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"Seit mehr als 7 Monaten bekommen wir in unregelmäßigen Abständen Morddrohungen aus der Covid-Maßnahmengegner- und Impfgegner-Szene", schrieb Kellermayr damals auf Twitter. Beispielsweise wurde damit gedroht, ein "Massaker" in der Praxis anzurichten. Um die Sicherheit ihrer Patienten und Mitarbeiter zu garantieren, habe sie über 100.000 Euro investieren müssen. Die Praxis können sie unter diesen Umständen nicht mehr weiterführen.
Hilfe kam von einer deutschen Hackerin
Bevor sie die Entscheidung traf, ihre Praxis zu schließen, wandte sich Kellermayr an die Behörden und dann, als diese aus ihrer Sicht zu wenig unternahmen, an die Öffentlichkeit. Besonders irritierend: Die Ermittlungsbehörden erklärten, die Urheber der Droh-Nachrichten nicht ermitteln zu können, doch einer deutschen Hacktivistin gelang das offenbar innerhalb von wenigen Stunden.
Twitter-Rückzug von Chan-jo Jun und Natalie Grams
Nach dem Suizid der Ärztin haben sich bekannte Twitter-User von der Plattform zurückgezogen, etwa der bekannte Würzburger Anwalt Chan-jo Jun. Der 48-Jährige kehrte am Freitag Twitter den Rücken. Zu aussichtslos erscheint ihm der Kampf gegen die Hater im Netz. "Wenn ich über bestimmte Personen tweete, habe ich am nächsten Tag Abmahnungen im Briefkasten. Ich gerate da an Grenzen“, sagte Jun gegenüber BR24. Er habe feststellen müssen, dass seine ursprüngliche Mission, auf Twitter Diskussionen zu versachlichen, nicht funktioniert habe. "Ich überlasse jetzt anderen das Feld. So lange, bis ich ein Konzept gefunden habe, wie ein sachlicher Austausch in Sozialen Medien stattfinden kann", so Jun.
Auch Natalie Grams hat sich von der Plattform verabschiedet. Die Ärztin und Autorin hatte sich einen Namen gemacht als Homöopathie-Kritikerin. Sie wolle ihr Engagement für eine evidenzbasierte Medizin mit Hilfe ihres Podcasts weiterführen, erklärte Grams in ihrem Abschieds-Tweet.
Hassen geht im Netz besonders leicht
Darüber, dass die Plattformen und die Ermittlungsbehörden von dem entfesselten Hass im Internet überfordert sind, wird seit Jahren diskutiert, zuletzt hatte der Satiriker Jan Böhmermann die schleppende Bekämpfung von Hassverbrechen angeprangert.
Im Internet mischen sich dabei zwei Dinge auf besonders toxische Weise: Auf der einen Seite ist da die Verschwörungsideologie, die sich auf der richtigen Seite wähnt und der deswegen jedes Mittel recht ist. "Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht", dieses Zitat von Bertolt Brecht ist in Querdenker-Kreisen besonders beliebt. Der Widerstand nimmt dann allerdings wenig Rücksicht auf andere. Und zweitens sind da die Sozialen Medien, die das Hassen besonders leicht machen, auch weil man der direkten Konfrontation mit dem Opfer aus dem Weg gehen kann. Die Tatsache, dass am anderen Ende des Bildschirms ein Mensch sitzt, kann im Netz allzu einfach verdrängt werden.
Besonders problematisch: Im Internet treffen oftmals Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Haltungen aufeinander, "Filter-Crash" nennt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen dieses Phänomen.
Der Staat wirkt hilflos
Der Staat scheint dem enthemmten Internet-Hass eher hilflos gegenüberzustehen. Immerhin wird Hassrede im Netz heute konsequenter verfolgt als noch vor ein paar Jahren. Soziale Netzwerke müssen Hassrede löschen und es drohen empfindliche Strafen, wenn sie dabei zu nachlässig sind. Mit dem Digitale-Dienste-Gesetz will die EU eine strengere Aufsicht der Plattformen etablieren. In Deutschland ist zudem die sogenannte "Login-Falle" im Gespräch, die es auch in den Koalitionsvertrag der Ampel geschafft hat. Die Idee: Sobald von einer Strafverfolgungsbehörde ein Anfangsverdacht gegen einen Nutzer festgestellt wurde, wird die Login-Falle scharf gestellt. Beim nächsten Login wird dann die IP-Adresse an die Strafverfolgungsbehörden übermittelt. Das soll die Ermittlungsarbeit erleichtern, und zwar ohne eine Massenüberwachung der Internet-Nutzer.
Doxing und SLAPP schüchtern Betroffene ein
Allerdings beschränkt sich der Internet-Hass keineswegs nur auf die digitale Sphäre. Bei dem sogenannten "Doxing" werden, so wie im Fall der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr, private Daten ins Netz gestellt. Hinzu kommen Einschüchterungsklagen, sogenanntes SLAPP (englisch strategic lawsuit against public participation), mit denen die Opfer mürbe gemacht werden. Eine Praxis, die Chan-jo Jun immer wieder kritisiert hatte.
