Die NZZ widmet sich der Polizeiausbildung.
Fragt sich halt, was man in US und in Europa unter einem vernünftig denkenden Polizisten versteht ...
Spoiler
Marie-Astrid Langer, San Francisco
01.06.2020, 17.16 Uhr
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Eric Garner starb 2014 im Würgegriff eines Polizisten, Freddie Gray 2015 an Gehirnverletzungen nach einem «rough ride» in einem Polizei-Van und Breonna Taylor in diesem März im Kugelhagel von Polizisten, die unangekündigt ihre Wohnung durchsuchen wollten. Der Tod durch Polizistenhand von George Floyd vor einer Woche mag der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Von Boston bis Los Angeles demonstrieren in den USA Personen jeglicher Hautfarbe gegen Polizeigewalt gegen Afroamerikaner. Die landesweiten Proteste werfen ein Schlaglicht auf die Polizistenausbildung: Wie funktioniert diese? Wieso werden gewalttätige Polizisten so selten verurteilt?
Zentral ist der Einsatz von Schusswaffen
Die 18 000 Polizeibehörden in Amerika handeln weitgehend autonom bei der Ausbildung ihrer Polizisten. Im landesweiten Schnitt dauert diese 19 Wochen, doch die Unterschiede sind gross: In Kalifornien werden Polizeianwärter 32 Wochen ausgebildet. In Indiana kann jeder, der von einer Polizeibehörde eingestellt wird, ohne formale Ausbildung seine Arbeit beginnen, solange er die Schulung innert des ersten Jahres nachholt; wie lange diese dauert, ist der lokalen Polizeibehörde überlassen.
Der Fokus der Ausbildung liegt fast überall auf dem Einsatz von Waffen: Wie eine Umfrage unter 281 amerikanischen Strafverfolgungsbehörden im Frühling 2015 zeigte, übten die Rekruten im Schnitt 58 Stunden den Umgang mit Schusswaffen und 49 Stunden Taktiken zur Verteidigung, aber nur 8 Stunden wurden sie in Deeskalationstechniken unterrichtet. Die Studie in Auftrag gegeben hatte das Police Executive Research Forum (Perf) – eine internationale Vereinigung von leitenden Polizisten und gliedstaatlichen Strafverfolgungsbehörden, die sich dafür einsetzt, dass Polizisten stärker in Deeskalationstechniken ausgebildet werden. Chuck Wexler, der Geschäftsführer des Perf, sieht die Wurzel vieler Probleme genau hier: «Wir geben Polizeibeamten nie die Schuld für ihre Taten. Denn wenn wir uns die Ausbildung anschauen, die sie durchlaufen haben, dann tun sie lediglich das, was man ihnen gesagt hat.»
Oberstes Ziel der Ausbildung ist die Sicherheit des Polizisten. Aufgrund der laxen Waffengesetze in vielen Gliedstaaten muss ein amerikanischer Polizist immer davon ausgehen, dass sein Gegenüber bewaffnet ist. Offizielle Statistiken dazu, wie viele Personen von Polizisten getötet werden, gibt es in den USA nicht. Datenbanken von Journalisten und Schätzungen von Experten gehen von mindestens 1000 Personen pro Jahr aus. Umgekehrt stirbt nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Beamten im Dienst: Jährlich rund 162 Strafverfolgungsbeamte sind im Schnitt der vergangenen zehn Jahre bei der Arbeit umgekommen.
Zwei Grundsatzurteile
Die Polizisten können bei ihrer täglichen Arbeit darauf vertrauen, dass das Gesetz auf ihrer Seite ist. Zwei Grundsatzurteile des Obersten Gerichts sorgen dafür: 1967 zementierte der Supreme Court den Grundsatz der «qualifizierten Immunität»; diese schützt Polizisten vor juristischen Folgen ihrer Handlungen im Dienst, solange diese nicht gegen «klar etablierte Gesetze» oder in der Verfassung verankertes Recht verstossen. Ein Grundsatzurteil von 1989 regelt, dass Polizisten auch mit harten Bandagen durchgreifen dürfen: Im Fall Graham gegen Connor legte das Gericht fest, dass Gewalt dann gerechtfertigt sei, wenn sie aus der Perspektive eines «vernünftig handelnden Beamten am Einsatzort» angebracht erscheine. Erschwerend komme hinzu, dass ein Polizist innerhalb von Sekunden und unter schwierigen Umständen entscheiden müsse, wie viel Gewalt er anwenden müsse.
