Tobias Ginsburg zu den intensiven Kontakten bzw. der Personalunion von "Reichsbürgern" und "AfD-Spitzenpolitikern" im Zusammenhang mit Hanau.
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Experte: "AfD verbreitet Theorien der 'Reichsbürger'"
Nach dem Attentat in Hanau, bei dem in der Nacht zum Donnerstag elf Menschen getötet wurden, werden Forderungen nach Konsequenzen laut. Der Attentäter, ein 43 Jahre alter Mann, hatte in einem mehrere Seiten langen Schreiben Verschwörungstheorien und rassistische Ansichten veröffentlicht.
Der Generalbundesanwalt teilte am Donnerstagnachmittag mit, Ermittlungen wegen Verdacht auf einen rassistisch motivierten Terroranschlag einzuleiten.
Für die Ideologen und Politiker der extremen Rechten war die Sache aber eindeutig: Sie stritten jede Verbindung zu dem Attentäter ab.
Björn Höcke versuchte wie viele seiner Kollegen in der AfD, den Attentäter als wahnsinnigen Mörder darzustellen:
Der Sprecher der rechtsextremen Identitären in Österreich, Martin Sellner, bezeichnete den Täter Tobias R. als "Irren", der nichts mit rechtem Gedankengut zu tun hatte.
Dabei führt das Bekennerschreiben von Tobias R. schnell zum neurechten Gedankengut, dass auch in den Reden von Höcke und Sellner zu finden ist.
Im Gespräch mit watson erklärt Tobias Ginsburg die Verbindungen zwischen dem Attentäter von Hanau und der AfD und den neurechten Ideologen. Der Autor und Experte für Verschwörungstheorien war mehrere Monate undercover in der Reichsbürger-Szene und bei rechtsextremen Verschwörungstheoretikern unterwegs und hat seine Erfahrungen in seinem Buch "Die Reise ins Reich. Unter Reichsbürgern" veröffentlicht.
"Bei jedem rechtsextremen Anschlag habe ich kurz Angst, den Attentäter kennen zu können"
Watson: Sie haben selbst undercover einige Zeit in der sogenannten Reichsbürgerszene verbracht. Haben Sie solche Menschen wie den Attentäter von Hanau dort auch getroffen?
Tobias Ginsburg: Leider Gottes, ja. Und zwar oft. Bei jedem rechtsextremen Anschlag habe ich kurz Angst, den Attentäter kennen zu können. Ich war gute acht Monate in dieser Szene unterwegs und habe schnell feststellen müssen, dass die Übergänge von klassischen Reichsbürgern und Verschwörungstheoretikern zu organisierten Rechtsradikalen, aber auch in die neurechte und rechtspopulisische Szene fließend sind. Personell wie ideologisch.
Der Weg von harmlos erscheinenden esoterischem Rumgeschwurbel zu rechtsextremen Wahnwelten ist entsetzlich kurz. Und die grundsätzlichen Vorstellungen sind dieselben: Wer glaubt, dass er grundsätzlich belogen wird, von Presse, Politik, Medizin und Wissenschaft, wer sich auf die Suche nach geheimen Wahrheiten macht, der ist leicht empfänglich für rechtsextreme Ideologie.
Hatten Sie den Eindruck, dass diese Menschen auch gewalttätig werden könnten?
Ich traf auf einige Menschen mit riesigem Aggressionspotential, die glauben in Notwehr handeln zu müssen. Ich wurde auch Mitglied einer Vereinigung von ganz unterschiedlichen Gruppierungen, die gemeinsam den Sturz der Regierung planten. Aber auch wenn es paradox klingt: Die vermutlich unmittelbarste Gefahr geht von denen aus, die keinen direkten Anschluss an Gleichgesinnte finden oder ihn verlieren. Befeuert von den rechten Parolen führt ihre Radikalisierung erst in die Isolation, dann zur Tat.
Sie haben die wirren Aufzeichnungen des Attentäters von Hanau gelesen. Was ist das für ein Mensch?
Auf den ersten Blick ist da ein Mensch mit psychischen Problemen, der sich in einem Sumpf aus Verschwörungsmythen und Paranoia verloren hat. Er glaubt, überwacht und manipuliert zu werden, spricht von finsteren Geheimorganisationen und bösen Mächten, macht das an seinem nichtexistenten Liebesleben genauso fest wie an Hollywood oder dem deutschen Fußballbund, dem er freundlicherweise gleich ein paar Ratschläge gibt. In einem Video redet er auch mal von Außerirdischen.
Das klingt zunächst harmlos und eher kurios...
Ja, aber durchzogen ist das Ganze von völkischen Ideen und zutiefst rassistischen, widerwärtigen Vernichtungsfantasien. Sicher, das wirkt in seiner Gesamtheit erstmal bekloppt oder pathologisch, aber wie schon beim Video des Mörders aus Halle oder aus Christchurch steckt hinter dem scheinbaren Wahnsinn ein System, ein harter, ideologischer Kern.
