Der Verfassungsschutz Thüringen scheint die Szene so langsam ernster zu nehmen.
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„Reichsbürger“ und Neonazis: Extreme im Visier des Verfassungsschutzes
In Nordthüringen lokalisiert der Verfassungsschutz aktuell intensivste Bewegungen der „Reichsbürger“-Szene. Bundesweite Vernetzungen lassen sich erkennen.
29. September 2017 / 05:43 Uhr
Erfurt. Der Thüringer Verfassungsschutz-Chef Stephan Kramer stand zuletzt in der Kritik. Er habe, so der Vorwurf, zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstellt, mit Mitteln zu arbeiten und Informationen über Rechtsextremisten zu beschaffen, die nicht rechtsstaatlich seien. Gesagt hatte der oberste Nachrichtendienst-Mann im Freistaat tatsächlich, dass der Verfassungsschutz teilweise nicht so offensiv arbeiten dürfe, wie das andere zivilgesellschaftliche Gruppen können. Zivilgesellschaftlichen Organisationen Rechtsbruch vorgeworfen, das hat er allerdings nicht, wie hinterher vielfach behauptet wurde.
Wo die Informationsbeschaffer und -auswerter tätig sind? Ein Überblick:
„Reichsbürger“: Schon 2010 hat das Amt für Verfassungsschutz in Thüringen erstmals vor diesem Spektrum gewarnt, das auch in Thüringen immer stärker wird. „Ich schätze das Personenpotenzial auf etwa 1000“, sagt Kramer der TLZ und kündigt damit an, dass es eine weitere Steigerung bestätigter Fälle geben wird. 650 sind es aktuell (TLZ berichtete). Allerdings: Weitere 300 Verdachtsfälle befinden sich zusätzlich in der Prüfung. Kramer geht davon aus, dass diese Personen fast vollzählig als „Reichsbürger“ geführt werden müssen.
Wie mit ihnen umzugehen ist, dazu hat Stephan Kramer klare Vorstellungen: „Wir brauchen eine Task Force, die in der Lage ist, den Behörden vor Ort individuelle Hilfe anzubieten. Gleichzeitig müssen wir den Druck auf die Szene weiter verstärken, etwa durch Aufbewahrungsgebühren für zurückgegebene Ausweispapiere und die Zuverlässigkeitsprüfung für die Befähigung zum Führen von Kraftfahrzeugen.“ Die Einrichtung einer entsprechenden Stelle befindet sich, das bestätigte ein Sprecher des Innenministeriums auf Nachfrage der TLZ, im Aufbau. Wie die aussehen soll? Geplant ist offenbar eine Internetplattform mit allerhand Informationen. Kramer fordert jedoch mehr: „Das ist ein erster Schritt. Was die betroffenen Beschäftigten in den Behörden und Verwaltungen brauchen, ist mehr. Sie benötigen kompetente Ansprechpartner, an die sie sich wenden können und von denen sie individuell sowohl eine juristische Beratung als auch eine emotionale Unterstützung erfahren können.“
In Nordthüringen lokalisieren die Beschaffer aktuell intensivste Bewegungen der „Reichsbürger“-Szene. Bundesweite Vernetzungen lassen sich erkennen. Auch Waffen spielen zunehmend eine Rolle. Zuletzt war in Nordthüringen das Waffenarsenal eines „Reichsbürgers“ aufgeflogen.
