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Währenddessen hat Premierminister Rishi Sunak in einem neuen Anfall von fünftklassiger politischer Einfältigkeit im April ein Angebot der EU über eine gegenseitige „Youth Mobility“-Vereinbarung abgeschmettert. Labour hat ihm eifrig und stumpfsinnig beigepflichtet. Keine der beiden Parteien scheint mehr fähig zu sein, den Unterschied zwischen der von ihnen so gefürchteten europäischen Personenfreizügigkeit und einem Jugendaustauschprogramm zu erkennen. Tatsächlich scheint keine der beiden Parteien mehr fähig zu sein, der Lebensrealität oder den Wünschen von Leuten unter 50 entgegenzukommen.
Der Premierminister lehnt „Youth Mobility“ ab – in einem Akt fünftklassiger politischer Einfältigkeit
Großbritannien wird gerade von einer sehr besonderen Form politischen Stillstands entkräftet. Alle – wirklich alle – begreifen inzwischen, dass jeder der letzten drei Premierminister noch verheerender war als sein jeweiliger Vorgänger.
Theresa May war den Aufgaben nicht gewachsen.
Boris Johnson war ein unglückseliger Clown.
Und was Liz Truss war, kann man eigentlich nur als absonderliche Spezies von Anti-Premierminister beschreiben, für die selbst die Mittel der Satire nicht mehr hinreichen. Sie persönlich hat jeden britischen Immobilienkreditnehmer Hunderte, wenn nicht Tausende Pfund im Monat gekostet.
Sunaks einziger Vorzug besteht eigentlich darin, dass er keiner seiner Vorgänger ist. Allerdings ist er fade und schnell gereizt, ein verspießerter Möchtegern-Tech-Bro mit der emotionalen Reichweite eines pubertierenden Faxgeräts. Er hat die Neuwahlen während eines Wolkenbruchs angekündigt, komplett übergossen, und es sieht so aus, als würde er sie nun auch auf absolut erdrutschartige Weise verlieren.
Aber auch Keir Starmer, der demnach vermutlich der nächste Premierminister sein wird, ist zutiefst unterwältigend, wenn es darum geht, irgendeine Vision zu entwickeln. Starmer ist als Typ rechtsanwaltsartig, methodisch und sehr frei von Charisma. Er weigert sich einfach, den Brexit auch nur zu erwähnen, obwohl es der größte weiße Elefant in der Geschichte sowohl der Elefanten als auch der britischen Politik ist.
Er hat mit Blick auf seinen Vorsprung in den Umfragen schlicht Angst davor, dass schon das Benennen des traumatischen Ereignisses ihm schaden und im Gegenzug die irren Extremisten stärken könnte, die mit dem Thema bereits die Tories gekapert haben.
Wohin hat das das Land geführt? Da sind zunächst einmal die offensichtlichen Probleme. Personalengpässe in den Krankenhäusern und im Gastgewerbe. Endlose Lkw-Schlangen an den Grenzübergängen. Einwanderungszahlen, die sogar noch einmal gestiegen sind, weil das neue System der Arbeitsvisa zu einem Zuwachs an Nicht-EU-Immigranten geführt hat, der größer ist als die Zahl der Europäer, die vorher ohne Visum ins Land kamen. Dies wiederum führt zu der nicht enden wollenden Schleife an politischen Unsinnigkeiten und Ablenkungsmanövern in Bezug auf die Migranten, die mit dem Boot über den Kanal kommen und die Sunak nun postwendend nach Ruanda abschieben will.
Industrie und Handwerk haben zu kämpfen. Alle vergleichbaren Volkswirtschaften hatten während der Pandemie 2020 an Handelsvolumen eingebüßt. Nur die britischen Handelsaktivitäten (Exporte wie Importe) haben sich gemessen an den anderen G-7-Staaten nie wieder erholt. Im dritten Quartal 2023 lag sie um 1,7 Prozent unter dem Niveau vor der Pandemie. Die der übrigen G-7-Staaten ist im Durchschnitt um 1,7 Prozent über das Niveau vor der Pandemie gestiegen.
