Ob man Herrn Kaeser nach der Machtergreifung nur durch Schutzhaft wird vor der Volkszorn retten können ...?
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Kaeser zeigte zwar etwas Verständnis für die Haltung anderer Unternehmenschefs, wenn sie einen direkten Bezug zum Konsumentengeschäft hätten und nicht wie Siemens beispielsweise Turbinen verkaufen. Der Chef eines Autokonzerns etwa habe mit Blick auf die Wahlergebnisse der AfD zu bedenken gegeben, dass dann „womöglich 19 Prozent meine Autos nicht mehr kaufen“. Auch aus der Sportschuhbranche sei eine Absage gekommen. Joe Kaeser nannte keine Namen. Er tue sich womöglich mit seiner Kritik leichter, räumte der 61-Jährige ein. Er müsse „nicht mehr sonderlich viel beweisen“.
Als einziger Chef eines deutschen Großkonzerns ist Kaeser bislang auf Konfrontationskurs zur AfD gegangen. Über den Kurznachrichtendienst Twitter kritisierte er im Mai eine Äußerung der AfD-Politikerin Alice Weidel. Sie sprach in einer Bundestagsdebatte von „Kopftuchmädchen“ und „Messermännern“. Kaeser entgegnete: „Lieber ,Kopftuch-Mädel‘ als ,Bund Deutscher Mädel‘. Frau Weidel schadet mit ihrem Nationalismus dem Ansehen unseres Landes in der Welt. Da, wo die Haupt-Quelle des deutschen Wohlstands liegt.“ Der Bund Deutscher Mädel (BDM) war im Nationalsozialismus eine Organisation für Mädchen.
Es darf keine Schweigespirale entstehen
Solidarisierung von Seiten der Dax-Kollegen aber blieb aus. Wie der Siemens-Chef jetzt erklärte, seien Äußerungen über Ausgrenzung, Intoleranz, Rassenhass und Polemik nicht hinnehmbar. Es dürfe keine Schweigespirale entstehen. Er zog einen direkten Vergleich zur Hitler-Zeit. Auch damals sei in den Anfängen zu viel geschwiegen worden. Der Bruder seiner Mutter sei im KZ Dachau ermordet worden, weil er nicht zur Hitler-Jugend ging.
Die jungen Menschen seien in den Bund Deutscher Mädel oder die Hitler-Jugend gezwungen worden, „weil jemand zu viel geschwiegen hatte“. Kaeser wörtlich: „Vielleicht muss man doch wieder den Anfängen wehren.“ Die öffentliche Diskussion dürfe nicht populistisch-nationalen Äußerungen überlassen werden.
Kaeser sprach von äußert heftigen Reaktionen auf seine bisherigen Äußerungen. Er würde aber wieder in die politische Diskussion einsteigen, sagte Kaeser. Er sei aber über die Gewaltandrohungen gegen ihn, seine Familie samt seiner Mutter und sein Umfeld überrascht. Der Siemens-Chef wurde zu der Veranstaltung von Sicherheitspersonal begleitet.
Der Top-Manager aus Niederbayern forderte, für Werte einzutreten, für eine aktive Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Wer sich heute öffentlich äußert, gehe ein riesiges Risiko ein. Die Marke Siemens trage die Werte von Deutschland in sich. Dafür habe er auch Verantwortung.
Deutschlands Industrie vor riesigem Strukturwandel
Der Siemens-Chef zeichnete an einem praktischen Beispiel den Spannungsbogen zwischen Interessen und Werten und dem Strukturwandel in der Wirtschaft. Bei der sogenannten vierten industriellen Revolution, also der Digitalisierung, dem Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz, sei es auch eine Frage, dass wirtschaftliche Stärke nicht zu monopolistischen, nationalen Entwicklungen genutzt werden dürfe. Studien gingen davon aus, dass in Deutschland jeder dritte Industriearbeitsplatz „im Grund verschwindet oder sich verändert“.
Für Kaeser steht vor allem die Autoindustrie samt ihrer Zulieferbranche vor einem dramatischen Wandel. Das Wohl der gesamten deutschen Volkswirtschaft hänge mit dem Erfolg der Branche zusammen. Wenn alle Verbrennungsmotoren auf Elektromobilität umgestellt würden, gingen gut 60 bis 75 Prozent aller Arbeitsplätze in den Motorenwerken verloren. „Das ist gut für saubere Luft, aber die Luft wird garantiert um ein Vielfaches dicker.“ Hinzu käme ein gewaltiger Strukturwandel für die Autobranche durch künftige Carsharing-Modelle.
Das sei ein Beispiel für einen Strukturwandel mit gewaltigen Folgen. Kaeser sieht es daher als seine Pflicht an, sich auch an der Debatte über die sozioökonomischen Folgen und damit auch der politischen Debatte zu beteiligen. Wenn das „ungebremst die Gesellschaft trifft, war das, was wir die letzten zwei, drei Wochen gesehen haben, eine eher kleinere Geschichte“.
Vor diesem Hintergrund müsse die Gesellschaft weiter integriert werden. Sonst werde es „weiter Autos auf der Straße geben, aber keine selbstfahrenden, sondern brennende“, warnt der Siemens-Chef.
Schnelle Kommunikation überfordert den Staat
Kaeser ist der Ansicht, dass Wirtschaftslenker einige Veränderungen „eher sehen, anders sehen, globaler sehen, vernetzter sehen, als das viele Menschen in der Gesellschaft in der Lage sind zu tun“. Daraus leite sich ein Führungsanspruch des Wissens, der Antizipation der Veränderungen in den Branchen ab.
Als gewaltigen Einflussfaktor in der gesellschaftlichen Entwicklung sieht Kaeser die Geschwindigkeit der Kommunikation. Das beeinflusst auch die Politik. Twitter, Facebook, Instagram. Alles läuft mit rasendem Tempo. „Frau Merkel hätte es wirklich geschafft, nicht nur Herrn Seehofer auszuhalten, sondern auch die Flüchtlingsfrage ohne einen wahrgenommenen und wahrscheinlich auch real existierenden Kontrollverlust des Staates zu beantworten.“ Bis heute sei das jedoch nicht gelungen, sagte der Siemens-Chef zur jüngsten Debatte zwischen der Bundeskanzlerin und dem CSU-Innenminister.
Der Siemens-Chef hat dafür eine Erklärung: Innerhalb von Minuten könnten heute Menschen auf allen Kontinenten miteinander kommunizieren. Die Schnelligkeit der Migration sei durch die unmittelbare Kommunikation auf einen „völlig unvorbereiteten Staat getroffen“. Die Auswirkungen seien heute spürbar. Kaeser ist der Ansicht, dass der Staat „ohne ein Einwanderungsgesetz die Republik die Kontrolle nicht wiedererlangen wird“.
Dann machte der Siemens-Chef noch eine Äußerung, die als Kritik an der CSU verstanden werden kann. Anstatt von der SPD hätte der Vorschlag über ein Einwanderungsgesetz von „anderen mittelmäßig intelligenten Parteien kommen können – statt einen Sturm im Wasserglas zu machen, der das Gelächter der Welt auf sich zieht. Aber wer ist schon ohne Fehl und Tadel.“