Und der ist?
Das ist die klassische Verschwörungstheorie der extremen Rechte: Die Gruselgeschichte, dass das Volk oder gleich die ganze weiße Rasse bedroht sei, womöglich vom Aussterben. Gekoppelt ist das mit dem mal mehr, mal weniger offen antisemitisch formulierten Glauben an fremde, fiese Mächte, die das Land steuern, eine quasi allmächtige Weltverschwörung, die es zu bekämpfen gilt. Das eint rechtsextreme Ideologen.
Der Kopf der Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, ist der Meinung, das hätte nichts mit rechtem Gedankengut zu tun, der Attentäter wäre einfach nur ein "Irrer"…
Sicher sagt er das, muss er auch: Rechte Ideologen versuchen so, ihre eigenen Vorstellungen von der konsequenten Umsetzung ihrer Ideen abzugrenzen. Was Sellner dabei eben verschweigt, ist, dass die rassistischen Fieberträume des Attentäters aus Hanau auf dem aufbauen, was auch die Identitären glauben und mitunter von AfD-Bundestagsabgeordneten in der Öffentlichkeit diskutiert wird.
Welche ist das?
Die Identitären berufen sich auf die Theorie vom "großen Austausch" oder der "Umvolkung", der Glaube an orchestrierte Flüchtlingsströme, die nach und nach das Volk zersetzen oder gleich die "weiße Rasse" mit "Mischvölkern" ersetzen sollen. Oftmals wird hier der jüdische Milliardär George Soros als Strippenzieher genannt, der für Antisemiten schon seit langem als Oberbösewicht herhalten muss. Dabei ist dieses böse Märchen keineswegs neu.
Wo hat die Erzählung seinen Ursprung?
Das finden wir schon in Hitlers "Mein Kampf" und es hält sich seitdem beharrlich in der rechtsextremen Szene. Aber während Anfang der 1990er Jahre österreichische Politiker noch für ihr Geschwafel von der Umvolkung aus der rechtsradikalen FPÖ flogen, bringt die AfD heute diese Denke in die Parlamente. Und genau hier müssen wir eine ganz klare Grenze ziehen, zwischen politischer Meinung und rassistischer, rechtsextremer Verschwörungsideologie.
"Jemand wie der Attentäter von Hanau meint in Notwehr handeln zu müssen, um dunkle Mächte aufzuhalten"
Und wo wären die?
Es ist zum Beispiel eine Sache zu sagen, Deutschland sei kein Einwanderungsland und sich gegen Migration zu stellen. Das ist nicht meine Meinung, aber bitteschön. Hier könnte man diskutieren. Aber es ist etwas anderes zu sagen, es gäbe einen großen Volksaustausch und Migration würde gezielt eingesetzt, um dem "Volk" zu schaden, von einem sinisteren Komplott zu raunen und das Ganze natürlich noch mit biologischen Rassismen aufzuladen.
Welche Verantwortung hat die AfD für die Verbreitung von diesen Verschwörungstheorien?
Die Verbreitung ist das eine. Sie machen Menschen für diesen Wahn empfänglich. Aber auch der Schaden, den die Rechtspopulisten in den Milieus der Verschwörungstheoretiker angerichtet haben, ist monströs. Ich konnte das während des Wahlkampfes 2017 und unmittelbar danach aus nächster Nähe beobachten: Die Rhetorik der AfD gegen "Lügenpresse" und "Kartellparteien", "heimlichen Souveränen" und "Soros-Flotten" war für sehr viele eine immense Bestätigung in ihrem Kampf um Land, Volk und Wahrheit.
Wie wirkt sich das aus?
Die rassistischen und antisemitischen Subtexte wurden aggressiver und ungenierter, und selbst diejenigen, die niemals wählen gehen würden, freuten sich, dass die Wahrheit nun endlich ans Licht käme. Man hoffte auf den Fall des Systems und ließ sich von den islamophoben und rassistischen Parolen beeindrucken. Und meine Güte, die Verschwörungsideologen sitzen halt auch einfach in der Partei. Auch die AfD verbreitet die Theorien der "Reichsbürger".
Und ist die Parteispitze der AfD davon informiert?
Es gibt eine E-Mail von Alice Weidel aus dem Jahr 2013, in der sie von einem nahenden Bürgerkrieg schreibt, behauptet, Deutschland sei unsouverän, deutsche Politiker nur Marionetten der Siegermächte und so weiter. Als Quelle für dieses Reichsbürgergeschwafel gab Weidel in der Mail die Seite Terra-Kurier an – eine völlig beknackt-esoterische Neonaziseite.
Wir sollten also vorsichtig sein, wenn wir von perfiden Strategien der Neurechten und Populisten sprechen. Stattdessen müssen wir uns damit abfinden, dass diese Menschen auch einfach glauben, was sie sagen. Rechtsextreme Verschwörungsideologie ist schon längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das ist der eigentliche Wahnsinn.