Das Wort der Stunde lautet „Schrumpfung“ – die Liste der Schäden ist endlos
Schrumpfung ist das Wort zur Lage. Überall werden subtile und manchmal auch weniger subtile Anzeichen von Schrumpfung sichtbar. Das britische National Institute of Economic and Social Research (NIESR) schätzte im November vergangenen Jahres, dass der Brexit die Wirtschaft um zwei bis drei Prozent geschrumpft hat, wobei die Auswirkungen bis 2035 auf fünf bis sechs Prozent steigen dürften.
Eine andere Forschungsgruppe, Cambridge Econometrics, hat festgestellt, dass der Brexit das jährliche Wirtschaftswachstum in Großbritannien bis 2035 um 0,4 Prozentpunkte senken und die Investitionen um ein Drittel verringern dürfte. Die Liste der Schäden für das Land ist schier endlos. Aber wie – um auf unsere dritte Frage zurückzukommen – äußert sich all das im täglichen Leben?
Zwei Beispiele, um Ihnen mal einen Eindruck zu geben: Das erste ist, dass wir jetzt sogar in den Supermärkten dauernd mit hartnäckig als „British“ vermarkteten – und sogar beflaggten – Produkten bombardiert werden: „Proper British Carrots“ mit gewaltigem Union Jack auf der Verpackung. „Genuine British Oats“. „Authentic British Fuses“.
Keinen kümmert es, aber die Marketingleute sind acht Jahre zu spät und scheinen immer noch unter der Illusion zu leiden, dass die Supermarktkundschaft im Vereinigten Königreich erbost auf die Aussicht reagieren könnte, eine, sagen wir, spanische Mohrrübe kaufen zu müssen oder dänische Haferflocken oder eine Sicherung aus Polen. Aber auf heimtückische Weise wird so immer noch und immer wieder suggeriert, dass „ausländisch“ gleichbedeutend sei mit „nicht proper“, „unauthentisch“ und „unehrlich“.
Das Zweite ist, wie der Begriff Brexit inzwischen von den jüngeren Leuten benutzt wird, die damals beim Referendum übergangen wurden. Das Wort dient mittlerweile in deren Alltagssprache als Synonym für eine kopflose Aktion (oder Person) ohne Sinn und Verstand, für Beschränktheit und Ungeschick, für den Vorrang von Vehemenz vor Intelligenz.
Beim Fußball ist eine „Brexit Challenge“ eine viel zu spät reingehauene Grätsche
Am deutlichsten wird das beim Fußball. Jeder unter 30 weiß inzwischen, was eine „Brexit Challenge“ bedeutet: eine viel zu spät in den Gegenspieler reingehauene Grätsche, die Stollen voran und ohne jede Aussicht, noch an den Ball zu kommen, aber auch ohne jede Rücksichtnahme darauf, dafür vermutlich sofort vom Platz zu fliegen und dem eigenen Team das Match zu versauen. Dementsprechend sagt man jetzt auch „That’s a Brexit clearance“, wenn ein Spieler den Ball ziellos über das Feld drischt, ohne sich im Mindesten dafür zu interessieren, was als Nächstes passieren und wie auf diese Weise das Spiel zu gewinnen sein soll.
Der prototypische „Brexit“-Spieler ist demnach Harry Maguire von Manchester United, ein Mann, der berühmt ist für trampelige Sturmläufe, Fehler, überstürzte Kopfbälle, einen standardmäßigen Ausdruck von Konfusion und Gereiztheit – sowie, Cristiano Ronaldo zufolge, dafür, seine eigenen „British Baked Beans“ mit ins Restaurant zu nehmen, um italienisches Essen zu vermeiden.
Jetzt wissen Sie, was in England acht Jahre nach dem Brexit als „Brexit Experience“ gilt: alles Schlimme, Dumme, Ungeschickte, Gedankenlose, emotional Unbeherrschte, mit dem man es den lieben langen Tag so zu tun bekommen kann. Und die Typen, die einem das zumuten, die nennt man „Brexit Geezer“ – Brexit-Bursche.
Edward Docx, geboren 1972, ist Schriftsteller in London. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Am Ende der Reise“ (Kein & Aber). Aus dem Englischen übersetzt von Peter Richter.
Soweit ich mich erinnere, hatten die doch was Besseres zu tun als zur Wahl zu gehen und haben sich gedacht: „Die Alten werden's schon richten!“.
Und wenn man dann noch eine Regierung hat, die ein unverbindliches Referendum verbindlich findet ...