Ein wirklich lesenswerter Artikel/Kommentar über die "neue Rechte", die "alte Linke", unsere Klientel (VTler und Co), sowie die Partei die nicht genannt werden darf.
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Gastkommentar
Ein Traum vom Träumen – Rückblick auf das Altern der politischen Utopien
Ein hohes Mass an Konfusion wohnt dem politischen Geschehen der Gegenwart nicht erst seit der Corona-Krise inne. Was ist links und was rechts, wo hört Politik auf und fängt Antipolitik an? Kompakte Ideologien ziehen immer weniger, stattdessen wurstelt man sich durch.
Nach 1968, als die Berufung auf Marx, Lenin, Che Guevara und Konsorten zuerst in Maos Kulturrevolution und zwanzig Jahre später auf dem Tiananmen-Platz ihre Glaubwürdigkeit verlor, trat ein anderes Ideal an die Stelle der blutig gescheiterten Utopie: «Ein Traum von Europa» hiess ein vielbeachtetes Autorentreffen, zu dem Peter Schneider und ich Schriftsteller aus Ost und West, Nord und Süd 1988 ins damalige Westberlin einluden, und es ist keine Übertreibung, dass dort der Fall der Mauer vorbedacht und vorausgesagt wurde.
Die damals noch auf Westeuropa beschränkte friedliche Einigung des Kontinents erlaubte es undogmatischen, weder Moskau noch Peking hörigen Linken, Konservative und Liberale ins Boot zu holen, die 1968 noch unter das Verdikt des Klassenfeindes gefallen waren, jetzt aber am gleichen Strang zogen. So besehen hat der französische Schriftsteller Michel Houellebecq recht, wenn er das europäische Projekt, das viele Vordenker der Studentenrevolte um sich scharte von Hans Magnus Enzensberger über Jürgen Habermas bis zu Bernard-Henri Lévy und Daniel Cohn-Bendit, nicht zu vergessen Susan Sontag, als linke Utopie bezeichnet, die wie das Licht unendlich weit entfernten, erloschenen Sterns zu uns hinüberstrahlt. Ich weiss, wovon ich rede, denn ich habe die Irrtümer und Illusionen des ebenso jugendbewegten wie geschichtsvergessenen Aufbruchs zu radikal neuen Ufern hautnah erlebt und mit gleich oder ähnlich Gesinnten geteilt.
«Lechts» und «rinks»
Worum geht es? Mitte der siebziger Jahre schrieben Oskar Negt und Alexander Kluge, die Linke besitze «ein Monopol auf die rationale Sprache, die Fähigkeit des Begriffs, der Analyse und Abstraktion, die politische Rechte dagegen ein Monopol auf Mythen, Träume und Bilder, in denen sich Anschauung, Erfahrung, Wünsche befriedigend miteinander vermitteln». Es war dies ein fernes Echo auf Ernst Blochs These, die Rechte sei reaktionär rückwärts orientiert, die Linke aber human und der Zukunft zugewandt, obwohl der Terror Stalins und der Gulag Bloch eines Besseren hätte belehren müssen.
Das heutige deutsche Dreigespann von SPD, Grünen und Linkspartei scheint die Thesen von Kluge und Negt zu bestätigen, doch die Definition von «rechts» hat sich erheblich verändert. Denn nicht allein die politisch isolierte NPD wurde in der BRD von links an den Pranger gestellt, sondern auch die Volkspartei CDU mit ihrem wertkonservativen, wirtschaftsliberalen und deutschnationalen Kanon, ganz zu schweigen von der CSU des Franz Josef Strauss. Die SPD wiederum wurde mit Radikalenerlass und Berufsverboten gleichgesetzt. Der dummdreiste Slogan «Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten!» grundierte sowohl die Attentate der RAF wie die Feindbilder der APO, und natürlich stimmte östlich der Mauer die SED-Propaganda gerne mit ein. So wie am Ende der Weimarer Republik bekämpften Antikommunisten und Kommunisten die parlamentarische Demokratie als gemeinsamen Feind.
Camus hat das Entscheidende gesagt, als er feststellte, der Totalitarismus selbst sei schlimmer als alle Übel, die zu bekämpfen er vorgibt
Das Koordinatensystem hat sich geändert, und wer heute von rechts her drohende Gefahren beschwört, denkt nicht mehr an die mittlerweile weit nach links gerückte CDU, sondern an die AfD und ihre ausser- nein: antiparlamentarische Gefolgschaft vom Neonazis, Reichsbürgern, Pegida-Anhängern bis zu sogenannten Querdenkern, die – wie einst die SA – Form und Stil sozialer Proteste kopieren und so gesehen von Linksradikalen kaum noch zu unterscheiden sind.
Sie verquirlen Verschwörungstheorien und Restbeständen totalitärer und identitärer Ideologien, welche Endzeitpropheten und Impfgegner ebenso anspricht wie professionelle Wutbürger und frustrierte Jugendliche. Die Angebotspalette ist so kraus und krud wie die Verwirrung in den Köpfen all derer, die nicht wissen, ob sie nach Mauerfall und deutscher Einheit, Irakkrieg und 9/11, Klimawandel und Corona für oder gegen eine pluralistische Gesellschaft, für oder gegen Merkel, Macron, Putin, Trump oder Erdogan sind.
