"Autonomer Nachvollzug" ist IMHO ein politisches Schlagwort. Wenn man sich ansieht, was die Schweiz tatsächlich an EU-Recht "autonom nachvollzogen" hat, fallen durchaus Lücken auf, also ganze Bereiche, in denen EU-Recht nicht übernommen wurde. In anderen Bereichen wurde auch nur ein Teil der Regeln des EU-Rechts übernommen. Zudem besteht im Bereich des "autonom nachvollzogenen" Rechts nach wie vor die Möglichkeit, dieses eigenwillig, d. h. ohne Beachtung der Rechtsprechung des EuGH zu vollziehen. Selbst in den Bereichen, in denen die Schweiz zur Übernahme von EU-Recht durch die bilateralen Verträge verpflichtet ist, geschieht die Übernahme und Umsetzung teilweise, sagen wir mal: eigenwillig, was durchaus auch zu Konflikten zwischen der EU-Kommission und der Schweiz geführt hat.
Betreffend Brexit ist m. E. zu beachten, dass dieser eine Grundsatzentscheidung eigener Art darstellt, was wohl selbst in GB zu wenig beachtet wird. Die Fragestellung beschränkt sich ja nicht darauf, ob GB in der EU bleiben wolle oder nicht, sondern letztlich geht es um die Frage, ob GB sich stärker in die EU integrieren oder sich mehr auf den Rest der Welt einstellen wolle. Immerhin befindet sich in GB ein Großteil international tätiger Bank- und Finanzhäuser, haben dort Waren- und Rohstoffbörsen für den weltweiten Handel ihren Sitz, läuft ein erheblicher, teilweise sogar überwiegender Anteil aller weltweit getätigten Waren- und vor allem Rohstoffgeschäfte über GB. Aus historischen Gründen, aber auch durch das nach wie vor bestehende Commonwealth ist GB sehr gut mit dem Rest der Welt vernetzt. GB hält zudem nach wie vor einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat und ist die fünftgrößte Militärmacht hinter Frankreich, China, Russland und den USA. Zugleich scheint sich die Bereitschaft vieler auch durchaus EU-freundlicher Briten zu einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration in den letzten Jahren erheblich vermindert zu haben - eine Erscheinung, die übrigens auch in anderen EU-Mitgliedsländern zu beobachten sein dürfte.
Die Entscheidung der Briten lautet daher nicht: EU oder nicht EU, sondern: EU oder Rest der Welt. Ohne die EU-Staaten kleiner machen zu wollen, als sie sind, würde ich im Zweifelsfall wohl eher auf "Rest der Welt" wetten als auf die EU. Der Rest der Welt ist eben doch ein wenig größer als die EU oder als Europa mit den Nicht-EU-Staaten.
Ob die "Wette" der Briten aufgeht, wird zuletzt sehr von ihnen selbst abhängen. Wenn sie eine geschickte Politik betreiben, können sie gewinnen. (Im Augenblick scheint es allerdings nicht so, dass sie wirklich geschickte Politik betreiben.)
Was den Zustand der EU angeht, erinnere ich daran, dass die EU seit der letzten großen Reform ein Ding irgendwo zwischen "Staatenbund" und "Bundesstaat" ist. Viele der oft beklagten Probleme ließen sich vermutlich lösen, wenn sich die EU mehr in Richtung Bundesstaat entwickeln könnte. Im Augenblick erscheint dies allerdings sehr unwahrscheinlich. Einerseits wünschen sich starke Kräfte in den EU-Mitgliedsländern eher weniger als mehr EU und schon gar keinen Bundesstaat. Andererseits würde ein Bundesstaat, wie immer seine Organisation aussähe, die Rolle des Parlaments stärken. Zudem müsste die Frage der zweiten Kammer gestellt werden. Heute ist faktisch der Rat die "zweite Kammer" und nach wie vor neben der EU-Kommission der mächtigste oder überhaupt der mächtigste Akteur. In einem bundesstaatlichen Modell müsste der Rat entweder Macht ans Parlament abgeben oder überhaupt verschwinden, ein Ersatz durch einen Senat wäre denkbar.
Die großen Verlierer wären demnach die nationalen Regierungen, die den Rat beschicken, instruieren und weitere Mitspracherechte haben. Dass sich unter den nationalen Regierungen eine ausreichende Mehrheit für entsprechende Reformen fände, scheint gegenwärtig und wohl noch längere Zeit unwahrscheinlich.
Allerdings sind Überraschungen nicht ausgeschlossen. Wenn die Not wirklich groß war, haben sich die damaligen EG- bzw. heutigen EU-Staaten am Ende jeweils doch zu entsprechenden Reformen aufgerafft.