Dem mag die Annahme zugrunde liegen, dass der Chef einer rechtradikalen Partei eher dazu neigen könnte, die Realität zurechtzubiegen als der sozialdemokratische Bundeskanzler. Sicher sagen ließe sich das nach journalistischen Maßstäben allerdings erst, wenn und nachdem man beide Sendungen faktengecheckt hätte. Insgesamt veröffentlichen ARD und ZDF jedenfalls deutlich häufiger nachträgliche Einordnungen, wenn sie mit AfD-Politiker*innen sprechen.
„Nicht in jedem Interview ist ein Faktencheck notwendig“, teilt ein ARD-Sprecher dazu auf eine Anfrage von Übermedien mit. Jede Redaktion entscheide nach eigenen Kriterien, wann und wie sie den Aussagen ihrer Gesprächspartner nachrecherchiert. Entsprechend groß ist der Wildwuchs: Während „Hart aber fair“ seinen Faktencheck bereits seit 2006 nach jeder Ausgabe als festes Instrument etabliert hat, gebe es bei anderen Sendungen keine „allgemeingültige Regelung“. Die Redaktion von „Caren Miosga“ beispielsweise präsentierte auch schon nachträgliche Einordnungen – so ebenfalls nach einem Auftritt Chrupallas in der Talkshow –, meistens aber lässt sie es sein.
Kaum jemand liest die Richtigstellung
Die zweite Frage: Was bringt ein Faktencheck wie der bei Chrupalla? 200.000-mal riefen Nutzer*innen binnen eines Tages jene tagesschau.de-Seite auf, die eine Sendung ins rechte Licht rücken soll, die live bereits 1,47 Millionen Menschen gesehen und bis zuletzt nach ARD-Angaben mehr als 40.000 aus der Mediathek abgerufen haben. Die Unwahrheit fand also ein größeres Publikum als die spätere Richtigstellung – und die Zuschauer*innen des Sommerinterviews wurden auch nicht explizit darauf aufmerksam gemacht, dass darin einiges schief war.
Wer sich in der ARD-Mediathek bis ans Ende der Interview-Shownotes liest, findet zwar den Hinweis: „Die Aussagen im Faktencheck:
https://1.ard.de/Faktencheck-Sommerinterview2024“. Klickbar ist diese URL jedoch nicht, man muss sie kopieren oder abtippen und neu in einen Browser eingeben.
Das ist einerseits denkbar umständlich – andererseits aber noch besser als beim ZDF.
Die Mainzer Anstalt hat nämlich dasselbe Problem. Ihr Format „Berlin direkt“ sendete ebenfalls am vergangenen Sonntag ein kurz zuvor aufgezeichnetes Sommerinterview mit Chrupallas Co-Vorsitzender Alice Weidel, strickte dazu auf einer Internetseite sogar noch einen Artikel, der die Aussagen der Interviewpartnerin gänzlich ungefiltert zusammenfasst. Nur, um einen Tag später beim Faktencheck selbst festzustellen: Weidel habe „Unsinn“ geredet. Ihre Aussage „Menschen werden täglich auf den Straßen umgebracht“ etwa sei eine „deutliche Übertreibung“ und von den Fakten nicht gedeckt.
Das Problem auch hier: Die meisten Zuschauer*innen erfahren davon nichts. Zwar antwortet das ZDF ohne weitere Begründung nicht auf eine Übermedien-Anfrage nach den Abrufzahlen, doch weder auf der redaktionellen Internetseite noch beim Video in der Mediathek findet sich ein direkter Hinweis auf den Faktencheck.
Die „Berlin direkt“-Redaktion macht sogar alles noch viel schlimmer: Sie verbreitet einen eigenen, bestens Social-Media-tauglichen 15-Sekunden-Schnipsel aus dem Interview, ausgerechnet mit Weidels Aussage über die täglichen Morde – und zwar ohne jeglichen Hinweis, ohne jede Einordnung, dass dies schlichtweg nicht stimmt. Ein toller Service für AfD-Fans, die sich nicht einmal mehr die Mühe machen müssen, selbst kernige Kurz-Zitate für X und Co. aus der Sendung zu schneiden. Den eigenen Faktencheck aber führt das ZDF damit ad absurdum.
