Die gilt aber nur vor Gericht und dort nur im Strafprozeß.
In der Politik nicht.
Und die afd ist die erste Partei, die die Unschuldsvermutung bei anderen Parteien außerhalb des Gerichtssaales
gelten lassen möchte.
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Bernd Baumann wirkte sehr zufrieden. Als der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion am Dienstag eine Art 100-Tage-Bilanz der neuen Parlamentstruppe vorstellte, präsentierte er ansehnliche Zahlen: 23 Anträge habe man schon eingebracht und 52 Anfragen gestellt. 41 Plenarreden mit einer Gesamtlänge von 300 Minuten seien von AfD-Abgeordneten gehalten worden.
„Das Parlament hat schon eine neue Farbe“, behauptete Baumann. Obwohl längst nicht alles rundläuft, obwohl der Personalaufbau bei den Mitarbeitern stockend verläuft und es intern Streit gibt, steht außer Zweifel: Die Bundestagsfraktion, in der Alice Weidel auf strenge Professionalisierung setzt und der andere Vorsitzende Alexander Gauland den Patriarchen gibt, ist das neue, das entscheidende Machtzentrum der AfD.
Das aber heißt: Die Landesverbände der AfD verlieren an Bedeutung. Und dies scheint Erosionsprozesse zu befördern. Auffällig lang jedenfalls ist in der Provinz die Liste der Selbstbeschädigungen. In Schleswig-Holstein befinden sich die gemäßigte Landtagsfraktion und die hart rechte Landesvorsitzende Doris von Sayn-Wittgenstein im Dauerclinch, in Nordrhein-Westfalen schwelt der Machtkampf an der Landesspitze weiter. Die Fraktion in Baden-Württemberg versinkt im Strudel der Kämpfe um den antisemitischen Abgeordneten Wolfgang Gedeon. Und in Sachsen versuchen Rechtsaußen, die AfD-Grundsätze zur Abgrenzung von Pegida und Identitärer Bewegung vollends über Bord zu werfen.
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Weit nach oben ist auf der Liste der Krisenherde nun Sachsen-Anhalt gerückt. Dort verblasst der Stern des Landes- und Fraktionschefs André Poggenburg. Er wurde im Dezember nicht wieder in den Bundesvorstand gewählt und sieht sich daheim Vorwürfen ausgesetzt, es mit seinem System der Günstlinge zu übertreiben. Zum Eklat kam es jetzt bei einem Landesparteitag in Gardelegen, als das gesamte Landesschiedsgericht der dortigen AfD zurücktrat.
Hintergrund ist ein lange währender Streit zwischen dem Schiedsgericht und dem Landesvorstand wegen des Kreisverbands Börde bei Magdeburg. Zunächst ging es nur um die Rechtmäßigkeit des dortigen Vorstands, dann wollte der Landesvorstand um Poggenburg den Kreisverband auflösen. Diesem Verlangen aber verweigerte sich das Landesschiedsgericht und erhielt dabei auch Unterstützung durch die Parteirichter der Bundes-AfD.
Zwischen Schiedsgericht und Vorstand kam es zu heftigen Vorwürfen, die drei Parteirichter sahen sich in ihrer Unabhängigkeit bedroht – und traten am letzten Januarwochenende in Gardelegen zurück. Neue wurden nicht gewählt. „Wenn der Landesvorstand meint, dass wir parteiisch arbeiten, gibt es keine Grundlage mehr für eine Zusammenarbeit“, sagte der bisherige Schiedsgerichtsvorsitzende Christian Hecht auf WELT-Anfrage. „Jetzt ist der Landesvorstand in der Pflicht, die Voraussetzungen für eine Neuwahl des Schiedsgericht zu schaffen.“ Das kann sich bis zum Frühsommer hinziehen, bis zum nächsten Parteitag. Auf dem muss sich auch Poggenburg zur Wiederwahl stellen. Zu einer Wiederwahl, der er sich nicht mehr so sicher sein kann.
Vollends am Boden liegt die AfD in Niedersachsen. Nach jahrelangen Querelen um den Landeschef Armin-Paulus Hampel wandten sich im Sommer 2017 selbst treue Unterstützer („Prätorianer“) von ihm ab. Ende vergangenen Jahres war eine breite Bewegung entstanden: Die große Mehrheit der Kreisverbände, die Landtagsfraktionschefin Dana Guth sowie drei stellvertretende Landeschefs, darunter die Bundestagsabgeordneten Jörn König und Wilhelm von Gottberg, planten für einen Parteitag Mitte Januar Hampels Ablösung und richteten dafür eine eigene Website ein.
Aber Hampel und seine verbliebenen Unterstützer im Landesvorstand ließen den Parteitag ausfallen. Hampels Gegnern blieb nur, eine Demonstration gegen ihn vor dem Versammlungsgebäude in Hannover abzuhalten. Da aber langte es dem Bundesvorstand. Sogar Parteichef Gauland rückte von seinem Duzfreund Hampel ab. Die AfD-Spitze beschloss, den gesamten Landesvorstand abzusetzen und einen „Notvorstand“ zu installieren, bestehend aus den Bundesvorstandsmitgliedern und Bundestagsabgeordneten Kay Gottschalk und Stephan Protschka sowie dem niedersächsischen Landtagsfraktionsgeschäftsführer Jens Krause.
Doch Hampel weicht nicht. Gegen den Absetzungsbeschluss legten er und seine Getreuen im Landesvorstand per Eilantrag Beschwerde beim Bundesschiedsgericht ein. Hampel gab sich auf WELT-Anfrage zuversichtlich. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin ganz entspannt“, sagte der Bundestagsabgeordnete mit Blick auf seine Zukunft in Niedersachsen. Ein bisschen Luft hat er sich auch schon wieder verschafft: Anders als erwartet entschied das Parteigericht am Montag nicht über seinen Eilantrag, sondern forderte erst weitere Unterlagen von ihm an. Die soll er bis Donnerstag liefern, entscheiden könnten die Parteirichter dann am Freitag.
Sollten sie Hampels Einspruch stattgeben, bliebe er im Amt und könnte auf einem neuen Parteitag im März nur mit Zweidrittelmehrheit abgelöst werden. Dass die zustande käme, ist zweifelhaft. Aber selbst wenn die Parteirichter Hampels Einspruch ablehnen und somit den Weg für Neuwahlen ohne die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit frei machen – selbst dann ist Ruhe unwahrscheinlich. Denn Hampel hat in seinem Bundesland noch zahlreiche Anhänger. Die können seinen Gegner das Leben schwer machen.