Chan-jo Jun auf YouTube über SLAPP
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Anonymous will zurückschlagen
Bei vielen Usern ist der Eindruck entstanden, dass der Staat nicht in der Lage ist, dem Hass Herr zu werden. Vielleicht greift auch deswegen das Hackerkollektiv Anonymous nun zur digitalen Selbstjustiz. Anonymus hat angekündigt, gegen "Nazis, Schwurbler, Reichsbürger, Klimaleugner, TERFs, Trolle, Putinversteher" vorgehen zu wollen. "Physische Gewalt bleibt Tabu, aber Ruf, Job, persönlichste Daten, Konto, Firma können weg“, schreiben die Netzguerilleros. Ob das im Sinne von Lisa-Maria Kellermayr wäre, kann niemand mehr beantworten. Klar scheint aber: Das Internet wird so schnell keinen Frieden finden.
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Reaktion auf Tod der Ärztin Kellermayr
Jun reagiert damit auf den Tod der österreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr. Sie hatte öffentlich für Impfungen geworben, wurde dafür angefeindet und bedroht. Am Freitag hat sie sich das Leben genommen. In Österreich und darüber hinaus sorgte das für große Bestürzung. "Engagement und Aufklärung", schrieb Rechtsanwalt Jun auf Twitter, hätten "zu Hass, Bedrohungen, Ruin und mutmaßlich zum Tod" geführt. Ihr Tod werde unterdessen "auf Telegram von Querdenkern als Sieg gefeiert". Kellermayr war wie Jun regelmäßig auf Twitter aktiv.
Zum Artikel: Tod von Impfärztin – Machtlos gegen den Hass?
Rechtsanwalt erklärt Abschied von Twitter
Im Gespräch mit BR24 äußert sich Jun nun ausführlicher zu seinem Abschied von Twitter. Der vergangene Freitag sei für ihn "nur der Höhepunkt einer grauenvollen Woche" auf der Plattform gewesen. Auch er erhalte regelmäßig Drohungen und Anfeindungen. Sie seien mal mehr, mal weniger intensiv. Seinen Account habe er allerdings nicht wegen einer akuten Bedrohungslage gegen sich deaktiviert. "Ich habe festgestellt, dass meine ursprüngliche Mission, Diskussionen auf Twitter zu versachlichen, nicht funktioniert", sagt Chan-jo Jun.
Auch er selbst habe teils an polemischen Debatten teilgenommen. Gleichzeitig habe er festgestellt, dass seine juristischen Hinweise zu verschiedenen Themen manchmal "Öl ins Feuer gegossen" hätten. Sie hätten also das Gegenteil dessen bezweckt, was er erreichen wollte.
Rechtsanwalt fordert Gesetzesanpassungen
Gleichzeitig spricht Jun davon, dass seine juristischen Einschätzungen in den sozialen Netzwerken regelmäßig behindert worden seien. "Wenn ich über bestimmte Personen tweete, habe ich am nächsten Tag Abmahnungen im Briefkasten", sagt Jun, "ich gerate da an Grenzen". Zwar seien die Abmahnungen gegen seine Arbeit in aller Regel gegenstandslos. Sein Team unterstütze ihn. Dennoch sei die Bearbeitung einer jeden Abmahnung zeitintensiv. Jun spricht von "Missbrauch" dieses juristischen Werkzeuges.
"Wir erleben, dass dieses Mittel dazu eingesetzt wird, Leute einzuschüchtern", sagt Jun. Er sieht den Gesetzgeber in der Pflicht. Derzeit würden unberechtigte Abmahnungen nicht dazu führen, dass derjenige, der sie gestellt hat, auch die Anwaltskosten tragen muss. Das führe dazu, dass Abmahnungen auch dann gestellt werden, wenn sie widerlegbar sind. Außerdem fordert Jun, dass die Kostenerstattungsansprüche hierfür begrenzt werden.
Jun will Hasskriminalität weiterhin bekämpfen
"Ich überlasse jetzt anderen das Feld. So lange, bis ich ein Konzept gefunden habe, wie ein sachlicher Austausch in Sozialen Medien stattfinden kann", sagt Jun. Er wolle weiterhin auf dem Feld des IT-Rechts tätig bleiben: "Ich werde nicht weniger Zeit in das Thema investieren, aber auf anderem Wege." Zum Beispiel wolle er weiterhin Organisationen im Kampf gegen Hasskriminalität unterstützen.
Auf Twitter hatte Juns deaktivierter Account für zahlreiche Reaktionen gesorgt. Die SPD-Politikerin Sawsan Chebli etwa schrieb: "Verstehe, dass er jetzt genug hat. Tragisch ist sein Rückzug hier für unsere Demokratie dennoch." Auch die Ärztin Natalie Grams, auch sie eine bekannte Stimme auf der Plattform, hat am Wochenende ihren Twitter-Account deaktiviert.