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Wer an die vor einem halben Jahrhundert erfolgte Gründung der RAF erinnert, darf vor allem einen der Beteiligten nicht vergessen: Die Rede ist von dem einstigen APO-Anwalt und heutigen Neonazi, dem mittlerweile 84-jährigen Horst Mahler, der vom damaligen Gründerquartett heute noch als Einziger unter den Lebenden weilt. Seine Rolle zu erwähnen, gilt heute vielen als wenig opportun. Schliesslich stand er einmal mit Teilen der politischen Elite auf Du und Du. Seit über einem Jahrzehnt jedoch sitzt er nun schon hinter Gefängnisgittern. Wegen wiederholter Volksverhetzung in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg an der Havel, mittlerweile beidseitig beinamputiert.
Warum ein einst brillanter Jurist, dem in den sechziger Jahren viele Wege zu einer bemerkenswerten Karriere offenstanden, am Ausgang der Studentenbewegung auf die Idee hatte kommen können, sich zu bewaffnen und zusammen mit einigen seiner einstigen Mandanten in den Untergrund zu gehen, gehört zu jenen Fragen, auf die es noch immer keine halbwegs plausibel erscheinende Antwort gibt.
Auf jeden Fall aber war Mahler im Gründungsprozess der Rote-Armee-Fraktion (RAF) so etwas wie die Spinne im Netz. Vermutlich hätte es auch ohne ihn eine terroristische Organisation gegeben, die sich nach lateinamerikanischem Vorbild als eine «Stadtguerilla in den Metropolen» in die Phalanx der sogenannten Befreiungsbewegungen zu phantasieren versucht hätte. Aber keine Rote-Armee-Fraktion, die allein mit ihrer Namensnennung in der Bevölkerung schon Angst- und Schreckensvisionen wachrufen musste. Mahler war ein überzeugter Marxist-Leninist und ein dem Sowjetkommunismus ergebener Parteigänger. Im Unterschied zu einigen ehemaligen Kommunarden, die bereits ein halbes Jahr zuvor zwei andere Stadtguerillaorganisationen namens Tupamaros in Westberlin und München ins Leben gerufen hatten, wollte er von Anfang an keine subkulturell anmutende Gruppierung, sondern eine kommunistische Kadertruppe aus dem Boden stampfen.
Anwerbung für den Kampf
Einer von Mahlers ersten Schritten bestand darin, im September 1969 nach London zu fliegen, um Rudi Dutschke für das Projekt des bewaffneten Kampfs zu gewinnen. Doch das Idol der Studentenbewegung, das zu den Bewunderern Che Guevaras und der kubanischen Revolution zählte, winkte ab. Nicht weil Dutschke den Guerillakampf als solchen abgelehnt hätte, sondern weil er in einem derartigen Projekt keinen politischen Sinn erkennen konnte. Mahler liess sich jedoch nicht entmutigen, unternahm drei Monate später einen anderen Vorstoss und flog nach Italien. Dorthin hatten sich die auf der Flucht befindlichen Frankfurter Warenhausbrandstifter Andreas Baader und Gudrun Ensslin abgesetzt. Und bei ihnen hatte er mehr Glück. Sie entschieden sich trotz allen Risiken dafür, nach Westberlin zurückzukehren und sich am Aufbau einer Untergrundorganisation zu beteiligen.
Doch der Start erwies sich als äusserst holprig. Zuerst tappte Baader in eine Falle, die ihm ein Verfassungsschützer, der Undercover-Agent Peter Urbach, gestellt hatte. Als er mitten in der Nacht Waffen auf einem Friedhof ausgraben wollte, geriet er in eine Polizeikontrolle und wurde verhaftet. Und als ihn seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter unbedingt befreien wollten, möglichst rasch und mit Waffengewalt, setzten sie eine Dynamik in Gang, die sie umgehend zu Getriebenen machte. Weil ein Bibliotheksangestellter bei der Aktion schwer verletzt wurde, blieb den Beteiligten, unter ihnen auch die bereits bekannte Journalistin Ulrike Meinhof, kaum etwas anderes übrig, als in den Untergrund zu gehen.