Die AfD, eine Anti-Partei
Spätestens hier kommen die Mythen und Träume ins Spiel, von denen bei Oskar Negt und Alexander Kluge die Rede war. Die Linke habe ein Monopol auf rationale Analyse, hiess es da, und in der Tat: Von Donald Trump war kein einziges juristisch belastbares Argument zu hören, wieso man ihm den Wahlsieg gestohlen habe, und die AfD hat keinen praktikablen Vorschlag gemacht, was die Kanzlerin hätte tun müssen, um die Pandemie unter Kontrolle zu bringen, weil es der AfD darum nicht geht.
Die AfD ist keine politische Partei, welche den Gang der Dinge klug lenken und die Zustände verbessern will, sondern eine Bewegung, die auf den Wellen echter und eingebildeter Missstände surft mit dem Ziel, nicht nur die Regierung, sondern «das System» als solches zu zerschlagen. Selbst abstruse Phantasmen wie die Idee, im dekadenten Westen die Ehe von Mann und Frau planmässig durch die Homo-Ehe zu ersetzen, finden Anklang. Die sich national-und wertkonservativ gebenden Regierungen in Budapest und Warschau sehen das genauso.
Albert Camus hat am Vorabend des Kalten Krieges das Entscheidende gesagt, als er feststellte, der Totalitarismus selbst sei schlimmer als alle Übel, die zu bekämpfen er vorgibt. Wie aber ist zu erklären, dass ideologische Klischees aus der Mottenkiste des Rassen- und Klassenkampfs in den Agenden populistischer Parteien wieder erscheinen, während die Verfechter von Aufklärung und Vernunft zu schwächeln scheinen? Vielleicht liegt es daran, dass der rationale Diskurs eher defensiven Charakter hat, während irrationale Mythen mit Aggression aufgeladen sind. Hitlers Blitzkrieg-Strategie war erfolgreich, solange sie das Gesetz des Handelns diktierte; in die Defensive gedrängt, brach die Wehrmacht an den Fronten ein.
Damals schrieb George Orwell, Hitlerdeutschland lasse sich nicht besiegen unter Berufung auf Rechtsstaat und Demokratie, sondern durch Appelle an das Wir-Gefühl, das der NS-Propaganda zugrunde lag: Schon Nietzsche wusste, dass wer Drachen bekämpft, selbst zum Drachen wird. Im Hinblick auf die Gegenwart heisst das, dass es nicht genügt, die besseren Argumente zu haben, wenn man nicht über die Macht verfügt, diesen auch politisch Nachdruck zu verschaffen – ein Dilemma, das der weissrussischen Zivilgesellschaft ebenso vertraut ist wie den Gegnern der Abtreibungsgesetze in Polen, die vergeblich anrennen gegen die von Polizeikohorten gesicherte Koalition von Kirche und Staat.
Über hundert Jahre hinweg haben links- und rechtsradikale Positionen die Plätze so oft getauscht, dass die Orientierung schwerfällt: Mussolini war Sozialist, bevor er sich zum Faschismus bekannte, und die NSDAP lernte von der KPD, was Parolen, Lieder und die Technik der Machtergreifung betraf.
Vom Nordpol aus gesehen liegt die Welt im Süden, am Südpol ist es umgekehrt, doch die Mehrzahl aller Menschen wohnt in gemässigten Zonen, und hier kommt die Tugend des inneren Masses ins Spiel, die Konservative und Liberale eher auszeichnet als andere Parteien. Die Radikalität ist kein Wert an sich, und der Verbalradikalismus ist die Vorstufe der Gewaltexzesse, vor denen Georg Büchner in «Dantons Tod» warnt: «Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden. Blickt um euch, das alles habt ihr gesprochen; es ist eine mimische Übersetzung eurer Worte, ihr bautet eure Systeme aus Menschenköpfen.»
Das grosse Gegenbeispiel zum Kult der revolutionären Tat ist Mahatma Gandhi, der durch Gewaltverzicht und die Organisation friedlicher Protestmärsche die britische Herrschaft in Indien zum Offenbarungseid zwang. Doch das war nur möglich, weil die Heimatfront bröckelte und das Kolonialregime von Zweifeln angekränkelt war, ähnlich wie später im Algerienkrieg und in Vietnam, wo indes die Gewalt regierte.
Steter Tropfen höhlt den Stein, und es bleibt zu hoffen, dass in den Annalen des strategischen erfolgreichen Gewaltverzichts das letzte Kapitel noch nicht geschrieben worden ist. Erinnert sei an den Fall der Berliner Mauer, der keineswegs aus heiterem Himmel kam. Auch in Budapest und Warschau, Minsk und Moskau hält der Beton nicht ewig. Veränderte politische Konstellationen vermögen Verkrustungen aufzubrechen und neue Optionen zu eröffnen. Noch ist die Zukunft nicht gewonnen, aber verloren ist sie auch nicht.
Hans Christoph Buch ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Sein jüngster Roman «Robinsons Rückkehr. Die sieben Leben des H. C. Buch» erschien kürzlich in der Frankfurter Verlagsanstalt.