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Stellen Sie sich vor, in Deutschland wären bis heute nicht 8000 an Covid-19 erkrankter Menschen gestorben, sondern 240.000. Gäbe es dann noch irgendjemanden, der die Existenz der Seuche anzweifeln würde? Knapp eine Viertelmillion Menschen, so lautete die Opferbilanz, würde man die Zahlen aus der größten Region Italiens, der Lombardei, auf Deutschland übertragen.
Von den 10 Millionen dort lebenden Menschen werden 16.000 offiziell als Covid-19 Opfer geführt. Bezieht man aber die Dunkelziffer mit ein, die das nationale Rentenamt INPS errechnet hat, sind in der Lombardei 29.000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen der Pandemie gestorben. Dieser um 84 Prozent höhere Wert geht auf die "Übersterblichkeit" allein in den Monaten März und April zurück, also den in den Sterberegistern verzeichneten Toten, deren Zahl deutlich über dem Durchschnittswert vergangener Jahre lag.
Naturkatastrophe oder Versagen?
Mit dieser Fallsterblichkeit liegt die Lombardei an der Weltspitze. Allmählich erwacht die Region nun aus dem politischen Schockzustand. Bisher ging es allein ums Überleben. Noch immer zählt die Region täglich mehrere Hundert Neuinfektionen, noch immer sterben täglich mehrere Dutzend Menschen auf den Intensivstationen der Region.
"Das Virus hat uns überrannt wie ein Tsunami", entschuldigte sich der Präsident der Region Lombardei, Attilio Fontana und er spüre ein "anti-lombardisches Klima". Die Lombardei habe ein vorbildliches Gesundheitswesen, meinte er, um dann hinzuzufügen: "Ich bin mir keiner Schuld bewusst." Seitdem bricht eine Welle der Empörung über Fontana herein. Der Hashtag "Fontana-Dimettiti" - "Fontana tritt zurück" - begleitet zahlreiche Posts, die aus der Lombardei in die sozialen Netzwerke getragen werden.
Ein Problem für Salvini
Für Italiens bis vor Ausbruch der Seuche in allen Umfragen strahlenden Oppositionsführer Matteo Salvini ist die Lega-regierte Lombardei von der Musterregion zum Mühlstein am Hals geworden. Salvinis Umfragewerte sind regelrecht abgestürzt, die Lega hat ein Drittel ihrer Wähler aus den Europawahlen verloren, liegt nur noch knapp vor den Sozialdemokraten (Partito Democratico).
Nur ein Beispiel für das Missmanagement in den Lega-geführten Regionen: In Mailand kennt jeder den Fall der großen Seniorenresidenz "Pio Albergo Trivulzio", in die man noch Anfang März auf Anordnung von Regionalfunktionären "leichte" Covid-19 Fälle verlegt hatte. Als der zuständige Heimarzt dagegen protestierte und dem Pflegepersonal Schutzbekleidung verordnete, wurde er fristlos entlassen, weil er angeblich "Panik stiftete". Heute weiß man, dass fast die Hälfte der Opferzahl in der Region in den Altenheimen und Residenzen vermeldet wurde.
Auch drei Monate nach Beginn der Seuche werden Infektionsketten nicht ordentlich nachverfolgt, müssen Angehörige eines Covid-19-Opfers - wie in Bergamo öffentlich geworden - 500 Euro Gebühren zahlen, um sich testen zu lassen.
Fast jede Familie in der Lombardei hat ein Opfer der Seuche zu beklagen; Tote oder Überlebende, die nun schwerkrank Pflege brauchen. Jeder Vierte als "geheilt" von der Intensivstation entlassene Covid-19 Patient muss in die Dialyse, weil die Nieren versagt haben. Die Lungen sind bei vielen dauerhaft geschädigt. Als "geheilt" entlassen zu sein, ist bei dieser Seuche nicht gleichbedeutend mit gesund sein. Auf Angehörige und das Gesundheitswesen kommt eine Nachwelle Zehntausender Schwerbehinderter zu.
Fingerzeig auf "die Deutschen"
Zu Beginn der Krise aber wollte sich niemand den Verhältnissen in der Lombardei befassen. Der erste Verdacht, den rechtsnationale Medien wie "Libero", "Il Giornale", aber auch das Staatsfernsehen Rai gleich zu Anfang März streuten, stellte die "Musterregion Italiens", mit dem mustergültigen Gesundheitssystem", "von der ganzen Welt bewundert", als Opfer des Auslands dar.
Als "Seuchenverbreiter" angeprangert wurden: "die Deutschen". In Deutschland habe es den "Patienten Null" gegeben, am 26. Januar in der bayrischen Firma Webasto, die auch in Italien Filialen habe. Dass der Fall Webasto in sich isoliert blieb, dass sich ein Virus nicht per Telefon verbreitet, dass es keinen körperlichen Kontakt zwischen der Webasto-Zentrale in Stockdorf und dem ersten offiziell als Covid-19-Patienten in Codogno am 20. Februar entdeckten "Mattia" gab - geschenkt!
In den Proben von 800 Blutspendern in Mailand fand man nun übrigens bei 4 Prozent dieser gesunden Spender bereits im Januar 2020 Antikörper auf das Virus. Das Virus war also bereits Anfang Januar in der Stadt, zwei Monate bevor es zum großen Ausbruch gekommen ist. Die Deutschen waren es nicht, wir sind noch einmal davongekommen.
