Die Totenzahl wurde nie "nach unten korrigiert"
Nun kann eine Stadt zwar weder kollektiv schuldig noch kollektiv unschuldig sein. Doch dieser Umstand wird ebenso gerne ausgeblendet wie die Tatsache, dass Dresden zwar kunst- und Kulturstadt war, aber eben auch eine Hochburg des Nationalsozialismus. Aspekte der Logik ziehen oft ebensowenig. So würde etwa Chrupallas Opferzahl von 100.000 bedeuten, dass durch das waffentechnisch konventionelle Spreng- und Brand-Bombardement auf Dresden nahezu eineinhalb mal so viele Menschen gestorben seien wie durch die Atombombe auf Hiroshima. Ebenfalls vereinzelt im Umlauf: die Angabe von 600.000 Toten – ein Zehntel der Holocaust-Opfer.
Tatsächlich ist die Opferzahl niemals „nach unten korrigiert“ worden, wie Chrupalla behauptet. Es existiert nur ein einziges Originaldokument, das auf tatsächlichen Zählungen basiert: die mehrfach auf ihre Echtheit überprüfte „Schlussmeldung des „Höhere SS- und Polizeiführer Elbe“ vom 15. März 1945. Darin heißt es: „Bis 10. März 1945 früh festgestellt: 18.375 Gefallene, 2.212 Schwerverwundete, 13.718 Leichtverwundete ... Die Gesamtzahl der Gefallenen einschl. Ausländer wird auf Grund der bisherigen Erfahrungen und Feststellungen bei der Bergung nunmehr auf etwa 25.000 geschätzt.“ Des Polizeiführers Vermutung, dass „unter den Trümmermassen, insbes. der Innenstadt ... noch mehrere Tausend Gefallene liegen“, hat sich während der Wiederaufbau- und Grabungsarbeiten in der Stadt nach dem Krieg nicht bestätigt.
Die Zahl von 25.000 wurde im April 1946 vom Statistischen Amt der Dresdner Stadtverwaltung bestätigt. Zwar legte das Nachrichtenamt der Stadt noch im selben Jahr die Zahl von 35.000 Toten als offizielle Angabe fest. Doch Unterlagen mit Hinweisen für die Gründe dieser höheren Angaben existieren nicht. Dennoch blieb über die gesamte Zeit der DDR hinweg 35.000 die offizielle Zahl der Opfer in Dresden. Alle höheren Bezifferungen haben sich als Fälschungen – teils aus dem NS-Propagandaministerium – oder unbelegbare Aussagen von Einzelpersonen erwiesen.
Es gab jahrelange Forschungen von Historikern
Auch die von Chrupalla erwähnte Zahl des Roten Kreuzes von 275.000 Toten entstand 1948 im fernen Genf nur durch „Hörensagen“. Das entsprechende Dokument der Hilfsorganisation selbst räumt explizit ein, dass diese Angabe nicht durch eigene Untersuchungen zustande kam. Vielmehr „aus den Berichten von Reisenden und Augenzeugen, Zeitungsmeldungen und den Aussagen von Hilfsorganisationen“. Diese hatten jedoch womöglich Ausschnitte des Geschehens und die Folgen gesehen, wie auch die von Chrupalla benannten Zeitzeugen. Doch niemand davon hatte einen Gesamtüberblick über die Ereignisse samt der Toten noch Zugriff auf ernsthaft ermittelte und belastbare Zahlen.
Um dem politisch-ideologischen Missbrauch der Opfer des 13. Februar 1945 etwas entgegenzusetzen, hatte die Stadt Dresden im Jahr 2004 eine Historikerkommission ins Leben gerufen. Das Team aus auswärtigen und einheimischen Experten, darunter auch Zeitzeugen, trug in den folgenden Jahren sämtliche verfügbaren Quellen wie Bestattungsbücher, Totenregister, Meldebögen, Zeitungsberichte und sonstige Angaben zu den Totenzahlen zusammen. Nach intensiven Forschungen stellte die Kommission 2010 ihre Ergebnisse vor: Die Angaben des Polizeiführers vom 15. März 1945 über bis zu 25.000 Opfer können als bestätigt gelten.
Keine Hinweise auf Zehntausende tote Flüchtlinge
Zudem fanden die Forscher heraus: Dresden war damals Zuzugssperrgebiet. Zwar befanden sich Flüchtlinge in der Stadt, doch sie mussten sofort weiterziehen. Auch für die besonders betroffenen Wohngebiete wie Altstadt und Johannstadt fanden sich keine Hinweise auf den oft behaupteten Aufenthalt Zehntausender Menschen aus den Ostgebieten am 13. Februar 1945. Obendrein konnte das Team „im Ergebnis insbesondere der Untersuchung archäologischer Funde und fotografisch dokumentierter Brandschäden“ nachweisen, „dass die im Feuersturm tatsächlich erreichten Brandtemperaturen in der Mehrzahl der Keller- und Straßensituationen nicht ausreichte, Leichen rückstandslos zu verbrennen.“ Die Kommission schloss daher aus, „dass eine größere Zahl von Menschen – also einige Tausend oder gar Zehntausend – in der Bombennacht quasi ,spurlos‘ verschwunden seien“.
Gleichwohl belegen die ebenfalls erwartbaren positiven Reaktionen auf Tino Chrupallas erneute Vervielfachung der Dresdner Opferzahlen: Die Wissenschaft wird es im Zeitalter der Fake News – und gerade bei hoch emotionalen Themen wie dem 13. Februar – weiterhin schwer haben, sich gegen Faktenleugner durchzusetzen. Nicht minder gegen die beharrlichen Überzeugungen von Menschen, die lieber den vor Jahrzehnten unter extremen psychischen Bedingungen wie Schock, Panik, Todesangst zustande gekommenen Erinnerungen einiger Überlebender glauben als nüchternen Forschungserkenntnissen.
>> Hier geht es zum Bericht der Historikerkommission <<