Für diejenigen, die sie fordern, soll die Harte Hand natürlich immer die anderen treffen.
Spoiler
Von jenem Tag an sah „ich jeden Tag vorn an der Bernauer Straße die Mauer wachsen, Zaun und Stacheldraht“. Sie sah in die Gesichter der Menschen. „Die eine Hälfte weinte, war verzweifelt, die andere beschimpfte und bespuckte die, die die Mauer mauerten. Mir war unmittelbar klar, dass man nur noch unter Lebensgefahr in den Westen kommen würde.“
In den Westzonen Berlins aber hatte sie bis zu diesem 13. August „die ganze Kultur bezogen“. Kino, Theater, Bücher, Konzerte. Zehn Minuten mit der S-Bahn vom Bahnhof Friedrichstraße Richtung Westen – schon war sie fast am Kurfürstendamm. „Die S-Bahnhöfe wurden natürlich zuerst dichtgemacht.“
„Ums Verrecken“ wollte sie nicht eingesperrt sein. „Ich doch nicht“, sagt sie.
Es ist nicht so, dass Renate Werwigk ein roher Sprachgebrauch in die Wiege gelegt wurde. Ihre Eltern waren Bürgerliche, Christen, zählten zur Intelligenz. Der Vater, Gottlieb Großmann, arbeitete als Arzt und Pastor in Teupitz, einer kleinen Stadt südlich von Berlin, in Brandenburg. Verrecken, verdammen, hassen sind Wörter, die sie aus drei Jahren Gefängnis mitgenommen hat. Zwei gescheiterte Fluchtversuche, zwei Verurteilungen. Stasi-Haft in Rostock, in Frankfurt an der Oder, Stasi-Haft in Berlin-Hohenschönhausen, zuletzt im Frauengefängnis Hoheneck in Sachsen.
Putin sperrt seine Gegner ja auch weg. Ist nicht viel anders als damals
Sie hat das alles überstanden, hat jahrzehntelang als Kinderärztin gearbeitet, hier, im Südwesten Berlins, wo sie jetzt in ihrem Wintergarten sitzt. „Drei Jahre meines Lebens dafür, dass ich hier sein darf“, sagt sie. Im Dezember wird sie 85.
Die „frühe“ DDR war eine andere als die der Siebziger- oder Achtzigerjahre. Renate Großmann, wie sie bis zu ihrer ersten Hochzeit hieß, hat in der Erweiterten Oberschule die Verfolgung der Jungen Gemeinden erlebt, das harte Aufeinanderprallen von Kirche und Staat. Wer Christ war, seinen Glauben bekannte, bekam Probleme. Ein Tag im Frühjahr 1953. „Alle, die in der Jungen Gemeinde sind: Raus!“, habe es plötzlich in der Schule geheißen. Kurze atemlose Stille. Dann standen diejenigen auf, die dazugehörten, und gingen, waren raus. Auch Renate ging.
„Wir müssen uns irgendwie arrangieren“, sagte der Vater, als wäre die DDR nur ein Spuk, nicht von Dauer. So unterrichteten die Eltern ihre Tochter eine Weile lang zu Hause, bis man sie wieder in die Schule gehen ließ. „Da stand mir doch der Staat bis hier“, sagt Renate Werwigk und schneidet die flache Hand gegen den Hals.
Ganze Klassen, erzählt sie, verließen damals die Deutsche Demokratische Republik. Junge Menschen, die den Sozialismus hätten mitgestalten können, die ihre Heimat liebten, sich aber ein eingemauertes Leben nicht vorstellen konnten. Uwe Johnsons Buch „Ingrid Babendererde“ erzählt von genau diesen Jugendlichen, zu denen auch die Großmann-Kinder gehörten.
Reinhard, ihr Bruder, floh schon im September 1961, kroch unter dem Stacheldraht hindurch. Vom Westen aus wollte er alles tun, um seine Eltern und die Schwester nachzuholen. Er war es, der die Flucht durch einen Tunnel organisierte, der mitgrub. Doch der Tunnel wurde verraten. Renate Werwigk erzählt von diesen atemlosen, „gelähmten“ Minuten im Februar 1963, als sie gewarnt wurden, im Auto noch, kurz vor dem Haus in der Berliner Brunnenstraße, wo sie hätten einsteigen sollen in dieses Loch in der Erde. Sofort drehten sie um. Schon auf der Fahrt zurück nach Teupitz wurde der Vater an einer Tankstelle verhaftet. Auf Mutter und Tochter wartete die Staatssicherheit zu Hause, im Pfarrhaus.
