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Wie ehemalige DDR-Offiziere für Putins Krieg in der Ukraine werben
Im einstigen Militär Ostdeutschlands dienten Zehntausende Parteikader. Sie lieben russische Militärparaden und halten den Überfall auf die Ukraine für berechtigt. Ihre Aufrufe und Wortmeldungen sind feinste Moskauer Indoktrination.
Marco Seliger, Berlin
07.05.2023, 05.30 Uhr
Russische Soldaten stehen in einem Panzer während der Siegesparade am 9. Mai 2022 auf dem Roten Platz in Moskau.
Evgenia Novozhenina / Reuters
Am 9. Mai werden voraussichtlich wieder Tausende Soldaten mit Panzern, Haubitzen und Raketenwerfern über den Roten Platz in Moskau marschieren. Dann lässt der russische Präsident Wladimir Putin den Tag des Sieges über den Hitler-Faschismus zelebrieren. Mit ihm feiern auch Tausende ehemalige Offiziere der früheren Nationalen Volksarmee der DDR (NVA), Ex-Militärs in Ostdeutschland, die sich als Friedensfreunde gerieren und doch vor allem eines tun: Sie agitieren für Russlands Krieg in der Ukraine.
Wer wissen will, warum Teile des Ostens Deutschlands auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer anders ticken, muss sich mit diesen Leuten beschäftigen, mit Putins NVA-Kolonne. Wenn man das tut, stösst man nicht nur auf einen gut organisierten Kreis ehemaliger DDR-Offiziere, sondern auch auf ein Netzwerk aus Juristen, Parteikadern, Stasi-Mitarbeitern und Intellektuellen der untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik.
Die meisten von ihnen sind betagte Menschen, deshalb aber noch lange nicht zu alt, um nicht zu wissen, was sie tun. Unter dem Deckmantel angeblicher Friedensgruppen skandieren sie russische Parolen und betreiben die Propaganda, deren sich linke wie rechte Extremisten in Deutschland bedienen.
Siegfried Eichner.
PD
Ein Beispiel hierfür ist der «Verband zur Pflege der Traditionen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR». Er hat gute Kontakte zum russischen Militär. Mitglied sind zum Beispiel zwei Herren namens Siegfried Eichner und Gerhard Matthes. Der eine ist für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich, der andere war Vorsitzender der Regionalgruppe des Verbands in Strausberg bei Berlin.
Am 9. Mai vor einem Jahr, der russische Überfall auf die Ukraine lief seit gut zweieinhalb Monaten, nahmen beide am Aufmarsch des Putin-Militärs in Moskau teil. Anschliessend setzten sie sich vor eine Videokamera, um darüber zu berichten. Man kann die Aufnahme im Internet auf der Seite von Weltnetz.tv finden, einer «Plattform für linken und unabhängigen Videojournalismus».
«Russische Paraden beeindrucken immer»
Eichner, geboren 1954, Oberstleutnant ausser Dienst, dunkelblauer Anzug, weisses Hemd, sagt in dem Video, die Parade habe bei ihm «besondere Eindrücke» hinterlassen. Putin fuhr damals auch Waffen auf, die er ein paar Tage vorher noch in der Ukraine hatte einsetzen lassen. «Russische Paraden beeindrucken immer, und als Militär, der die NVA kennt und die Bundeswehr gesehen hat, weiss man, wie Paraden auszusehen haben», erklärte Eichner. Er wurde nach der Wiedervereinigung nicht in die Bundeswehr übernommen.
Gerhard Matthes.
PD
Matthes, geboren 1936, Kapitän zur See ausser Dienst, dunkle Krawatte mit Anker-Motiv zu beigem Hemd, sagt mit schwacher, brüchiger Stimme, interessant sei für ihn an diesem Tag das Gespräch bei der Kommunistischen Partei Russlands gewesen, «wo wir uns wunderbarerweise mit den gleichen Ansichten über die Sonderoperation in der Ukraine unterhalten haben». Russen und Ukrainer seien ein «Brudervolk», weshalb Putins Truppen von Beginn an «sehr viel Rücksicht auf die Bevölkerung unternommen» hätten, «um weniger Zerstörungen anzurichten, als nötig sind». Auch Matthes wurde nicht in die Bundeswehr übernommen.