Kramer ist sich noch dazu sicher: „Die ‚Reichsbürger‘ integrieren sich zunehmend in der rechtsextremen Szene.“ Das war nicht immer so: Oftmals wurden ‚Reichsbürger‘ als „Spinner“ abgetan. Bis einer in Bayern einen Polizisten erschoss. Manche, die sich diesen Gruppen zugehörig fühlen, wollen einfach nur staatliche Geldforderungen nicht zahlen, andere wiederum überziehen Kommunalbedienstete und -beamte mit Forderungen in Millionenhöhe – wieder andere neigen zum Rechtsextremismus, zeigen das immer öffentlicher. Neonazis: Ein weites Feld für den Verfassungsschutz. Neben bekannten Personen und Bewegungen gibt es offenbar eine neue Tendenz. „Rechtsextremisten versuchen, auch Schützenvereine zu unterwandern“, sagt Kramer. Konkrete Fälle seien bekannt. Er erklärt, was Ziel der Verfassungsschützer ist: „Wir wollen und müssen hier aufklären, weil wir den Vereinen damit helfen und gemeinsam mit den Vereinen den Sport sauber und die Neonazis von legalen Waffen fern halten wollen.“
Schützenvereine zu verurteilen und an den Pranger zu stellen, dass könne nicht das Ziel sein und gehe völlig an den Realitäten vorbei. Die Vereine seien Partner und nicht Gegner. Rechtsrockkonzerte: Es werden – wie auch in Sachsen – immer mehr Veranstaltungen mit immer mehr Besuchern. Das zeigen die regelmäßigen parlamentarischen Anfragen, die vom Innenministerium beantwortet werden. Kramer prognostiziert für das Jahr 2018 wieder eine steigende Zahl der teilweise bundesweit, ja sogar europaweit bekannten Veranstaltungen. Es gebe eine Reihe von Organisatoren, die weiter Großkonzerte durchführen wollen. „Die Geschäftsidee findet mehr Nachahmer“, so Kramer.
Zuletzt war der Thüringer Neonazi Tommy Frenck in den Schlagzeilen, der in Themar auf einer Wiese tausende Neonazis um sich versammelt hatte. Wenige Tage später gab es ein weiteres Konzert. In Kirchheim finden regelmäßig Veranstaltungen statt, der rechtsextreme NPD-Eichsfeldtag, organisiert vom Landesvorsitzenden und Bundesvize Torsten Heise, gehört ebenfalls zu den in der rechtsextremistischen Szene etablierten Veranstaltungen.
Kramer sagt deutlich: „ Wir müssen unbedingt verhindern, dass die Szene aus Thüringen einen Vergnügungspark für Neonazis macht.“ Gefreut habe er sich über die Äußerungen des neuen Innenministers Georg Maier (SPD), der gegen derlei Konzerte noch schärfer als bisher vorgehen will und, gerade wenige Tage im Amt, dem Rechtsextremismus eine klare Kampfansage gemacht hat. Die Konzertaktivitäten mindestens zu halbieren, das empfindet Kramer nicht nur als erstrebenswertes, sondern vor allem als realistisches Ziel.
Nochmal zurück zu Frenck: Er und seine Mitstreiter zeigen weiterhin an verschiedenen Immobilien Interesse. Ein möglicher Plan: Veranstaltungen wie in Themar sollen künftig in eigenen geschlossenen Räumen stattfinden – und damit für die Zivilgesellschaft und die Sicherheitsbehörden noch schwieriger zu bekämpfen sein als bisher.