Kliniken als Virenschleudern
Wahr ist dagegen, dass das vermeintlich großartige Gesundheitssystem der Lombardei für den Pandemie-Fall komplett falsch aufgestellt ist, wie es 13 Notärzte des Krankenhauses "Papst Johannes XXIII" von Bergamo in einem offenen Brief schon im März schrieben. "Alleingelassen", gezwungen, Patienten "nur noch palliativ behandeln zu können", "keinen Platz auch für Schwerkranke mehr": Der Zusammenbruch des angeblich so vorbildlichen Systems, trotz des übermenschlichen Einsatzes von Ärzten und Pflegepersonal, so schreiben die 13 Notärzte, liege am System selbst.
Die Katastrophe war eben nicht der von Fontana genannte "Tsunami", die Wasserwelle nach einem Erdbeben unter dem Meer, sondern die Folge menschengemachter Fehlaufstellung. Der Kern des Problems: Das Gesundheitssystem ganz Italiens ist "Krankenhaus-zentriert", ganz besonders in der Lombardei. Jede Art von Diagnostik, alle Spezialisten, arbeiten nur in Großkrankenhäusern. In riesigen Wartesälen wartet man stundenlang auf den Termin, muss zuerst die Zuzahlung leisten, pro Arztbesuch auch schon einmal 150 Euro, um dann wieder in langen Korridoren, immer dicht an dicht gedrängt, vor dem Arztzimmer zu warten. Das Krankenhaus als ideale Virenschleuder. Tatsächlich kam es zu den ersten Massenansteckungen in drei Krankenhäusern der Lombardei: in Nembro, Alzano Lombardo und Codogno.
Allein gelassene Hausärzte
"In dieser Krise rächte es sich, dass man uns Hausärzte, die Versorgung vor Ort, sträflich vernachlässigt hat", meint der Präsident der Hausärzte von Bergamo, Guido Marinoni. "Wir Hausärzte sind aus dem Gesundheitssystem herausgefallen, allein gelassen worden. Wir wurden zu Patienten gerufen, die schwerste Atemprobleme hatten, aber wir hatten keine Schutzausrüstungen. Wir bettelten in der Region um Masken, nichts kam. Wir haben uns im Baumarkt Schutzmasken gekauft, aber das hat bei vielen meiner Kollegen und Kolleginnen nicht gereicht. Von den 630 Hausärzten von Bergamo Stadt und Kreis haben sich 150 mit dem Virus infiziert und 28 sind gestorben."
Es gibt eine direkte Beziehung zwischen der Verfasstheit des lombardischen Gesundheitssystems zu Beginn der Pandemie und der Regionalregierung. Wenige Tage vor dem Virus-Ausbruch sagte der stellvertretende Lega-Vorsitzende Giancarlo Giorgetti, man könne auf die Hausärzte ("medici di famiglia") verzichten, sie seien überflüssig. Die Region setzt mehr als jede andere auf wenige große, die Leistungen konzentrierende öffentliche Kliniken sowie auf privatwirtschaftlich organisierte Häuser, die sich auf finanziell attraktive Behandlungen des Leistungskatalogs konzentrieren.
Dass es auch anders geht, beweist die Nachbarregion Venetien: auch sie unter Leitung eines Lega-Politikers, Luca Zaia. Der aber von Anfang von einem bekannten Virologen, Andrea Crisanti, beraten wurde, massenhaft testen ließ und vor allem in der "roten Zone" von Vo Euganeo 43 Prozent der asymptomatischen Träger entdecken konnte. Ein System ganz konzentriert auf Hausärzte, mit "nur" 1841 offiziell gezählten Covid-19-Opfern. Im Vergleich zum Lega-Parteifreund Fontana aus der Lombardei steht Zaia heute blendend da: Keine neuen Infektionen mehr im Veneto, aber am Donnerstag 316 Neuinfektionen in der Lombardei und 65 Tote.
Privatisierung allenthalben
Von den 114 Milliarden Euro öffentlichen Mitteln, die der staatliche, regional organisierte Gesundheitsdienst pro Jahr ausgibt, geht die Hälfte an private, gewinnorientierte Krankenhäuser. Deren Leistungen aber konzentrieren sich auf teuer abzurechnende Einzelleistungen, sehr viel weniger auf die allgemeine Gesundheitsvorsorge, schon gar nicht auf Notfallmedizin. Von den 5060 Intensivbetten in ganz Italien zu Jahresbeginn gab es weniger als 100 in den Privatkliniken.
Die öffentlichen Krankenhäuser sind die ersten Anlaufstellen für alle Kranken, egal ob ansteckend, oder nicht. Die Vernachlässigung der Versorgung vor Ort, der Hausärzte, der Mangel an dezentraler Facharztversorgung, die Konzentration auf Großkrankenhäuser hat aber auch, das ist eine gerichtsfeste Tatsache, ihren Grund in massiver Korruption. In den Großkrankenhäusern werden große Aufträge vergeben, wenige Personen verschieben da Riesensummen. Kein Korruptionsskandal in der öffentlichen Verwaltung Italiens ohne Krankenhaus-Beteiligung.
Im Februar 2019 trat der langjährige Präsident der Region Lombardei, Roberto Formigoni, nach fast zwei Jahrzehnten im Amt eine fünfjährige Haftstrafe an. Er hatte sich bestechen lassen, um die private Klinikgruppe Maugeri-San Raffaele zu begünstigen.
Zeitungen wie "Libero", die im Besitz von anderen privaten Klinikbetreibern wie der Familie Angelucci sind, stehen nun in vorderster Front, um weiterhin die "Errungenschaften" der lombardischen Medizin zu verteidigen. Der Häftling Formigoni wird dort interviewt und preist "sein" Gesundheitswesen als exzellent. So erweist sich das Gefängnis womöglich als Glücksfall für Formigoni, bewahrt es ihn doch vor einer direkten Begegnung mit Nutzern seines ach so "exzellenten" Gesundheitssystems.
Quelle: ntv.de