Geschenkt, könnte man über diese Äusserungen sagen, sind halt Ewiggestrige. Man könnte sich aber auch fragen, mit wem dieser Verband ehemaliger DDR-Offiziere heute noch so seine Verbindungen pflegt. Und da landet man schnell bei der russischen Botschaft in Berlin.
Dies ist auf der Website des Traditionsverbandes zu lesen. Dort berichtet Siegfried Eichner über ein Vereinstreffen zum Jahrestag der NVA am 8. Oktober 2022 in Demen, Mecklenburg-Vorpommern. «Der am Sonnabend erfolgte Angriff auf die Krim-Brücke», formulierte er, «zwang den ebenfalls eingeladenen Verteidigungsattaché der Botschaft der Russischen Föderation zunächst, umzukehren und nach Berlin zurückzufahren. Dass er dennoch am Nachmittag zu uns nach Demen kam, dürfen wir guten Gewissens als hohe Wertschätzung für unsere Arbeit und für das gute Verhältnis zueinander werten.»
Der russische Militärattaché – Soldat oder Spion?
Dieser Militärattaché heisst Sergei Chukhrow, ein Generalmajor, bei dem man allerdings nicht wissen kann, ob er wirklich Soldat ist oder für einen russischen Geheimdienst spioniert. Vielleicht tut er auch beides. Russland versucht, die Tätigkeiten seiner Dienste in Deutschland zu tarnen, indem es sie als Diplomaten akkreditiert. Vor wenigen Wochen erst hat die Bundesregierung mal wieder mehrere Dutzend dieser angeblichen Diplomaten wegen Spionage des Landes verwiesen.
Der Auftrag von Moskaus Agenten besteht unter anderem darin, die deutsche Unterstützung für die Ukraine zu untergraben. Unter den ehemaligen DDR-Offizieren finden sie dafür offenbar willige Helfer. Die Pamphlete, mit denen der NVA-Traditionsverband seit seiner Gründung 2013 eine Öffentlichkeit sucht, enthalten so gut wie alle Narrative, mit denen der Kreml seit Jahren agiert.
Dazu gehört etwa der Antiamerikanismus, konkret der Vorwurf, die USA zielten in der Ukraine darauf ab, Russland als Konkurrenten auszuschalten und die EU zu schwächen. Dazu gehört aber auch die Bezeichnung der deutschen Medien als «Systempresse», in der «korrumpierte Journalisten» für «unverbesserliche Politiker» die «Kriegstrommeln» rührten. Und dazu gehört die Mär von den zwei «Volksrepubliken» im Donbass, die sich aus der «Unterdrückung» durch die «Nazis in Kiew» befreien wollten.
Soldaten der früheren sowjetischen Streitkräfte und der ehemaligen NVA im Gespräch während des «Sportfestes der Waffenbrüder» an der damaligen Offiziershochschule «Franz Mehring» in Kamenz (heute Sachsen).
Imago
Man muss dazu wissen, dass diese Leute von ihrer Nationalen Volksarmee geprägt wurden, wie Soldaten überall in der Welt von dem System geprägt werden, dem sie dienen. Doch eine Armee des Volkes war die NVA nie. Sie war eine Armee des Zwanges. Jeder junge Mann musste «zur Fahne», wie der Wehrdienst in der DDR genannt wurde. Das Offizierskorps bestand zu nahezu einhundert Prozent aus systemkonformen Parteikadern der Sozialistischen Einheitspartei (SED).
Kein anerkannter Status für ehemalige DDR-Offiziere
Das Gros von ihnen fand in der Bundeswehr keine neue Beschäftigung. Nur etwa 18 000 von 1990 noch 89 000 NVA-Soldaten wurden insgesamt übernommen, unter ihnen 6000 Offiziere. Gut fünfzehn Jahre später waren es nur noch etwas mehr als 3500 Soldaten aller Dienstgradgruppen.
