Ich kann mich noch gut an die Zeiten vor kurz vor Trump vor genau 4 Jahren erinnern. Voll waren sie, die Zeitungen, jegliche Realität verkennend, mit Artikeln, warum Trump auf gar keinen Fall jemals Präsident der USA werden wird.
Groß dann das Geheule am ersten Mittwoch im November 2016. 'Wie konnte das nur passieren', 'niemand konnte es ahnen' usw. usf.
Die Festspiele 2020, warum Trump auf gar keinen Fall wiedergewählt werden wird hat gestern der Joffe bei der Zeit noch einigermassen vorsichtig eröffnet:
Trumps Sargnägel
Virus, Verarmung, Revolte: Der Präsident verliert seine Wähler. Auch ein Wirtschaftsaufschwung kann nicht helfen.
Spoiler
Vom "Todesröcheln eines sterbenden Amerikas" liest man im Spiegel und erinnert sich an Mark Twain, der nach schwerer Krankheit auferstand: "Die Nachricht von meinem Tode war weit übertrieben." Angst und Hass, die heute das Land zerreißen, halten keinen Vergleich mit der Agonie des Bürgerkrieges aus, der die Sklaverei abschaffte und mehr Tote forderte als alle US-Kriege danach. Auch nicht mit dem jahrelangen Rassenkrieg der späten Sechziger, als Dutzende von Städten brannten und Elite-Divisionen Detroit besetzten.
Auf die Sargnagel-Frage 2020 gibt es eine klare moralische Antwort: Polizeiwillkür und Rassismus sind eine Schande für die demokratische Weltmacht. Die politische Frage lautet: Stützt oder stürzt der Aufstand Donald Trump am 3. November? Einen Präsidenten, der weder Empathie noch Anstand kennt, der hetzt, statt zu heilen, der Narzissmus zur Staatsräson erhebt und an einer 230 Jahre alten Verfassung rüttelt. Zuletzt war es die Drohung, eigenmächtig Bundestruppen einzusetzen.
Eine Gestalt wie Trump – "der Staat bin ich" – hat Amerika noch nie heimgesucht, und je rascher er wieder ins Immobiliengeschäft verschwindet, desto besser für das Land und die Welt. Doch möge ihn niemand unterschätzen. Er weiß, wie der Fast-Bürgerkrieg der Sechziger ausging. Die Schicksalswahl von 1968 gewann nicht der liberale Demokrat Hubert Humphrey, sondern der rechte Republikaner Richard Nixon. Vier Jahre später siegte Nixon noch einmal.
Wer so viel moralisches Kapital verspielt hat, bringt Amerikas Freunde nicht zurück
Trumps zynisches Kalkül: Aufruhr hilft nicht dem Versöhner, sondern dem Verfechter von Law and Order. Doch muss die Nixon-Strategie diesmal nicht aufgehen. Das suggerieren nicht Hoffnungen, sondern Fakten. Angefangen mit Joe Biden. "Sleepy Joe", wie ihn Trump verhöhnt, ist aufgewacht und spricht für die gesamte Nation. Trump habe sie "in ein Schlachtfeld verwandelt" und wolle spalten, um zu siegen. Anderseits versichert Biden der Trump-Wählerschaft: "Es gibt kein Recht auf Plünderung oder das Niederbrennen von Kirchen."
Der Appell an links wie rechts zahlt sich aus. Monatelang dümpelte Biden mit drei, vier Punkten Vorsprung vor Trump – im statistischen Irrtumsbereich. Nun sind es national bis zu elf Punkte. Im amerikanischen System garantieren solche Mehrheiten keinen Wahlsieg. Bedeutsamer sind jene Swing-States, welche die Wahl 2016 für Trump entschieden. Allein in Michigan ist Biden mit zwölf Punkten im Plus. Und auch Florida, Wisconsin, Ohio sind in sein Lager gerutscht. Dahinter steht ein Stimmungswandel. Im Verhältnis zwei zu eins glaubt das Wahlvolk, Biden könne das Land "besser einen". Kurzum: Die Gegenreaktion, die Nixon zur Macht verhalf, bleibt aus. Die Nation sucht einen Heiler, keinen, der den Rechts- durch den Knüppelstaat ersetzt.
Momentaufnahmen, gewiss, doch spiegeln sie seit Minneapolis einen Trendumschwung. Trump ist das politische Coronavirus im Weißen Haus, und sogar die Granden der Republikaner fallen öffentlich von ihm ab: George W. Bush, Ex-Außenminister Colin Powell, Senatoren und hohe Militärs wie Jim Mattis, Trumps früherer Pentagon-Chef.
Der beste Einwand ist die Wirtschaft, wo plötzlich die Arbeitslosigkeit von 15 auf 13,5 Prozent gesunken ist. Die Geschichte lehrt freilich: Noch nie seit 1940 ist ein Präsident wiedergewählt worden, wenn die Rate zweistellig war. Auch nicht, wenn sie nur zwei Punkte höher lag als bei Amtsantritt. Als Trump kam, lag sie bei fünf. Von 13 auf sieben in fünf Monaten schafft Trump nicht. Demagogie bringt die Bänder nicht zum Laufen, zumal wenn eine zweite Corona-Welle kommen sollte.
Wer so viel moralisches Kapital verspielt hat, bringt auch Amerikas Freunde nicht zurück, allen voran die Kanzlerin. Wie kann führen, wer niederreißt, was die Welt zusammenhält: Verträge, Verlässlichkeit, Verpflichtung? "Make America great again!" ist zu "America alone" verkommen. Das moralische Minus wächst mit dem Handelsdefizit.
Nur Amerikas Gegner können sich wünschen, dass Trump im Weißen Haus bleibt. Ob liberal oder konservativ, kann es auch das amerikanische Wahlvolk nicht in der Dreifachkrise Corona-Aufstand-Verarmung. Das bitterböse Rumpelstilzchen Trump ist eine historische Fehlbesetzung im Oval Office. Sie wird am 3. November revidiert; das flüstern jedenfalls die neuen Fakten und Daten. Leider ist diese Voraussage wie alle Wahl-Orakel ohne Gewähr.
https://www.zeit.de/2020/25/usa-donald-trump-wahl-joe-biden-rassismus-polizeigewalt-coronavirus-wirtschaftskriseNicht, dass ich hier falsch verstanden werde. Ich finde die Vorstellung einer Welt ohne einen Präsidenten Trump viel sympathischer, als mit. Aber 2016 hat mich gelehrt, dass zu viele kleine Hoffnungsschimmer in Artikeln obiger Art auch in mir leise Hoffnungen geweckt haben, dass der Redneck im Flyover Country genau so vernunftbegabt seine Wahlentscheidung treffen wird, wie der gestriegelt-bärtige linksliberale Hipster in NY oder LA. Falls in diesem Land überhaupt mal jemand zur Wahl geht (@PoC, BPoC, IBPoC You know who you are and most of you never voted or at least tried to vote
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Die Realität sieht meist aber leider anders aus. Und ich bereite mich innerlich schon auf eine Wiederwahl Trumps vor. Dann werde ich wenigstens nicht enttäuscht, sondern vielleicht sogar angenehm positiv überrascht, wenn es anders kommt.