Falschaussagen unverändert in der Mediathek
Was direkt zur dritten Frage führt: Warum sind Sendungen überhaupt unverändert abrufbar, wenn sie doch unsinnig, irreführend und falsch sind? Man kann sich trefflich darüber streiten, wie viel bereits zur Erstausstrahlung vermeidbar war. Spätestens mit Veröffentlichung der Faktenchecks gilt: ARD und ZDF haben selbst herausgefunden, dass ihre Sommerinterviews Desinformationen enthalten – und verbreiten diese in der Mediathek, bei YouTube und auf ihrer Internetseite dennoch munter weiter.
„Im TV gilt das gesprochene Wort, auch wenn es falsche Tatsachenbehauptungen enthält“, teilt ein ZDF-Sprecher mit: „Der journalistische Faktencheck ist eine Möglichkeit, solche Behauptungen zu entlarven, ohne das Interview zu verfälschen.“ Ob eine Redaktion diese Option „für inhaltlich geboten hält“, entscheide sie wie bei den ARD-Anstalten im Nachgang zu einem Interview eigenständig.
Dabei überlegen Verantwortliche durchaus, ob es nicht besser ginge. Das zeigt eine Rückmeldung der „Hart aber fair“-Redaktion, die der ARD-Sprecher übermittelt: „Wir machen uns immer wieder Gedanken über einen ‚Live-Faktencheck‘, aber damit kommt man in der Regel über eine reine Korrektur von eindeutigen Zahlen nicht hinaus. In den meisten Fällen benötigt man bei Behauptungen oder auch unterschiedlichen Interpretationen von Fakten einer Gesprächsrunde Zeit und Recherchetiefe. Aus diesem Grund halten wir einen Faktencheck am folgenden Tag für das geeignete Instrument.“
Keine Lösung haben die Sender bislang für das Problem, dass die Interviews ohne Einordnung nun einmal ausgestrahlt sind und weiterhin in den Mediatheken abrufbar bleiben. Ein rechtliches Problem – Stichwort journalistische Sorgfaltspflicht – scheint dies im Normalfall nicht zu sein.
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Keine Pflicht zur Richtigstellung
„Nachrichten sind vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Wahrheit und Herkunft zu prüfen“, heißt es im Medienstaatsvertrag. Auf den ersten Blick ist das Prinzip simpel: Medien dürfen nicht wissentlich die Unwahrheit verbreiten – das gelte grundsätzlich auch für fremde Aussagen, etwa von Interviewpartner*innen, betont Tobias Gostomzyk, Professor für Medienrecht am Institut für Journalistik der TU Dortmund.
Auf den zweiten Blick ist alles nicht mehr so einfach. Denn die „Wahrheitspflicht“ dürfe „auch nicht so überspannt werden, dass dies den Kommunikationsprozess einschnüren“ würde, so Gostomzyk. Bei einem Live-Interview ist ein Faktencheck vor der Ausstrahlung natürlich unmöglich, und auch bei den am Tag der Ausstrahlung voraufgezeichneten Formaten – wie den Sommerinterviews – stieße eine solche Forderung je nach Zeit zwischen Aufnahme und Sendung an ihre Grenzen. Zudem könnte gerade die unwahre Behauptung eines Politikers oder einer Politikerin sendenswert sein – zur Dokumentation ihrer Lügen nämlich. Was aber wiederum voraussetzen würde, dass auch das Publikum sie als solche erkennen kann.
2009 – vorangegangen war ein Rechtsstreit zwischen dem damaligen Focus-Chefredakteur Helmut Markwort und dem 2016 verstorbenen Publizisten Roger Willemsen – stellte der Bundesgerichtshof in einem Urteil klar, dass eine Redaktion nicht jedes Zitat ihrer Interviewpartner*innen peinlich genau nachrecherchieren muss. Mit seiner Rechtsprechung schränkte der BGH die „Verbreiterhaftung“ von Medien – also ihre Haftung für die Aussagen Dritter – deutlich ein. Das gilt wohl auch in Fällen wie den Sommerinterviews, in denen die Redaktionen von ARD und ZDF ja schon recherchiert haben, dass Inhalte nicht der Wahrheit entsprechen. Doch die Sorgfaltspflichten griffen grundsätzlich zum Zeitpunkt der (Erst-)Verbreitung, erklärt der Medienrechtler Gostomzyk, also nicht nachträglich. „Insgesamt ist deshalb wohl davon auszugehen, dass es keine absolute Pflicht zur Verknüpfung von (legitimen) Interviews mit Faktenchecks aus Gründen der Sorgfaltspflicht gibt, selbst wenn sie wünschenswert wäre.“
Zusätzlich Infofenster in der Sendung
Jenseits der rechtlichen Seite gibt es freilich auch eine journalistische – und auf dieser Seite erscheint es einigermaßen grotesk, eine bereits erkannte Unwahrheit einfach weiter unter die Menschen zu bringen. Eine Sendung aus der Mediathek zu löschen, sei nur unter strengen Auflagen möglich, betont der ARD-Sprecher.
