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Möchte ich wissen, welcher Politiker bald eine Wahl gewinnt oder welche Menschheitskrise als Nächstes ansteht, muss ich nur den Twitter-Feed eines meiner Bekannten lesen. Er macht exakte Vorhersagen. Und lässt nie Zweifel daran, dass es so kommen wird.
Wie würde ich mich freuen, hätte ich tatsächlich einen Hellseher im Bekanntenkreis. Leider habe ich keinen. Der Mann, der vermeintlich alles weiß, liegt sensationell oft daneben. Ein Zufallsgenerator würde bessere Ergebnisse liefern. Das hält ihn aber nicht davon ab, seine nächste Prognose wieder mit derselben Selbstsicherheit ins Netz hinaus zu posten.
Womöglich hat er nicht bloß ein enormes Ego, sondern auch ein ganz schlechtes Gedächtnis. Womöglich ist es ihm egal. Was mich jedoch am meisten fasziniert: Mein Bekannter kommt damit durch. Seit Jahren schon. Und keinen scheint es zu stören.
Der Archetyp des Bescheidwissers, der ständig irrt
Einmal sprach ich mit ihm darüber. Er sagte: Ja, ganz schrecklich, solche Typen! Zum Beispiel dieser Richard David Precht! Zunächst stutzte ich, aber inzwischen muss ich zugeben: Richard David Precht ist noch viel schlimmer als mein Bekannter. Er ist der Archetyp des Bescheidwissers, der ständig irrt.
Ein kleiner Auszug aus der atemberaubenden Liste falscher Vorhersagen: Precht prophezeite, Ursula von der Leyen werde Angela Merkel ablösen. Er glaubte an die Wiederwahl von Donald Trump. Er sagte voraus, Sebastian Kurz werde Österreich länger regieren als Fidel Castro Kuba.
Die nächste Bundesregierung, da war sich Richard David Precht sehr sicher, werde eine schwarz-grüne sein. Die Sozialdemokraten würden die Bundestagswahl 2021 nicht gewinnen. Im Übrigen würden sie sich auch nicht auf eine Koalition mit den Grünen und der FDP einlassen.
Panzer in die Ukraine senden? Schlicht unmöglich, glaubt Precht
Im März 2020 wusste Precht, das Coronavirus sei „etwas vergleichsweise Harmloses“, so gefährlich wie eine Grippe. Im Februar 2022 erklärte er, Waffenlieferungen an die Ukraine ergäben keinen Sinn, weil Russland Kiew in vier Tagen einnehmen werde, bei Waffenlieferungen eben in fünf. Einen Monat später erläuterte er uns, die Ukraine habe keine Chance, den russischen Angriff abzuwehren, deshalb müsse sie aufgeben. Im Juni 2022 wusste er erneut, dass die Ukraine den Krieg verlieren werde. Zudem glaube er, dass es für den Westen schlicht unmöglich sei, Panzer in die Ukraine zu liefern.
Ich wünsche mir eine Youtube-Sendung, in der Richard David Precht seine eigenen Vorhersagen der letzten Jahre anschaut und erklärt, warum man damals, selbstverständlich, gar nicht anders konnte, als genau diese Prognosen zu treffen. Und dass jeder, der dies anders sieht, keine Ahnung hat.
Seinem Image als Bescheidwisser – egal zu welchem Thema – haben die vielen Fehlprognosen nicht geschadet. Dieselbe Erfahrung machte Sahra Wagenknecht: Im Februar 2022 erklärte sie bei „Anne Will“, die Ukraine müsse Russland nicht fürchten, Wladimir Putin habe schließlich überhaupt kein Interesse, ins Nachbarland einzumarschieren. Sie warnte vor Panikmache und kritisierte, ein russischer Einmarsch werde vom Westen „geradezu herbeigeredet“. Drei Tage später gab Putin den Befehl zum Überfall.
Wagenknecht hält dies nicht davon ab, weiter die Russlandexpertin zu geben. Zum Beispiel zu erklären, warum die Ukraine jetzt endlich in Verhandlungen eintreten müsse. Und die Redaktionen der großen deutschen Talkshows hält es nicht davon ab, sie weiter als Russlandexpertin einzuladen.
Das Internet ist inzwischen voller Richard David Prechts. Überraschenderweise sind es meist Männer. Sie mögen kein Abwägen, keine Zweifel und keine Selbstreflexion. Sie schreiben nie „Ich vermute, dass …“, sondern lieber „Auf jeden Fall kommt es so!“ Sie denken nicht daran, hinterher wenigstens offenzulegen, dass sie falsch lagen. Stattdessen löschen sie ihre Tweets und hoffen, dass es niemandem auffällt. Ist dieses Verhalten eine Folge der digitalen Debattenverrohung oder führt es zur weiteren Verrohung der Debattenkultur? Oder beides?
Bemerkenswerte Prechtigkeit zeigt „Welt“-Chef Ulf Poschardt auf Twitter. So unbeirrbar, wie er mit der Geste des Obercheckers, der die großen Zusammenhänge des Politikbetriebs durchschaut, dann aber famos daneben liegt und trotzdem immer wieder aufs Neue alles weiß – das macht ihm keiner nach.
Im August 2021 war sich Poschardt zum Beispiel sicher: „Nur mal so: Es wird keine Ampel geben.“ Mitte September war ihm erneut klar: „Es wird keine Ampel geben.“ Wenige Tage später erklärte Poschardt noch einmal, damit es auch der letzte Unwissende verstanden hat: „Es wird keine Ampel geben.“
Als sie sich dann doch formte, schrieb er von einer Koalition, die „vor einem halben Jahr noch eher undenkbar war“. Die eigene Fehleinschätzung nachträglich als logische Überzeugung aller zu verkaufen, das hat besonderen Charme. Und auch hier gilt: Wie kommt einer so lange damit durch?
Vielleicht könnten die notorischen Bescheidwisser von den Zeugen Jehovas lernen. Nachdem die mehrfach den Weltuntergang vorhergesagt hatten – für 1874, 1914, 1925 und 1975 – und dieser nie eintrat, gingen sie dazu über, keine konkreten Daten mehr zu nennen, ihn nur grundsätzlich in Aussicht zu stellen. Richard David Precht ist da ehrgeiziger. 2017 verkündete er, binnen zehn Jahren werde es keine Busfahrer mehr geben und auch keine Taxis. Könnte knapp werden.