Spoiler
Maaßen will mitspielen. Er hat sogar schon öfter öffentlich darüber nachgedacht, mit wem seine Partei im Fall der Fälle koalieren würde. Mit der CDU eher nicht, obwohl die Werteunion ja immerhin eine Abspaltung der Original-Union ist, obwohl er selbst ja lang genug Mitglied dort war. Mit SPD und Grünen schon dreimal nicht. Dafür aber gern mit der AfD. In den Wahlkämpfen im vergangenen Jahr sagte Maaßen immer wieder, er werde mit jedem reden. Brandmauern? Müsse man einreißen.
Fast gleichzeitig hat auch Sahra Wagenknecht ihre Partei gegründet, noch so eine, die mit dem System aufräumen und radikal anders sein will. Wagenknecht ist bei den Wahlen 2024 allerdings durchmarschiert. Sie gewann auf Anhieb sechs Sitze im EU-Parlament. In Thüringen und Brandenburg regiert das BSW jetzt mit.
Er will mitspielen, 2024 sollte eigentlich sein Jahr werden. Aber daraus wurde nichts
Und Maaßen? Bei der Europawahl ist die Werteunion gar nicht erst angetreten, in Sachsen und Brandenburg holte sie gerade mal 0,3 Prozent der Stimmen, in Thüringen 0,6.
Dann implodierte die Ampelkoalition, die Bundestagswahl wurde vorgezogen auf den 23. Februar. Bis zum regulären Wahltermin im September hätten sie bei der Werteunion noch genug Zeit gehabt, Kandidaten zu finden und vor allem Geld, um einen halbwegs professionellen Wahlkampf zu organisieren. Aber das ging ihnen dann doch zu schnell. Ende November schrieb der Bundesvorstand an die Parteimitglieder: Die Landesverbände, die sich dazu imstande fühlen, könnten zur Bundestagswahl antreten. Die Gesamtpartei werde es aber lassen.
Ist also alles schon wieder vorbei für Hans-Georg Maaßen und seine Karriere in der Politik? Oder tüftelt er, der so viele Geheimnisse kennengelernt hat in seiner aktiven Zeit beim Inlandsnachrichtendienst, schon an seinem nächsten Schritt?
Im Jahr 2024 ist ja noch etwas dazugekommen, das es in der Geschichte der Republik noch nie gab:
Der 1962 in Mönchengladbach geborene Dr. Maaßen habe, erstens, Verbindungen zur Reichsbürger-Szene und zu Rechtsextremisten, steht in dem zwanzig Seiten langen Bescheid des Verfassungsschutzes, den Maaßen selbst im Januar öffentlich gemacht hat, nachdem er über seinen Anwalt um Auskunft ersucht und sie bekommen hatte. Und es sind, zweitens, zig Äußerungen von Maaßen aufgeführt, die in seiner Akte gelandet sind: wie er Menschen in Afrika „kulturell zurückgeblieben“ nennt. Wie er die deutsche Parteienlandschaft als „Kartell“ bezeichnet. Wie er in einem Aufsatz von einem „neuen Totalitarismus“ schreibt, den „sozialistische und globalistische Kräfte“ durchsetzen wollten. „Globalisten“ gilt unter Fachleuten als antisemitischer Code. Während der Pandemie hatte Maaßen auch immer wieder von einem angeblichen „Great Reset“ fabuliert, einem Plan angeblicher Eliten, um eine neue Weltordnung zu errichten.
Aber so eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz muss nicht das Ende sein. Wer wüsste das besser als er. Man werfe nur mal einen Blick auf die AfD, die sich als „Opfer“ des Verfassungsschutzes zu inszenieren weiß.
Maaßen postete das Schreiben seiner früheren Mitarbeiter gleich auf X. Dazu schrieb er: „Das ist ein Missbrauch des Verfassungsschutzes zur Bekämpfung politischer Gegner und ein Angriff auf die freiheitlich demokratische Grundordnung.“ Die Bundesregierung habe „offenkundig Angst vor mir und der Werteunion“.
Der Frust begann, als er merkte, dass Angela Merkel gar nicht auf ihn hört
Auf seiner Website steht neben einem großen Foto von ihm eine Selbstbeschreibung: „Kämpfer für die freiheitlich demokratische Grundordnung, für Meinungsfreiheit, gegen Sozialismus und Faschismus egal in welcher Farbe“. Andere würden vielleicht sagen: Der Mann ist ein Schwurbler, ein Verschwörungsideologe, auf der Bühne in der stickigen Halle in Koblenz aber sagt er: „Ich empfinde mich als Verschwörungsanalytiker.“ Freundliches Gelächter in den vorderen Reihen, ein paar Zuhörer klatschen.