Doch es gäbe ja niedrigschwelligere Ideen. Eine Anregung könnte das „ZDF kultur“-Format „13 Fragen“ liefern. Die Debattensendung arbeitet – ähnlich wie viele YouTuber*innen – mit Einblendungen. In aufpoppenden „Info“-Flächen erscheinen dann bei laufender Debatte ergänzende Informationen oder präzisierende Angaben zu dem, was gerade gesagt wurde. Es ist also kein direkter Faktencheck der Redebeiträge, das Stilmittel ließe sich aber dahingehend ausbauen.
Natürlich hat die „13 Fragen“-Redaktion den Vorteil, dass sie nach der Aufzeichnung reichlich Zeit für diese Nachbearbeitung hat. Ihr Produkt steht nicht unter dem Aktualitätsdruck wie Interviews mit Politiker*innen. Selbst wenn diese aufgezeichnet sind, sollen sie schnell auf Sendung gehen – die Lage, auf die sie sich beziehen, könnte sonst bereits eine andere sein.
KI könnte helfen
Doch auch dafür gibt es Ansätze. Der IT-Berater und Journalist Rafael Bujotzek experimentiert mit KI-basierten Modellen, um mit dem Check möglichst schnell zu sein. Der frühere „heute journal“-Redakteur hat auch einen Lehrauftrag beim Studiengang Onlinekommunikation der Hochschule Darmstadt. Auf Anregung eines Studenten entwickelte er gemeinsam mit einem Programmierer einen Chatbot-Prototypen, der in Echtzeit Interviewaussagen auf Widersprüche und Falschinformationen abklopft: „Das ist kein fertiges Tool, sondern die Arbeit weniger Tage, einfach um zu beweisen, dass es ginge“, stellt Bujotzek klar.
Offenbar geht es schon relativ gut. Für einen Test für Übermedien ließ Bujotzek die Sommerinterviews mit Weidel und Chrupalla durch die KI laufen. Ob sie dieselben Aussagen als falsch einstufte wie die Redaktionen von ARD und ZDF, lässt sich nicht mehr beantworten, weil der Bot bei seiner Prüfung auf die redaktionellen Faktenchecks stieß und diese miteinbezog. Er fand jedoch weitere, von den menschlichen Faktenchecker*innen nicht berücksichtigte Aussagen, die er anhand ausgewiesener Quellen als manipulativ einordnete – und das durchaus mit nachvollziehbaren Gründen. Notwendigerweise würde das Ergebnis noch einmal redaktionell geprüft, denn jede KI neigt zu Halluzinationen, sie denkt sich also durchaus auch einmal eigene Fakten oder Quellen aus, die so gar nicht existieren.. „Ich warne davor, etwas ungeprüft auf das Publikum loszulassen“, sagt Bujotzek. Doch er ist überzeugt, dass KI-Systeme ein Hilfsmittel sein könnten, um Unwahrheiten schnell zu identifizieren.
Trägt in einer Talkshow dann ein Redaktionsmitglied im Stile der früheren „Zuschaueranwältin“ von „Hart aber fair“ im Viertelstundenrhythmus die Ergebnisse der Live-Faktenprüfung vor? Würden die Aussagen aufgezeichneter Sommerinterviews bereits bei Erstausstrahlung in Unterbrechungen geradegerückt?
Für die nahe Zukunft ist das wohl nicht zu erwarten. Schon heute gäbe es für die Sender aber bedeutend einfacher umzusetzende Möglichkeiten. Sie könnten Faktenchecks und Interviews durch offensive Hinweise und klickbare Links besser miteinander verknüpfen. Sie sollten keine redaktionellen Artikel über die eigenen Interviews mehr publizieren, in denen die längst vorliegende Einordnung ihrer Faktenprüfer*innen unerwähnt bleibt. Und in den Videos der Mediathek könnten sie zumindest klare Falschaussagen mit Einblendungen richtigstellen. Es gäbe viele Optionen, die besser sind als der Status quo.