Einen staatlich anerkannten Status, wie er für ehemalige Bundeswehrsoldaten existiert, gibt es für die DDR-Offiziere bis heute nicht. In ihren Rentenbescheiden steht: «Gedient in fremden Streitkräften». «Dass diese Leute die DDR und die Sowjetunion verklären, ist doch nachvollziehbar», sagt der Militärhistoriker Sönke Neitzel.
Neitzel, der als Professor an der Universität Potsdam lehrt, hält die Ausgrenzung der NVA-Offiziere aus westdeutscher Sicht für verständlich, aus gesamtdeutscher Sicht aber für einen Fehler. «Die NVA war der militärische Arm einer Diktatur», sagt er. Aber die Bundesrepublik habe diesen Leuten auch «kein Angebot gemacht, um sie an den neuen Staat zu binden». Nun «geistern sie als freie Radikale herum», verklärten die NVA zur Friedensarmee und mit ihr Putins verbrecherische Truppen in der Ukraine.
Zu diesen Leuten zählt Manfred Grätz, einst Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR. Er wurde 1998 wegen Beihilfe zum Totschlag im Mauerschützenprozess zu 15 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Zu Beginn dieses Jahres hat Grätz mit einem weiteren früheren NVA-General einen Aufruf verfasst unter der Überschrift: «Deutsche Panzer gegen Russland – Aufruhr meines Gewissens».
Gespräch mit der NZZ kurzfristig abgesagt
Veröffentlicht wurde der Aufruf unter anderem beim russischen Propagandasender RT Deutsch und auf linken Webseiten. Der 88-jährige Grätz schreibt etwas holperig: «Von einer geschichtsvergessenen oder die Geschichte arrogant missachtenden Minderheit, die sich berufen fühlt, unser Land zu regieren, und in Vasallentreue dem transatlantischen Bündnispartner folgt, herbeigesehnt und -geredet von einer einmalig gleichgeschalteten Medienlandschaft: Panzer gen Osten ist beschlossene Sache.»
Wenn Menschen mit unterschiedlichen Ansichten nicht miteinander reden, entstehen Feindbilder. Eine liberale Demokratie sollte verhindern, dass Verhärtungen, Abkapselungen und Frustrationen auf der jeweiligen Gegenseite wachsen. Doch kann man mit Menschen wie Grätz wirklich reden?
In der Nähe des Kernkraftwerks Tschernobyl haben russische Soldaten Schützengräben ausgehoben und Feuerstellungen errichtet.
Efrem Lukatsky / AP
Die NZZ hätte es gern getan. Für den 11. April war bereits ein Gesprächstermin mit dem NVA-Traditionsverband ausgemacht. Doch kurz vorher sagte der Sprecher des Vereins ab. Die nebulöse Begründung lautete, es habe «da in jüngster Zeit einige Artikel gegeben, die uns an der bisherigen Einschätzung, die NZZ sei eine seriöse Zeitung, zweifeln lassen». Konkreter wurde er nicht, aber es steht zu vermuten, dass diese Artikel mit dem russischen Überfall auf die Ukraine zu tun hatten.
Da bleibt man lieber unter sich. «Mitglieder und Sympathisanten, Genossen und Freunde, erhebt eure Stimme, versteckt euch nicht», so forderte es am Ende seines Pamphlets der Ex-NVA-General Grätz. Und die «Genossen» folgten. Ihre Wortmeldungen sind in einem Sammelband zusammengefasst, herausgegeben im März vom Ostdeutschen Kuratorium von Verbänden e. V.
Verharmloser der DDR-Geschichte
Das ist ein Dachverband verschiedener Organisationen im Osten Deutschlands. Der Historiker und frühere Direktor der Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen Hubertus Knabe etwa bezeichnete ihn in seinem Buch «Die Täter sind unter uns» als «Volksfront gegen die deutsche Einheit». Der Bremer Extremismusforscher Udo Baron sieht in dem Kuratorium eine «Organisation des marxistisch-leninistisch orientierten Linksextremismus».
Bei den in dem Sammelband vereinten Autoren handelt es sich teilweise um ehemalige Angehörige der NVA und der Stasi, Intellektuelle und Juristen der früheren DDR. Viele von ihnen gehören heute Vereinen und Organisationen an, die von ehemaligen Spitzenfunktionären der DDR Anfang der 1990er Jahre gegründet wurden.