«Die Rote Armee aufbauen»
Die «Baader-Befreiung», die die zu diesem Zeitpunkt nur rudimentär erkennbare Gruppe unter einen enormen Handlungsdruck setzte, wurde rasch zu ihrem Gründungsakt deklariert. Seitdem gilt der 14. Mai 1970 als das Geburtsdatum der RAF. Doch bei Lichte betrachtet war man alles andere als handlungsfähig.
Den zwei Dutzend Leuten, die sich hinter einem am 5. Juni unter dem Aufruf «Die Rote Armee aufbauen» publizierten Pamphlet versammelt hatten, mangelte es im Grunde genommen an allem. An Waffen und Sprengstoff, an konspirativen Wohnungen und an geeigneten Fahrzeugen, an den für eine andere Identität notwendigen gefälschten Papieren und dem für terroristische Aktionen nötigen Know-how insgesamt. Deshalb flog man auch als Erstes in den Nahen Osten, um sich von Palästinensern in einem Trainingscamp der Fatah ausbilden zu lassen.
Es sollte schliesslich geschlagene zwei Jahre dauern, bis die RAF angriffsbereit war: Im Frühling 1972 wurden in der sogenannten «Mai-Offensive» Einrichtungen der US-Armee, aber auch der Polizei, des Axel-Springer-Verlags und der Justiz angegriffen. Und kaum war diese Attacke, die vier Menschenleben und Dutzende von Verletzten gekostet hatte, vorüber, sassen alle führenden Leute der RAF im Gefängnis. Zuerst Baader, Meins und Raspe, dann Ensslin und schliesslich auch Meinhof. Sie folgten damit ihrem Gründungschef, der bereits anderthalb Jahre zuvor nach der Denunziation durch einen Unbekannten im Oktober 1970 der Polizei in die Hände gefallen war.
Dissens mit Mahler
Obwohl Mahler im Juni 1971 mit seinem Traktat «Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa» die theoretisch wohl anspruchsvollste Schrift der RAF-Geschichte überhaupt verfasst hatte, kam man immer weniger mit ihm klar. Er bestritt die von Meinhof favorisierte Orientierung am Industrieproletariat, das ihm viel zu integriert erschien, und schlug stattdessen ein Bündnis mit den revolutionären Kräften der Dritten Welt vor, ausserdem war er der Einzige, der sich unumwunden zum Terrorismus bekannte.
Der Dissens weitete sich so weit aus, dass die Gruppe im September 1974 am Rande des Prozesses zur Baader-Befreiung verkündete, dass er einstimmig ausgeschlossen worden sei. Mahler wiederum liess sich nicht lumpen und griff die RAF wegen ihrer Behauptung an, dass es sich bei den Haftbedingungen um «Isolationsfolter» handle. Dies, so der Ex-Anwalt, sei nichts anderes als Propaganda, mit der man neue Mitglieder rekrutieren wolle. Das war ein Vorwurf, der zumindest in seinem Kern zutraf und der zugleich verriet, dass sich der Zwist nun überhaupt nicht mehr würde ausräumen lassen.
Schröder und Schily
Was ihn gruppenintern endgültig zu einer Persona non grata machte, eröffnete Mahler eine Sonderposition in der linksliberalen Öffentlichkeit. Als er 1980 freigelassen wurde, konnte er sich vorübergehend in der Rolle des geläuterten und angeblich zur Vernunft gekommenen Ex-Terroristen sonnen. Der damalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) führte unter dem Titel «Der Minister und der Terrorist» Gespräche mit ihm, die einen Weg aus dem staatlichen Dauerkonflikt mit dem Linksterrorismus denkbar zu machen schienen. Doch Mahler wollte sich als Reumütiger nicht wie ein Zirkuspferd vorführen lassen; ihn drängte es zurück in seinen alten Beruf und zugleich wohl auch ins politische Rampenlicht. Um dorthin zu kommen, fand er die Unterstützung eines anderen Rechtsanwalts – die des damaligen Juso-Bundesvorsitzenden Gerhard Schröder. Und dieser verschaffte ihm in der Tat vor dem Bundesgerichtshof eine Wiederzulassung als Anwalt.