Themar, meint Kramer, darf sich so nicht wiederholen. In Zukunft muss noch strenger beauflagt werden und auch die Polizeipräsenz muss aus seiner Sicht noch deutlicher ausfallen, insbesondere, was die Dokumentation und Beweissicherung von Verstößen angeht. Bei der Erstellung von Auflagenbescheiden müsse das Land dringend die Kommunen umfassender unterstützen. Es geht nicht um Besserwisserei, aber darum, dass im Vorfeld solcher Veranstaltungen die zuständigen Ordnungsbehörden und Fachleute aus den Ministerien unter Hinzuziehung von Polizei und Verfassungsschutz an einen Tisch kommen und die Auflagenbescheide gemeinsam erarbeiten: „Das Versammlungsrecht ist eine schwierige Materie, aber in anderen Bundesländern gelingt es auch, der rechtsextremistischen Szene das Leben schwer zu machen, ohne das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit rechtswidrig einzuschränken.“ Linksextremismus: Kramer drückt sein Unverständnis dar-über aus, dass es für größere Teile der Gesellschaft erst den G20-Gipfel gebraucht habe, um zu erkennen, „dass es hier eine besorgniserregende Entwicklung gibt“. Auch in Thüringen gebe es eine Szene, und damit meine er nicht „die in die Jahre gekommenen Altkommunisten, die über alte Zeiten mit Marx und Lenin schwärmen und philosophieren“. Was verharmlosend klingt, ist ganz anders gemeint: Kramer spricht von gewaltbereiten „Autonomen und Anarchisten“, die aufrüsten würden. Das Gefahrenpotenzial ist in Thüringen nicht vergleichbar zum Bereich des Rechtsextremismus oder Islamismus, aber trotzdem beachtenswert. Vor allem Gewalt gegen Menschen gewinnt Akzeptanz und spielt damit eine immer größere Rolle. „Immer öfter sind es aber auch Kinder und Jugendliche, die im Umfeld auffällig werden“, sagt er und vermutet eine Tendenz dahinter, die sich in den Statistiken der politisch motivierten Kriminalität der letzten Jahre ablesen lassen. Und aus Thüringen seien auch Verbindungen zu einigen linksextremen Hochburgen in Deutschland fast schon als „familiär zu beschreiben“. Islamismus: Die Zahl der Menschen, die in Thüringen als sogenannte Gefährder eingestuft werden, wächst. Einen gab es vor 18 Monaten. Jetzt sei es schon eine kleine zweistellige Anzahl, der man zutraue, im Namen der selbst ernannten Terrormiliz IS einen Anschlag zu verüben. Hinzu kommen etwa 200 Islamisten, die in Thüringen bekannt seien. „Fünf bis zehn neue Hinweise gehen pro Woche ein“, sagt Kramer. 200 Bearbeitungsfälle im Bereich Islamismus lägen aktuell im Amt vor. Kramer spricht offen über die Lage in Thüringen: „Ja, wir haben ein Gefährderpotenzial in diesem Bereich, das sehr gefährlich werden kann.“ Zuletzt war es in Weimar gelungen, dass ein marokkanischer Staatsbürger abgeschoben wurde, nachdem sich auch Hinweise verdichtet hatten, er habe Kontakte zum Terrornetzwerk und hege Gewaltfantasien. Kramer fordert deshalb klare Kante: „Im Sinne der Menschen, die wirklich Schutz brauchen, müssen wir diejenigen abschieben, die abgelehnt wurden und den gewährten Schutz in unserem Land ganz offensichtlich missbrauchen. Und das konsequent.“
Wie aber umgehen mit denen, die schon in Deutschland sind, aber unbekannt? „Was spricht denn gegen erkennungsdienstliche Erfassungen im Nachhinein?“, fragt Kramer. Aus seiner Sicht wenig bis nichts. Abgesehen davon geht er mit der Bundesregierung hart ins Gericht: Niemand, so der Verfassungsschutzchef, könne ihm erzählen, „dass es in Europa unmöglich ist, angemessene Grenzkontrollen durchzuführen“. Fingerabdrücke nehmen, Fotos machen: „Das sind Mindestvor-aussetzungen, die beispielsweise jeder Reisende in die USA durchlaufen muss. Warum soll das nicht auch für Europa möglich sein?“, so Kramer – all das sei vor allem zum Schutz der Bürger im Schengenraum, aber auch für diejenigen wichtig, „die rechtmäßig als Flüchtlinge in Deutschland sind“.
Verfassungsschutzbericht: Nach dem Versuch, ihn nur noch alle zwei Jahre zu erstellen, wird nun die alte Praxis wieder angewendet. In den nächsten Wochen sei mit einer Veröffentlichung des bereits fertiggestellten Papiers für 2016 zu rechnen, sagt Kramer. Schwerpunktmäßig stehe die sogenannte „Neue Rechte“ im Fokus und die Frage: „Was bedeutet deren Intellektualisierung?“
Denn, so Kramer, „wir haben es längst nicht mehr nur mit dem Bierdosen-Springerstiefel-Nazis zu tun“. Von jenen vermeintlich Intellektuellen, die raffinierter seien als bisher bekannte Rechtsextremisten, gehe eine viel größere Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung aus.