Gottlieb Großmann wurde zu drei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt, Renate zu zwei Jahren und sechs Monaten wegen „fortgesetzten gemeinschaftlichen Verleitens zum Verlassen der DDR“. Hilde Großmann, die Mutter, musste ein Jahr ins Gefängnis. Ihre Tochter saß ein halbes Jahr in Untersuchungshaft im Stasigefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Nummer sein. Keine Post, kein Paket, kein Besuch. Kein Anwalt. Auslauf im Tigerkäfig. „Nur du und dein Vernehmer.“ Kein Kontakt zum Vater, der in einer anderen Zelle saß. Aber wo? „Das war Isolationsfolter“, sagt Renate Werwigk.
Stasi Häftlingsfoto von Renate Großmann, 1967.
Sie kann das Alphabet noch klopfen. Klopft auf den Tisch im Wintergarten. Ihre Hand zittert leicht. Sie lacht. „Ich war ein Meister in Kommunikation“, sagt sie, „wir haben uns ganze Gedichte durchgeklopft, unsere Biografien.“
Später, im Stasiuntersuchungsgefängnis in Frankfurt an der Oder, konnte sie als Ärztin arbeiten, bekam ein Buch, ein Mikroskop. „So bin ich nicht verblödet.“ Jung war sie, aber schon approbiert und promoviert. Frau Doktor Großmann. Das habe geholfen. „Ich habe natürlich auch unsere Bewacher behandelt“, sagt sie. „Die vertrauten mir.“
Im Frühjahr 1965 waren Mutter, Vater und Tochter wieder zusammen. Renate Großmann ging zurück in ihr Krankenhaus, wurde von den Kollegen empfangen, als wäre nichts gewesen. Renate hier, Renate da. So viele Ärzte waren schon in den Westen geflüchtet, dass jede und jeder gebraucht wurde. Für sie aber war alles anders, für sie war klar: Ich muss raus, jetzt erst recht. Im RIAS, dem Radio im Amerikanischen Sektor, hörte sie, dass die Bundesrepublik Häftlinge aus DDR-Gefängnissen freikauft. Das Land brauchte Devisen, Westgeld. Schnell wusste sie, wer die Schlüsselfigur bei diesem Menschenhandel ist, und nahm Kontakt auf zu Wolfgang Vogel, dem Rechtsanwalt in Ostberlin. Dank seines diskreten Taktierens werden bis zum Fall der Mauer 1989 etwa 34 000 politische Häftlinge freigekauft. Er war es, der den Agentenaustausch im Kalten Krieg organisierte und weit mehr als 200 000 DDR-Bürgern zur Ausreise in den Westen verhalf. Wem es wie auch immer gelang, auf „Vogels Liste“ zu landen, der landete über kurz oder etwas länger auch im Westen.
Renate Großmann suchte also den Rechtsanwalt in seinem Haus in Berlin-Friedrichsfelde auf. Es wurde das existenziellste Gespräch ihres Lebens. Sie erzählte ihm ihre Geschichte, beschwor ihn: „Kaufen Sie mich frei!“ Wolfgang Vogel habe verzweifelt gewirkt, habe sie beruhigen wollen. „Aber Sie sind doch jetzt frei“, habe er ihr gesagt.
Und Ihre Antwort?
„Na, da bin ich richtig wild geworden. Da habe ich gesagt: ,Herr Vogel, ich bin aus einem kleinen Gefängnis entlassen, aber ich lebe weiter im großen Gefängnis‘.“
Es gebe keinen Weg zum Freikauf, sagte der Anwalt schließlich. Es sei denn, sie komme noch einmal in Haft. Vogel gab ihr sein Wort, dass er ihr dann helfen werde.
Dann holt sie ihre Stasiakte, von Freikauf steht da natürlich kein Wort
Moment bitte. Noch einmal ins Gefängnis? Um freigekauft zu werden?
Spätestens an dieser Stelle des Gesprächs versteht man, was Renate Werwigk meinte, als sie zu Beginn gesagt hatte: „Mein Fernweh war so pathologisch. Deshalb hab’ ich das alles auf mich geladen.“ Sie habe ums Verrecken nicht in einem Staat leben wollen, „in dem ich nicht frei wählen kann, der mich von der Wiege bis zur Bahre durchleuchtet. Das ist indiskutabel! In-dis-ku-tabel!“
Plötzlich redet sie über Wladimir Putin, den einstigen KGB-Mann, der seine Gegner für Jahrzehnte wegsperrt oder vergiften lässt, der Ukrainer zu „Nazis“ und „Faschisten“ erklärt, um eine Rechtfertigung vorzutäuschen, ein ganzes Land zu überfallen. „Uns kritische junge Leute hat die Stasi damals auch über Nacht zu Faschisten und Verbrechern abgestempelt. Das ist nichts anderes.“ Genau das erzählt sie auch in den Schulklassen. Sie, die Zeitzeugin. „Ein bisschen Diktatur gibt es ja nicht.“
Mit Wolfgang Vogels Versprechen im Kopf versuchte sie es ein zweites Mal, jetzt über die Volksrepublik Bulgarien. Wieder war ihr Bruder beteiligt – und Freunde aus Gießen, die Journalisten sind und viele Kontakte haben. Ein Kurier brachte ihr einen westdeutschen Pass. Sie wollte es über die schwer gesicherte bulgarisch-türkische Grenze wagen. Eine Grenze, die, nur nebenbei, heute wieder genauso gesichert ist wie damals, um Schleuser und Flüchtlinge aus aller Welt davon abzuhalten, über die sogenannte Balkanroute nach Westeuropa zu gelangen.