Als es Schröder nach den Bundestagswahlen im Oktober 1998 schliesslich schaffte, Bundeskanzler zu werden, kam ihm die Beziehung zu Mahler alles andere als gelegen. Denn zu dem Zeitpunkt, als sich die erste rot-grüne Koalition auf Bundesebene zu etablieren vermochte und ihre Beteiligung am Nato-Militäreinsatz gegen Serbien legitimieren musste, wusste Duzfreund Mahler nichts Besseres zu tun, als sich als extremer Nationalist zu outen. Öffentlich empfahl er dem neuen Kanzler nichts anderes, als mit dem Europa-Kurs seines Amtsvorgängers Kohl zu brechen und sich zu einer nationalistischen Grundposition zu bekennen. Doch nur zu bald stellte sich heraus, dass das nur der Anfang eines radikalen Kurses nach rechts aussen war.
Mahler, der jahrelang einen Machtumsturz von links propagiert hatte, entpuppte sich nun gleichermassen als Neofaschist, als Antisemit und als Holocaustleugner. Es dauerte nicht lange, und es kam zu einer bizarren Wiederbegegnung mit einem seiner ehemaligen Weggefährten. Und zwar ausgerechnet vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Die Bundesregierung, als Antragstellerin vertreten von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD), hatte sich 2001 durchgerungen, einen Verbotsantrag gegen die rechtsradikale NPD zu stellen. Die als verfassungsfeindlich angesehenen Nationaldemokraten wurden durch Schilys ehemaligen Anwaltskollegen Horst Mahler vertreten. Im Oktober 1968 waren sie vor dem Frankfurter Oberlandesgericht (OLG) noch gemeinsam als Verteidiger der Warenhausbrandstifter aufgetreten. Nun standen sie sich als Kontrahenten gegenüber. Der eine als Vertreter von Verfassung, Rechtsstaat und Demokratie und der andere als deren geradezu idealtypischer Antipode – als Verfassungsfeind, Rechtsstaatsverächter und Antidemokrat.
Nachdem das Verfahren schliesslich hatte eingestellt werden müssen, weil sich peinlicherweise herausgestellt hatte, dass die Spitze des nordrhein-westfälischen Landesverbands von V-Leuten des Verfassungsschutzes gesteuert wurde, legte Mahler noch eins drauf und trat auch noch aus der NPD aus. Begründung: Die Partei habe sich «auf dem Weg zum IV. Reich» als zu parlamentarismusfixiert erwiesen. Mahler beschränkte sich fortan auf ausserparlamentarische Aktivitäten in der noch weiter rechts stehenden Szene und gründete einen «Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten». Das Einzige, was daran noch staatskonform klang, war offenkundig das Juristendeutsch.
Doch wie reagierten eigentlich seine einstigen Mitstreiter? Seine früheren Kollegen und Kampfgefährten taten sich – und tun sich noch immer – ausgesprochen schwer damit, ihm gegenüber auf Abstand zu gehen und ihn öffentlich zu kritisieren. Als Schily etwa in einem Dokumentarfilm über linke Anwälte nach Mahler gefragt wurde, meinte er ebenso schmallippig wie ausweichend, das sei wohl eine «Tragödie». Ganz so, als sei seinem Ex-Partner, dem er während seiner RAF-Zeit auch noch als Verteidiger zur Seite gestanden hatte, etwas widerfahren, was ausserhalb seiner Macht gelegen habe. So als handle es sich bei einer antisemitischen Gesinnung um eine Art Schicksalsschlag.
Auch Ströbele ist verstummt
Und der sonst so bekenntnisstarke Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele, der 1969 zusammen mit Mahler und Klaus Eschen das Sozialistische Anwaltskollektiv gegründet hatte und in den Jahren darauf als der umtriebigste aller RAF-Verteidiger in Erscheinung getreten war, ist hinsichtlich seines Ex-Genossen völlig verstummt. Kein Kommentar und schon gar kein Wort der Kritik oder der Distanzierung.
Fast scheint es, als wäre Horst Mahler, dem man mal juristisch, mal ideologisch beigestanden hat, zu einem regelrechten Tabu geworden. Lieber schweigen, so sagen sich manche offenbar, als unbeabsichtigt eine Lawine lostreten. Denn die anfängliche Zentralfigur entpuppte sich als Rechtsextremist und steht damit heute für das, wogegen man sich im angeblichen Kampf gegen den Faschismus einst richtete.
Wolfgang Kraushaar ist als Politologe am Hamburger Institut für Sozialforschung assoziiert. Zuletzt von ihm erschienen: «Die 68er-Bewegung international» (Verlag Klett-Cotta, 2018).