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Adelzhausener zieht vors Bundesverfassungsgericht
Aichach - Es ist das einzige Urteil, das Richter Axel Hellriegel in anonymisierter Form digital vorliegt. Regelmäßig verschickt er es an Pressevertreter aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, wie er sagt. Fast ein Jahr ist es her, dass er einen 60-jährigen Künstler aus Adelzhausen der Volksverhetzung für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe verurteilt hat. Der Angeklagte, der namenlos bleiben möchte, hatte im sozialen Netzwerk Facebook eine Karikatur gepostet, die zwei schwarz gekleidete Gestalten zeigt, die überlebensgroße Spritzen in den Händen halten und ein Tor flankieren. Auf dessen Bogen steht in schwarzen Lettern "Impfen macht frei" geschrieben, wohl in Anlehnung an die Inschrift "Arbeit macht frei" auf den Toren der Konzentrationslager in Dachau und Auschwitz. Der Vorwurf damals: Der Angeklagte verharmlose den Holocaust. Jetzt zieht er bis nach Karlsruhe. Am Montag hat sein Verteidiger Clemens Sandmeier Einspruch beim Bundesverfassungsgericht eingelegt.
Das Bild, um das es geht, ist in diversen Foren schon zahlreiche Male geteilt worden und stammt eigentlich von Götz Wiedenroth, einem freiberuflichen Karikaturisten aus Flensburg. Seine häufig stark polarisierenden und populistischen, manchmal als grotesk beschimpften Zeichnungen wurden jahrelang in der Schleswig-Holsteiner-Zeitung (SHZ) veröffentlicht. Weil das so ist, habe er gar nicht daran gedacht, mit einem Post eine Straftat begehen zu können, bekundet der Angeklagte auf Nachfrage. Zudem bezog er sich in der ersten Verhandlung im Juli 2021 auf wiederholte Aussagen des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. "Impfen schafft Freiheit", schrieb der Landesvater etwa am 1. Dezember 2021 auf Twitter. In Hellriegels Augen steht Söders Spruch aber in keinem Zusammenhang mit dem Holocaust, er sei vielmehr eine "wertende Aussage zu politischen Themen oder Absichten", anders als die Karikatur. Der Angeklagte sieht das weiterhin nicht wie der Richter. Der Künstler hatte im Übrigen noch ein Bild von einem Davidstern mit der Aufschrift "unvaccinated", also "ungeimpft", geteilt. Damit wollte er "auf die sukzessive Stigmatisierung und Ausgrenzung Andersdenkender" hinweisen, sagte er kurz vor seiner Klage in Karlsruhe am Telefon. Den Holocaust zu verharmlosen, sei nicht sein Ziel gewesen. "Mir ist völlig klar, dass Ungeimpfte nicht in Lager gebracht werden, Gott sei Dank, aber wer weiß, vielleicht ja bloß noch nicht ...", sagte er weiter. In den Augen des Adelzhauseners waren beide Posts demnach ein Beitrag zum öffentlichen Diskurs und somit durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Für den Richter am Aichacher Amtsgericht aber war unstrittig: "Das ist Volksverhetzung." Das auf der Karikatur gezeigte Bild weise eindeutig auf den Eingang zum Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau hin. Eine "andere Assoziation" gebe es nicht. Derartige Anspielungen und Aussagen seien "einfach zu unterbinden".
Hellriegels Urteil haben sich inzwischen das Landgericht in Augsburg und vor einigen Wochen nun auch das Oberste Landesgericht in München angeschlossen. Dass seine Entscheidung derart hohe Wellen schlägt, hat ihn überrascht.
Das Urteil, das Hellriegel in Aichach verkündet hat, hat nun die Chance, eine jahrzehntealte Grundsatzdebatte weiterzuspinnen. Darüber nämlich, wo Meinungsfreiheit endet und Volksverhetzung beginnt - und vor allem darüber, wann und wodurch der Holocaust als verharmlost gilt. "Ich bin sehr gespannt, was rauskommt", meint der Richter.
"Im schlimmsten Fall werden wir bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen", sagt Clemens Sandmeier. Am Montag hat er die Klage in Karlsruhe eingereicht. Der Aichacher Anwalt ist optimistisch, eine Bestrafung seines Mandanten abzuwenden.
Von Bastian Brummer