Dazu gehören etwa der «Deutsche Friedensrat», die «Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde» (GBM) und die «Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung» (GRH). Marianne Birthler, die frühere Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde, wirft etwa der GRH vor, die DDR-Geschichte schönzureden und die Tätigkeit der Stasi zu verharmlosen.
Ein Bericht des Berliner Verfassungsschutzes über diesen Verein spricht von «mangelndem Unrechtsbewusstsein», das sich etwa darin zeige, dass Begriffe wie Stasi-Unrecht, westliche Demokratie und Menschenrechte sowie Stasi-Verbrechen in der Verbandszeitschrift der GRH jeweils in Anführungszeichen gesetzt würden. Eine rechtliche Handhabe für eine Beobachtung bestehe gleichwohl nicht. Es gebe keine Anhaltspunkte, dass diese Gesellschaft die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen wolle.
Russland ist Teil der ostdeutschen Identität
Das gilt offenbar auch für den «Verband zur Pflege der Traditionen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR». Die NZZ hatte beim Bundesamt für Verfassungsschutz und mehreren Landesämtern gefragt, ob sie die ehemaligen DDR-Offiziere auf dem Radar hätten. Das Bundesamt teilte mit, es äussere sich nicht zu Organisationen, die nicht im Verfassungsschutzbericht aufgeführt seien. Die Landesämter formulierten ihre Antwort ähnlich.
Doch während die Menschen in der «alten» Bundesrepublik die Waffenlieferungen an die Ukraine mehrheitlich unterstützen, lehnen die Ostdeutschen sie in grosser Anzahl ab. Warum ist das so? Anruf bei Sarah Pagung, Politikwissenschafterin der gemeinnützigen Körber-Stiftung in Hamburg. Sie stammt aus Mecklenburg-Vorpommern und forscht zu Russland und zu sicherheitspolitischen Themen.
Russland, sagt Pagung, sei Teil der ostdeutschen Identität. Viele Ostdeutsche wollten sich aus dem Krieg in der Ukraine heraushalten, weil er ihrer Auffassung nach kein deutscher sei und auch keiner werden solle. Dass sie sich heraushalten möchten, hänge wiederum damit zusammen, dass die Verbindung und Identifikation mit dem Westen fehle.
Am 7. Oktober 1989 fand anlässlich des 40. Jahrestages der DDR eine Parade der Nationalen Volksarmee statt. Es war ihr letzter Aufmarsch. Einige Wochen später fiel die Berliner Mauer.
Ullstein/Getty
Dem könnte man entgegenhalten, dass es auch im früheren Westdeutschland viele Menschen gibt, die sich mit «dem Westen» nicht identifizieren. «Doch sie haben», sagt Pagung, «im Gegensatz zu vielen Ostdeutschen nicht die Wende als Zeit der Verluste und Benachteiligungen erlebt.»
Ein Grossteil der Menschen im Osten Deutschlands sehe Russland daher als Teil seiner ostdeutschen, von der DDR geprägten Identität. Sie hätten die Erfahrungen der Wendezeit an ihre Kinder und Enkel weitergegeben. «Das Ergebnis ist, dass heute Ostdeutsche verschiedener Generationen Russland verteidigen – und damit auch die eigene Identität.»
Widerhall bei Linkspartei und AfD
Russland wird damit zur Projektionsfläche für die Unzufriedenen in Ostdeutschland. Dort gibt es zwei Parteien, die diese Unzufriedenheit ganz besonders bedienen. Es sind die Linkspartei und die AfD, zwei politisch gegensätzliche Organisationen. Dennoch finden die von den einstigen NVA-Offizieren verbreiteten Narrative zum Krieg in der Ukraine in beiden Parteien breite Verwendung.
Vor wenigen Wochen zitierte die «Washington Post» russische Geheimunterlagen, wonach der Kreml die rechts- wie die linksextremistischen Splitterparteien in den europäischen Ländern unter «dem Banner des Friedens» vereinigen wolle. So sollen Linkspartei und AfD in Deutschland eine «Anti-Kriegs-Koalition» aufbauen. Ziel sei es, eine Mehrheit bei den Wahlen auf allen Ebenen zu erzielen.