pannen" in der Ermittlung, von einem "Rechtsstaat, der hier Fehler gemacht hat", von einer "erfundenen Geschichte". Am Ende seines Plädoyers zeigt Hausmann auf Hussein H. und beschwört ihn: "Hören Sie mir gut zu, Herr H., halten Sie sich in Zukunft von Frauen wie dieser fern!" Lediglich des Drogenhandels habe sich Hussein H. schuldig gemacht, sagt Hausmann und beantragt vier Wochen Dauerarrest. Ansonsten sei Hussein H. freizusprechen. Die Richter schließen sich dem Antrag in ihrem Urteil an. Hussein H. gilt damit als nicht vorbestraft.
Auch der Staatsanwalt spricht von einer "erfundenen Geschichte"
Was dem Staatsanwalt gelingt, dazu ist die AfD nicht in der Lage. Keine Einsicht, keine Reue, kein Interesse an Aufklärung. Als die ZEIT um ein Gespräch bittet, fordert der Pressesprecher die konkreten Fragen an, dann werde er sehen, ob er einen Gesprächspartner aus der Parteispitze auftreiben könne. Mit den Fragen konfrontiert, ob die AfD irgendwelche Lehren aus dem Fall ziehe, ob sie einen Menschen vorverurteilt habe, fallen dem Sprecher lediglich zwei Wörter ein: "Kein Kommentar."
Erika Steinbach geht ans Telefon und ist entsetzt, als sie hört, wie die Geschichte ausgegangen ist. "Ich finde es katastrophal, wenn man sich so etwas ausdenkt. Diese Person muss hart bestraft werden." Leid tue es ihr aber nicht, damals den wütenden Smiley gedrückt zu haben, das sei schließlich der Stand der Dinge gewesen. Was aber wirklich schlimm sei: dass es in den Medien und im Netz damals so breitgetreten worden sei und jetzt, wo sich die Geschichte als eine ganz andere herausstellt habe, niemand mehr darüber berichte.
Tanja G. empfängt auf jenem Sofa, auf dem sie vor rund einem Jahr angeblich von Hussein H. gefesselt wurde. Der Fernseher läuft, als sie erzählt, dass sie sich vom Rechtsstaat verraten fühlt. Ihre Schwester und ihr Bruder, sagt sie, hätten sich "hardcore" selbst geritzt. Aber sie selbst? "Niemals." Unter ihrer Hose und ihrem T-Shirt lugen die Narben hervor wie rastlose Würmer. Ihr neues Leben sei so viel besser, sagt sie, mit dem neuen Mann an ihrer Seite, einem strenggläubigen Muslim aus Marokko, durch den sie "den richtigen Koran" kennengelernt habe. Mit dem Kind, das sie sehnsüchtig erwartet. Am 10. Oktober, nur neun Tage nach der Festnahme von Hussein H., sei sie schwanger geworden.
Tanja G. trägt ein pinkes Kopftuch, an dem sie aufgeregt zupft, als sie sagt, dass sie ihren neuen Lebensgefährten bald heiraten werde. Es ist gut möglich, dass sie diesen Mann schon kannte, als sie Hussein H. der Verbrechen bezichtigte. Es ist gut möglich, dass sie Hussein einfach loswerden wollte. Aber nein, sagt Tanja G. nun auf ihrem Sofa, "ich hatte einfach Angst vor dem Psycho-Kopf". Das Motiv ihrer Falschbeschuldigung wird wohl nie ganz aufgeklärt werden können.
Und Hussein H.? Jeden Tag in Haft habe er sich gefragt: Warum passiert mir das? So oft habe er in seiner Zelle an Suizid gedacht, so oft nicht schlafen können. "Die Zeit geht nicht weg im Knast." Nun will er endlich was mit seinem Leben anfangen: in den Sprachkurs gehen, auf einer Baustelle arbeiten, Geld verdienen. Wie lange das in Deutschland möglich sein wird, das weiß er nicht. Er wird hier nur geduldet. Aber er weiß, dass dieses Land ihm etwas schuldet. Und wenn es nur die Entschädigung ist für acht Monate Leben, die ihm geraubt wurden.