Die Tatsache, dass der Verfassungsschutz ihn heute noch so wichtig nimmt, dass er ihm als Einzelperson ein derart dickes Dossier widmet – ist fast schon eine Art Kompliment. Andere ignorieren ihn. Und vielleicht muss man es auch so sehen: Nichts hat Maaßen in all seinen Jahren im Staatsdienst mehr geärgert, als ignoriert zu werden. Vielleicht hat ihn, der von seiner intellektuellen Überlegenheit immer sehr überzeugt war, auch nichts so sehr angestachelt.
Maaßen, der 2012 von einem CSU-Innenminister ins Amt des Verfassungsschutzchefs befördert wurde, war lang ein Teamspieler. Mit den Vertretern einer innenpolitisch harten Linie im Bundestag, wie sie vor allem bei CSU und CDU zu finden sind, kam er bestens aus, sie schätzten seine Arbeit, auch sein Gespür für die richtigen Schlagzeilen. Der Frust begann 2015, als er und andere Sicherheitsfachleute den Eindruck bekamen, dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel gar nicht auf sie höre – schon gar nicht im Zusammenhang mit Flüchtlingen.
Maaßen warnte damals vor Gefahren durch „ungesteuerte Migration“, aber egal wie laut er dies tat, im Büro der Bundeskanzlerin gab es für ihn keinen Termin. Mal versuchte er es mit besonderer Zuspitzung: „Haben Sie Kinder? Dann lassen Sie sie schon mal Arabisch lernen“, ätzte er vor Kollegen. Einmal ließ er sich sogar hinreißen, Merkel in kleiner Runde zu verspotten, als „Pfarrerstochter“, die doch bei den „Pietkong“ sei, erinnern sich Ohrenzeugen.
Kaum etwas hat ihn damals so sehr auf die Palme gebracht wie dieses Erlebnis: Als Angela Merkel im Herbst 2015 nach Großbritannien eingeladen war, auf den Landsitz des dortigen Premierministers David Cameron in Chequers, durfte sie bei einem Briefing der versammelten britischen Geheimdienstchefs dabei sein. Darunter der Chef des MI5, des britischen Inlandsnachrichtendiensts. Der rief vorher seinen Freund Hans-Georg in Deutschland an, ob er, der Brite, der deutschen Kanzlerin irgendetwas ausrichten könne?
Maaßen soll es als besondere Demütigung empfunden haben, dass Merkel lieber mit ausländischen Geheimdienstlern sprechen wolle als mit ihm, sagt ein Weggefährte Maaßens, und so hat er, um Gehör zu finden, immer stärker den Weg in die Medien gesucht. In die Bild-Zeitung zum Beispiel, gern auch mit Provokationen, die im Kanzleramt Verblüffung auslösen würden, Verärgerung, Hauptsache, irgendeine Reaktion.
Bis hin zu der steilen These im September 2018, dass die rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz in Wahrheit nur von linken Aktivisten und Medien aufgebauscht seien – obwohl sich auch schon Merkels Regierungssprecher über „Hetzjagden“ Sorgen gemacht hatte.
Die Aufregung, die folgte, war groß. Und wie Hans-Georg Maaßen es empfand, dass dann die CDU-Kanzlerin vor Journalisten davon sprach, die große Koalition werde „an der Frage des Präsidenten einer nachgeordneten Behörde nicht zerbrechen“, man kann es sich vorstellen.
Es gibt Werteunion-Käppis und ein Programm, so dünn, dass es auf einen Flyer passt
Damals hielt CSU-Innenminister Horst Seehofer zu ihm. Er wollte Maaßen sogar noch zum Staatssekretär befördern, um ihn aus dem Geheimdienst hinauszukomplimentieren. Dann, als die SPD aufschrie, wenigstens zum Abschiebungsbeauftragten des Ministeriums. Als Maaßen aber vor anderen europäischen Geheimdienstlern in einer Abschiedsrede von „linksradikalen Kräften in der SPD“ fabulierte, nahm er sich selbst aus dem Spiel. Es war der ausgestreckte Mittelfinger gegen die eigene Regierung. Seine Karriere war vorbei.
Im November 2024 nun hat Angela Merkel ihre politischen Memoiren vorgelegt, ein wuchtiges Werk von 736 Seiten, so akribisch und chronologisch, dass es sich über weite Strecken wie ein verschriftlichter Terminkalender liest. Gern wüsste man, wie sie im Rückblick über jenen Herbst 2018 denkt, als sie tagelang mit Seehofer und der damaligen SPD-Chefin Andrea Nahles über Maaßens Zukunft verhandeln musste.
Der Blick geht also ins Personenregister im Buch, aber zwischen Heiko Maas, Hans-Christian Maaß und Emmanuel Macron: kein Hans-Georg Maaßen, nirgends. Tja.
