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Im Kreis Ravensburg sind Reichsbürger aktiv. Wie gewaltbereit sind sie? Einige streben die Reaktivierung des Deutschen Reichs an, andere fordern eine neue Verfassung.
Ein selbsternannter „Reichspräsident“ plant eine Versammlung im Wurzacher Kurhaus, ein Waldorflehrer bringt in Ravensburg Fantasie-Dokumente als seinen Pass und Führerschein des „Deutschen Reichs“ mit in den Unterricht, ein behördlich bekannter Reichsbürger greift in Bodnegg eine Gerichtsvollzieherin an.
Nur drei Beispiele aus den Aktivitäten der Reichsbürger im vergangenen Jahr in Oberschwaben und dem Allgäu. Hat der Landkreis Ravensburg also ein Reichsbürger-Problem? Eine aktive und gewachsene Szene gibt es jedenfalls.
Verfassungsschutz beobachtet die Szene
Der Verfassungsschutz hat die Reichsbürger in der Region im Blick. Das geht aus einer Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“ an das Landesinnenministerium hervor. Zwar unterscheiden sich die „Reichsbürger und Selbstverwalter“ in ihren Ansichten und Gruppen stark voneinander, laut Innenministerium seien aber vor allem die selbsternannten „Bismarcks Erben“, ein „Königreich Deutschland“ und der „Vaterländische Hilfsdienst“ im Kreis aktiv. Letzterer hatte vor zwei Jahren in Bad Waldsee durch eine Flugblattaktion die Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes auf sich gezogen.
Während manche Strömungen sich auf die Reaktivierung des historischen Deutschen Reichs konzentrieren, streben andere eine gänzlich neue Verfassung an, um die vermeintliche Ungültigkeit des Grundgesetzes pseudojuristisch zu „korrigieren“, heißt es aus dem Innenministerium.
Gruppen beanspruchen Grundstücke „als Staatsgebiet“
Ein Ministeriumssprecher teilt darüber hinaus mit: „In Ravensburg selbst ist eine Untergruppierung der sogenannten ‚Verfassunggebenden Versammlung‘ aktiv. Dort sollen einzelne ‚Gemeinden‘ gegründet worden sein.“ Die Gruppierung, die sich auch den Namen „wenea“ gibt, versucht, vermeintliche Gebietsansprüche zu markieren und ihre spirituell ausgerichtete Ideologie zu verbreiten. Nach Recherchen der „Schwäbischen Zeitung“ gibt es diese „wenea“-Gemeinden etwa in Bergatreute oder dem Isnyer Ortsteil Neutrauchburg.
Zehn Prozent sind gewaltbereit
Wie groß die Szene in der Region ist, lässt sich kaum feststellen. Auf Kreisebene gibt es keine Zahlen. Im Regierungsbezirk Tübingen sind es laut Innenministerium 730 bis 780 Personen, die eindeutig als Reichsbürger bekannt sind.
Die Gefahr, die von „Reichsbürgern und Selbstverwaltern“ ausgeht, schätzt der Verfassungsschutz bereits seit Beginn der Beobachtung im Jahr 2016 als hoch ein. Das liege an der ausgeprägten Waffenaffinität innerhalb der Szene. Etwa zehn Prozent der bekannten Reichsbürger befürworten demnach den Einsatz von Gewalt.
Neun Reichsbürgern den Waffenschein entzogen
Im Landkreis Ravensburg sind dem Verfassungsschutz aktuell keine Reichsbürger oder Selbstverwalter bekannt, die legal im Besitz von Waffen sind. Das liegt auch daran, dass ihnen entweder gar keine waffenrechtliche Erlaubnis gegeben – oder diese nachträglich wieder entzogen wurde. Bei neun Anhängern der Szene im Kreis war das seit 2016 der Fall.
„Reichspräsident“ will Versammlung in Bad Wurzach halten
Wie sind die Reichsbürger im Kreis in den vergangenen Jahren aufgefallen? Ein Beispiel: Im Januar 2022 sollte ein größeres Treffen in Bad Wurzach stattfinden. Der Hauptredner, der dort auftreten wollte, ist in der Szene ein Star. Er behauptet von sich „Reichspräsident“ der „Nationalversammlung Deutsches Reich heute“ zu sein. Kurz vor dem Treffen hat die Polizei interveniert. Da es keinerlei Corona–Schutzkonzept gab, musste die Versammlung abgesagt werden.