Am Übergang Kapitan Andreewo im Südosten Bulgariens wurde Renate Christel Großmann am 22. Juli 1967 gegen 23 Uhr „wegen des dringenden Verdachts des illegalen Verlassens der DDR festgenommen“. So steht es auf ihrer „Einlieferungsanzeige“ vom 24. August. Rechts oben ein Foto. Da hatte die bulgarische Staatssicherheit in Sofia schon tagelang in Verhören versucht, sie mürbe zu machen. Wut steht in diesem kantigen Gesicht, eine mühsam kaschierte Verachtung.
„Nu da sind Se ja wieder“, sagt eine der Wärterinnen im Stasi-Untersuchungsgefängnis in Berlin-Hohenschönhausen, als hinter Doktor Großmann zum zweiten Mal Türen in Schlösser fielen.
Sechs Monate kein Brief. Kein Paket. Verhöre. „Psychoterror“, sagt sie.
Sechs Monate klopfen. Am 12. Dezember 1967 wurde Renate Großmann in Potsdam zu drei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt. Bis zum März 1968 blieb sie weiter in Stasihaft. Dann brachte man sie ins Frauenzuchthaus Hoheneck in Sachsen.
Auf das, was sie dort erwartete, war sie nicht vorbereitet. Wie sollte sie auch. Offiziell gab es ja keine Kriminellen im Sozialismus. Sie steckten die „republikflüchtige“ Kinderärztin „mit zehn, zwölf Mörderinnen in einen Raum“. Frauen, die ihre Kinder umgebracht hatten. Wie sie töteten – das drücken sie ihr auf, „haarklein“, sagt Renate Werwigk. Manches von dem, was in Hoheneck geschah, will sie nicht in der Zeitung lesen. „Mit mir wurde agiert“, sagt sie. „Ich war ein Spielzeug in den Händen von Sadistinnen.“ Nie wieder ist sie an diesen Ort gefahren.
Der Anwalt hielt sein Versprechen. Am Morgen des 14. Juli 1968 wurde sie nach Karl-Marx-Stadt gebracht. Hier, in der Bezirksstasizentrale, durfte sie duschen, bekam zu essen. Der Rock, den sie ein Jahr zuvor in Bulgarien getragen hatte, glitt auf die Füße. Sofort wurde er enger genäht. Doktor Großmann durfte beim Verkauf an den Westen ja nicht aussehen, als habe sie gehungert. Zwanzig Kilo leichter war sie, als Wolfgang Vogel sie in seinem golden glänzenden Mercedes über die deutsch-deutsche Grenze fuhr, von Thüringen nach Hessen. 100 000 DM habe sie gekostet, sagt sie. In ihrer Stasiakte steht natürlich kein Wort von Freikauf. Sie endet in jenem Sommer 1968, als ihre Strafe „zwei Jahre zur Bewährung“ ausgesetzt wurde.
Nicht gern holt Renate Werwigk ihre Stasiakte aus dem Schrank im Obergeschoss des Hauses. Doch dann steht sie da, in ihrem Flur, in der Hand einen Leinenbeutel. „Ich hab’ immer noch das Gefühl, ich mach’ mir die Finger daran schmutzig“, sagt sie, „aber blättern Sie ruhig ...“
Was sie auch nicht gern hat, sind Türen und Schlüssel. Als sie vor Jahrzehnten in dieses Haus zog, hat sie alle Türen ausgehängt, hat Glasregale bauen lassen, Schiebetüren eingesetzt, den Wintergarten gebaut. Alles muss offen sein. Es kommt vor, dass sie auf öffentlichen Toiletten die Tür nicht verriegelt, wenn sie auch nur den leisesten Zweifel hat, das Schloss könnte klemmen. Noch nicht einmal im Fernsehen erträgt sie das Geräusch von Schlüsselbunden, von Türen, die in Schlösser fallen.
„Knastmacke“, sagt Renate Werwigk.
Sofort kommt die Akte wieder in den Beutel, dann in den Schrank. Draußen ist herrliches Wetter, wie damals.