Im Spätherbst 2024 steht Hans-Georg Maaßen auf einer Bühne in einem Berliner Tagungshotel, der Raum ist genauso fensterlos und stickig wie die Halle in Koblenz. Unten im Erdgeschoss des Multifunktionsgebäudes schleppen Berliner ihre Wochenendeinkäufe und bekommen nichts mit davon, dass hier oben Großes passieren soll. Ein bisschen geschmückt haben Maaßens Leute den Saal auch, links von der Bühne hängt ein rotes Banner mit Gesichtern: von der Leyen, Habeck, Scholz und, ja, Lenin. „Wir tanzen nicht nach eurer Pfeife“, steht da. Womit der Ton gesetzt wäre.
Maaßens Werteunion veranstaltet an diesem Samstag ihren ersten Bundesparteitag.
Es ist der Tag, an dem Philipp Scheidemann 1918 die Republik ausrief, an dem 1923 Hitler und Ludendorff zu putschen versuchten, an dem 1938 Synagogen und jüdische Geschäfte brannten, an dem 1989 die Mauer geöffnet wurde.
Am 9. November 2024 also tritt Maaßen ans Rednerpult und erinnert mit leiser Stimme an die Novemberpogrome und an die Tumulte, die es im Herbst in Amsterdam gegeben hat, zwischen israelischen Fußballfans und propalästinensischen Demonstranten. „Wer Hetzjagden sehen will“, Maaßen wird lauter, „der muss nach Amsterdam fahren und nicht nach Chemnitz.“ Das ist sie wieder, die alte Geschichte mit den „Hetzjagden“. Die Kränkung, die ihn nicht loslässt.
Und noch eine 9.-November-Geschichte: Der Fall der Berliner Mauer sei „eine friedliche Revolution von mutigen Menschen“ gewesen. Aber 35 Jahre nach diesem Mauerfall stehe jetzt eine neue Mauer in Deutschland, die Brandmauer. Gelächter im Saal. Auch sie, sagt Maaßen, sei ein „antifaschistischer Schutzwall“. Und wieder wird er laut: „Diese Brandmauer spaltet das Land, spaltet Familien, spaltet Freundschaften.“ Also: Weg damit.
Man könnte sich fragen, wo da überhaupt noch ein Unterschied ist zwischen der AfD und dieser Werteunion. Maaßen wollte eigentlich eine Marktlücke erkannt haben und füllen: zwischen der in Teilen rechtsextremen, weil völkischen AfD und der Union, die, darum der Name seiner Bewegung, ihre wie auch immer gearteten „Werte“ unter Angela Merkel verraten und auch unter Friedrich Merz nicht wiedergefunden habe. An jenem Samstag im November merkt man Maaßen an, welche Freude ihm sein Wortspiel „Merzel-Union“ macht. Er wiederholt es gleich mehrfach.
Am Einlass geben freundliche Damen und Herren Goodie-Bags aus, darin, neben einem Werteunion-Kugelschreiber und einem strahlend weißen Werteunion-Käppi auch ein Werteunion-Programm. Das ist zwar noch so dünn, dass es auf einen Flyer passt, aber zum Querlesen reicht es: gegen „ideologisierte Bildung und die Gendersprache“, gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in seiner derzeitigen Form, gegen massenhaften Asylmissbrauch, gegen Klimaschutz, gegen zu viel staatlichen Eingriff in die Wirtschaft.
So viel zu den programmatischen Ähnlichkeiten mit der AfD. Mal abgesehen davon, dass Maaßen auch rhetorisch nicht wahnsinnig weit weg ist von Alice Weidel, wenn er, wie erwähnt, über „Globalisten“ schimpft oder, wie hier auf seinem Parteitag, über die „Kartellparteien“, die „unsere Feinde“ seien. Und immerhin waren Vertreter von AfD und Werteunion dabei, als Ende November 2023 in einer Potsdamer Villa der Rechtsextremist Martin Sellner sein Konzept für eine „Remigration“ von Ausländern sowie teils auch Deutschen mit Migrationshintergrund präsentierte.
Und dann ist da der Ex-AfD-Mann Meuthen, der es jetzt mit der Werteunion versuchen will
Bei Filterkaffee und Currywurst lässt sich in den Pausen des Parteitags erkunden, wen Hans-Georg Maaßen hier so versammeln konnte in seiner Partei. Anzutreffen sind zum Beispiel: Corona-Leugner, Kleinunternehmer, die, wie sie sagen, unter Steuern und Bürokratie zusammenbrächen, bibeltreue Christen.