Doch wie lassen sich die Reichsbürger im Kreis abgesehen von solchen exemplarischen Vorfällen beschreiben? Polizeipräsident Uwe Stürmer, Sebastian Lipp, Betreiber des Internetportals „allgäu rechtsaußen“, Benjamin Strasser, FDP–Bundestagsabgeordneter aus Berg und parlamentarischer Staatssekretär im Bundesjustizministerium, und der Leiter der Staatsanwaltschaft Ravensburg, Alexander Boger, haben im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“ die Aktivitäten der Reichsbürger im Landkreis skizziert:
„Das sind keine harmlosen Spinner“, sagt Uwe Stürmer, Polizeipräsident in Ravensburg
Die Anzahl der Reichsbürger ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen und unsere Region ist überproportional betroffen. Durch die Corona–Proteste vor der Oberschwabenhalle haben wohl manche in der Szene gemerkt, dass es hier einen Resonanzboden für krude Thesen gibt. Seit die Corona–Maßnahmen gefallen sind, ist der Szene das Thema verloren gegangen, mit dem sie eine breite Maße emotionalisieren kann. Der harte Kern ist aber vehement: Als Polizei stoßen wir bei diesen Leuten auf Ablehnung, auf Aggression oder auf regelrechten Hass. Oft ist das nur verbal, ein Teil sieht sich aber berechtigt, sich gegen den Staat zu wehren. Vor einigen Jahren habe ich noch gedacht, dass Reichsbürger irgendwelche Dickköpfe mit eigenwilligen Ansichten sind.
Ich bin mir inzwischen aber sicher: Es wäre fahrlässig, sie als harmlose Spinner abzutun. Innerhalb der Szene sind manche — das hat man Ende März beim Schuss auf einen Polizisten in Reutlingen gesehen — zu gravierenden Straftaten bereit. Und bei einem Teil gibt es eine Affinität zu Waffen. Dass jemand aus dieser Szene irgendwo im Kreis Ravensburg ein Arsenal von Waffen im Keller hat, kann ich nicht ausschließen. Wir sind für Hinweise dankbar, wenn man bei Menschen eine Radikalisierung bemerkt. Etwa, wenn jemand Drohungen ausspricht, nach dem Motto: ,Die sollen nur kommen.’ So etwas nehmen wir ernst.
Sebastian Lipp, Aktivist und Journalist: „Die Szene ist gewachsen“
Mit der Pandemie hatten die Reichsbürger eine prima Möglichkeit, ihre Geschichte zu erzählen und sind auf eine Menge Leute getroffen, die offen für Verschwörungstheorien waren. So konnten sie ihre Ideologie verbreiten und die Szene ist gewachsen. Inzwischen tauschen sich viel mehr Menschen in deren Foren aus. Die Reichsbürger können also gesellschaftliche Kreise gewissermaßen mit ihrer Ideologie infizieren. Die Szene in der Region hat aber einen Zenit erreicht. Der Zulauf nimmt ab. Das neue Thema der Szene, der Krieg gegen die Ukraine, zieht nicht so sehr. Trotzdem: Im Kreis Ravensburg zeigen sich die Reichsbürger stärker als andernorts. Sie fühlen sich hier auch wohler als anderswo. Es gibt hier Höfe, die als „die kleinen Keimzellen des Deutschen Reichs“ herhalten sollen. Solche Hofprojekte versucht auch die rechts–esoterische Anastasia–Bewegung zu etablieren. Die hatten vor anderthalb Jahren vor, im Raum Ravensburg ein Ökodorf aufzubauen. Die entsprechenden Landbesitzer sind aber noch rechtzeitig abgesprungen.
Das Gefährliche an Reichsbürgern ist die rigorose Ablehnung der bestehenden Verhältnisse. Außerdem sehen wir einen krassen Antisemitismus und Rassismus. Ein Teil der Szene ist außerdem bereit, ihre Ideologie mit Waffengewalt durchzusetzen: Man kann in deren Foren mitlesen, dass sie sich darüber austauschen, wie man sich bewaffnet.
„Es gibt die konkrete Gefahr“, warnt Benjamin Strasser (FDP), Staatssekretär im Bundesjustizministerium
Vor dem Wohnhaus der Heilpraktikerin in der Eifel, die den sogenannten Sturm auf den Reichstag 2020 angeführt hat, wurden wohl bemerkenswert viele Autos mit Ravensburger Kennzeichen festgestellt. Die lokale Szene ist also deutschlandweit vernetzt. Mir schildern auch Bürgermeister der Region, dass in den Rathäusern Leute auftauchen, die die Existenz der Bundesrepublik infrage stellen. Manche von denen kommen aus der rechtsextremen Szene, andere bereiten sich auf einen Tag X vor, an dem das System gestürzt werden soll. Wieder andere haben Steuerprobleme und wollen sich dadurch entziehen, dass sie die Steuerbehörde nicht anerkennen. Fast immer sind Verschwörungstheorien dabei. Für die Verwaltungen ist das eine Zumutung. Ich empfehle, dass man ein scharfes Auge darauf hat.
Selbst noch so absurde Vorstellungen können dazu führen, dass Menschen töten. Wir haben das 2016 in Bayern gesehen, als ein Reichsbürger bei einer Durchsuchung einen Polizisten erschossen hat. Das ist eine konkrete Gefahr, die von der Szene ausgeht. Sie besteht überall in Deutschland, auch in unserem Landkreis.