So erklärt sich auch, dass Gerichte bis heute Gewaltanwendungen durch Polizisten selten verurteilen.
Zunehmende Militarisierung
Seit den 1970er Jahren zielte die Ausbildung auch darauf ab, dass die Polizisten als Kämpfer im «Krieg gegen Drogen» selbst bei kleineren Vergehen radikal durchgreifen sollen. Wie der Journalist Radley Balko in seinem Buch «Rise of the warrior cop» beschreibt, verhielten sich die Polizisten gegenüber Bürgern meist wie Besatzungskräfte. Dafür konnten sie vielerorts auf ausrangiertes Militärgerät wie Panzer, Granatwerfer oder grosskalibrige Waffen zurückgreifen. Der damalige amerikanische Präsident Barack Obama schob dieser Militarisierung 2015 einen Riegel vor und verfügte per Dekret, dass Polizeibehörden bestimmte Militärausrüstung nicht mehr bestellen durften, etwa gepanzerte Fahrzeuge und Bajonette. Für andere Ausrüstungsgegenstände wie Drohnen und spezielle Waffen sollten sie erst nachweisen, dass die Beamten auch wüssten, wie man sie bedient.
Wie viele Entscheide seines Vorgängers revidierte Präsident Donald Trump auch diesen, im August 2017 unterzeichnete er auf Drängen der Polizeigewerkschaften ein entsprechendes Dekret – und bediente gleichzeitig gegenüber seiner Basis das Wahlkampfversprechen von «law and order».
Neuer Fokus auf Deeskalation
Seit den Unruhen von Ferguson 2014 aber habe bei den amerikanischen Polizeibehörden durchaus ein Umdenken stattgefunden, sagt Chuck Wexler von der Polizeivereinigung Perf. Er und sein Team bilden seit Jahren Polizisten in Deeskalation aus, auch in Minneapolis. Gerade der Fall George Floyd zeige für ihn, dass sich etwas geändert habe. «Früher hätte ein Polizeichef eine formelle und oft langwierige Untersuchung abgewartet, bevor er irgendwelche Massnahmen gegenüber einem Polizisten ergriffen hätte, dessen Verhalten womöglich illegal war», schrieb Wexler am Wochenende in einer Stellungnahme zu den Unruhen. Der Polizeichef in Minneapolis aber habe die vier Beamten, die in Floyds Tod involviert waren, umgehend entlassen und einen von ihnen zur Anklage gebracht. «Er akzeptiert solches Fehlverhalten nicht mehr.»
Natürlich bleibe noch viel zu tun, schreibt Wexler. Dennoch sei der Fall Floyd nicht repräsentativ für die Polizeikultur in Amerika. «Die Tötung von Herrn Floyd ist so beunruhigend, weil er die Arbeit der guten Polizisten in Minneapolis und im ganzen Land viel schwieriger macht.»
Zum Punkt "Zentral ist der Einsatz von Schusswaffen": es gab mindestens zwei Vorfälle, in denen ein Nackter (! keine Ahnung, wie das geht) jeweils einen Polizisten entwaffnete und mit dessen Dienstwaffe erschoß. Deshalb wird bei der Ausbildung gelehrt, auch völlig unbewaffnet aussehende Menschen könnten gefährlich sein (deswegen ist der ständige Hinweis auf "unbewaffnet" in der Deutschen Presse auch nicht zielführend). Leider habe ich die Namen vergessen, möglicherweise habe ich sie notiert und reiche das nach.