Aber das steht auf einem Blatt. Auf dem anderen steht, welche Signale man sendet, wenn man einerseits so viel zeit ungenutzt verstreichen lässt und den Eindruck vermittelt, kein oder kaum Interesse an der Strafverfolgung zu haben, um dann viele Jahrzehnte später die juristische Keule zu scwingen, und so zu tun als sei einem das alles jetzt ganz wichtig.
Auch wenn das, worauf ich antworte, in der schnelllebigen Zeit der Sofortnachrichten, der immer und überall verfügbaren Information und Desinformation, schon steinalt zu sein scheint:
Das Zeitalter der Aufklärung wird in Europa wohl zwar auf etwa 1700 bis 1800 geschätzt, aber ganz ehrlich, wir sind noch mitten drin. Gerade wegen der immer verfügbaren Informationen sind wir heute mehr als alle Generationen vor uns in der Lage, die verstreuten, kleinen Teile zu einem Mosaik des Grauens zusammenzusetzen. Auch wenn es schon so lange her ist; lange? 1933 war um die 40 Jahre vor meiner Geburt. Wäre ich heute doppelt so alt, ich hätte den Krieg erlebt.
Auch wenn es einerseits vielleicht aussieht wie ein Versagen des Rechtsstaats, weil er so lange braucht, so ist es andererseits eben doch auch ein starkes Signal, daß bestimmte Taten eben nicht verjähren, daß man sich nicht zurücklehnen und entspannt auf den Tod warten kann. Jeder Einzelne, der Schuld trägt, soll sich schuldig fühlen. Er soll Angst haben, doch noch enttarnt zu werden, doch noch einmal am Ende seines Lebens damit konfrontiert zu werden. Die Todesangst der Menschen im KZ war ihnen egal; warum sollte ich mir jetzt darüber Gedanken machen, ob die Mörder und ihre Helfer von damals ruhig schlafen können?
In einigen Jahren wird es sie nicht mehr geben, die Verwalter des Wahnsinns, die Mörder, die Helfer und Mitläufer; aber es wird auch die Opfer nicht mehr geben, die Zeitzeugen des Terrors der Nationalsozialisten, die ihn am eigenen Leibe oder in der Familie, im Freundeskreis erfahren haben. Die Stimmen der Opfer werden irgendwann für immer verstummen. Es ist insofern ein Erbe, das wir an unsere Nachkommen weitergeben können, das wir weitergeben müssen. Wir haben, wenn auch viel zu spät, zumindest noch versucht, den Opfern aus diesen finstersten Tagen unserer Geschichte zuzuhören und ihnen eine Stimme zu geben. Wir haben, wenn auch zu spät, die rechtsstaatlichen Mittel ausgeschöpft, um zumindest den Versuch einer Aufarbeitung zu wagen. Wir haben versucht, die Stimmen der unschuldigen Opfer des NS-Regimes zu hören, zu bewahren und sie als Mahnung an die Nachwelt niemals zu vergessen.