BVerfGE 92, 277 (277)1. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts als Bestandteil des Bundesrechts (Art. 25 GG), nach der die strafrechtliche Ahndung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten ausgeschlossen ist, die im Auftrag und vom Territorium eines Staates aus begangen wurden, der danach dem ausgespähten Staat friedlich und einvernehmlich beigetreten ist, kann nicht festgestellt werden.
2. Zur Frage der Strafbarkeit und Verfolgbarkeit früherer Mitarbeiter und Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und des militärischen Nachrichtendienstes der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nach der Vereinigung Deutschlands wegen ihrer zuvor gegen die Bundesrepublik Deutschland oder deren NATO-Partner gerichteten Spionagetätigkeit. Beschluß
des Zweiten Senats vom 15. Mai 1995
-- 2 BvL 19/91, 2 BvR 1206, 1584/91 und 2601/93 --
in den Verfahren
I. zur Prüfung, ob 1. Art. 315 Abs. 4 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) in der Fassung des Einigungsvertrages insoweit gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, als er die Strafverfolgung wegen geheimdienstlicher Agententätigket, im Verlauf damit verübten Landesverrats und der mit der geheimdienstlichen Tätigkeit in Zusammenhang stehenden Bestechung gegen solche Personen beibehält, die ihre HandlunBVerfGE 92, 277 (277)BVerfGE 92, 277 (278)gen vom Boden der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik aus begangen haben und die im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 ihre Lebensgrundlage in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik hatten,
2. die für den Kriegsfall geltende allgemeine Regel des Völkerrechts des Art. 31 der Haager Landkriegsordnung, wonach der zu seinem Heer zurückgekehrte Spion für früher begangene Spionage nicht verantwortlich gemacht werden darf, auf den unter 1. genannten Personenkreis entsprechend angewendet werden kann - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Kammergerichts in Berlin vom 22. Juli 1991 - (1) 3 StE 9/91 - 4 - (13/91) - 2 BvL 19/91 -; II. über die Verfassungsbeschwerden
1. des Herrn L... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Klaus Rüther, Seminarstraße 13/14, Osnabrück - gegen a) den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 24. September 1993 - 3 StR 199/92 -, b) das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 23. Dezember 1991 - IV - 22/91 - (17/91 VS-Vertr.) - 2 BvR 2601/93 -,
2. des Herrn K... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Harry Boog, Friedrich-Ebert-Anlage 30, Heidelberg - gegen a) den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 3. Juli 1991 - 3 StR 226/91 -, b) das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 28. Februar 1991 - 4 OJs 11/90 - 2 BvR 1206/91 -,
3. des Herrn D... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Gunter Widmaier, Herrenstraße 23, Karlsruhe - gegen a) den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 18. September 1991 - 3 StR 193/91 -, b) das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 5. Februar 1991 - 3 StE 4/90-1 - 2 BvR 1584/91 -.
Entscheidungsformel:
1. Die Vorlage des Kammergerichts ist insoweit unzulässig, als sie Artikel 315 Absatz 4 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch zu verfassungsrechtlichen Prüfung vorlegt.
2. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der die strafrechtliche Ahndung nachrichtendienstlicher Tätigkeiten ausgeschlossen ist, die im Auftrag und vom Territorium eines Staates aus begangen wurden, der danach dem ausgespähten Staat friedlich und einvernehmlich beigetreten ist, ist nicht Bestandteil des Bundesrechts.
3. Das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 23. Dezember 1991 - IV - 22/91 - (17/91 VS-Vertr.) - und der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 24. September 1993 - 3 StR 199/92 - verletzen den Beschwerdeführer zu II. 1. in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2, Artikel 33 Absatz 2 und Artikel 38 BVerfGE 92, 277 (278)BVerfGE 92, 277 (279)Absatz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Düsseldorf zurückverwiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer zu II. 1. seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
4. Das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 28. Februar 1991 - 4 OJs 11/90 - verletzt den Beschwerdeführer zu II. 2. im Rechtsfolgenausspruch in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 3. Juli 1991 - 3 StR 226/91 - verletzt den Beschwerdeführer ebenfalls in diesem Grundrecht, soweit dessen Revision in bezug auf den Rechtsfolgenausspruch verworfen wurde.
Die Entscheidung werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an der Oberlandesgericht Stuttgart zurückverwiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer zu II. 2. seine notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten.
5. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu II. 3. wird zurückgewiesen.
Gründe:
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv092277.html