Anzutreffen ist auch Peter Scholze, Kaffeetasse in der Hand. Nicht, dass Parteiarbeit neu für ihn wäre. 44 Jahre CDU, sagt er, die ersten Flugblätter und Wahlplakate habe er schon mit vierzehn verteilt. Vor zwei Monaten aber sei er ausgetreten, die Hoffnung, dass Merz die Partei wieder so richtig auf rechts dreht, hat er mittlerweile aufgegeben. Maaßen aber habe er immer geschätzt, weil er so „direkt“ sei. Nicht zu direkt? „Nur weil man dieselben Probleme adressiert wie die AfD, ist ja nicht die gleiche Idee dahinter“, sagt Peter Scholze.
Vorn sitzt noch einer, der hier einen Neustart wagt, nur gewissermaßen aus der entgegengesetzten Richtung kommend: Jörg Meuthen. Neben Maaßen ist er wahrscheinlich der Bekannteste, den es ins Sammelbecken Werteunion gespült hat. Meuthen war von 2015 bis 2022 AfD-Chef. Manche seiner alten AfD-Gefährten sagen, er sei dem Machtkampf mit Björn Höcke und dessen völkischen Getreuen nicht gewachsen gewesen und deshalb ausgetreten. Er sagt, er sei aus Überzeugung gegangen. Weil die AfD ihm zu rechts geworden sei.
Maaßen und er kennen sich aus den alten Zeiten, als er noch AfD-Chef war und Maaßen Verfassungsschutzpräsident. Wobei Meuthen Wert auf die Feststellung legt, dass es da noch keine politische Freundschaft gegeben habe. Als Maaßen Ende 2018 seinen Verfassungsschutz-Job verlor, hatte Meuthen ihn öffentlich in seine damalige Partei, die AfD, eingeladen. Jetzt ist es, sechs Jahre später, eben umgekehrt gekommen.
Im Parteitagssaal sitzt Meuthen an jenem Samstagvormittag in der ersten Reihe und hört seinem Vorsitzenden zu, die Ellenbogen hat er auf den Tisch gestützt. Er trägt einen dunklen Anzug. Manche der schrilleren Leute hier im Saal, die schwarz-rot-goldene Krawatten tragen oder Shirts mit Aufschriften wie „Aus Liebe zu Deutschland“, schaut Meuthen eher skeptisch an.
Ein paar Tage vorher, bei der Veranstaltung in der Koblenzer Rhein-Mosel-Halle, hatte er sich ein wenig Zeit genommen, um zu erklären, weshalb er es jetzt mit der Werteunion versuchen will, nachdem sein kurzer Post-AfD-Ausflug zur Zentrumspartei keine überwältigenden Wahlerfolge gebracht hatte. Er sehe mit Maaßen als Reiz- und Galionsfigur einfach Potenzial, enttäuschte CDU-Wähler zu gewinnen. Die AfD werde ja immer radikaler, und dazwischen tue sich eben diese Marktlücke auf.
Meuthen wird an diesem 9. November dann auch gleich noch zum Parteivize gewählt, der Applaus im Saal ist groß, er sagt, er freue sich auf die Aufgabe. Er soll jetzt unter anderem auch zuständig sein für die Mitgliedsanträge. Bei einer neuen Partei, zumal einer mit einem solchen Chef, kämen auch manche Spinner um die Ecke, sagt Meuthen noch. Echte Rechtsextreme wolle er aussortieren. Dass einer mal in der AfD war, reicht aber nicht als Ausschlussgrund, offensichtlich, sonst wäre er selbst ja gar nicht hier.
Tatsächlich sagen an jenem Samstag einige auf die Frage, was sie bisher so gemacht haben, dass sie davor in der AfD waren. Und dass sie raus seien wegen Höcke und der allgemeinen Totalradikalisierung. Und bei allen Überschneidungen mit der AfD – es gibt durchaus elementare Unterschiede, zum Beispiel die große Russland-Nähe der AfD, ihre Nato-Skepsis. Die Werteunion bekennt sich zur Nato, so steht es zumindest im Programm. Vielleicht sind das alles Gründe, weshalb Maaßen nicht direkt in die AfD eingetreten ist.
Wobei das auch die AfD selbst womöglich gar nicht gewollt hätte. Vor ein paar Monaten sagte ein hoher Parteifunktionär in kleiner Runde, dass sie Maaßen hier nicht bräuchten. Die AfD steht in den Umfragen momentan gerade bei fast zwanzig Prozent, zweitstärkste Kraft in der Bundesrepublik. Auch auf die Frage, ob er nicht Sorge habe, dass Maaßen und seine Werteunion ihnen Stimmen wegnehmen könnten, musste der AfD-Mann nicht lang überlegen. „Die sind so klein, die sind uns wirklich egal.“ Dann lachte er.
Text: Christoph Koopmann, Ronen Steinke; Fotos: Friedrich Bungert; Digitales Storytelling: Karin Steinberger; Schlussredaktion: Florian Kaindl