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Ein Treffen in Berlin. Janne Kern arbeitet hier als Professorin. Für welches Fach und an welcher Universität, möchte sie nicht öffentlich machen. Auch ihr Name ist eigentlich ein anderer. Während des Gesprächs wird sie mehrmals sagen: „Das dürfen Sie nicht schreiben, da würde mein Mann sofort wissen, dass es um ihn geht.“ Um im nächsten Satz dann hinzuzufügen: „Wobei, eigentlich ist es egal.“ Ihr Mann würde diese Zeitung, die „Systempresse“, wie er sie nennt, sowieso nicht lesen.
Kern findet, dass viel zu wenig darüber gesprochen wird, wie schmerzhaft es ist, wenn ein Familienmitglied an Verschwörungen glaubt. Während der Corona-Pandemie, als Ehen, Familien und Freundschaften wegen Werteunterschieden auseinanderbrachen, wurde dieser Schmerz in Talkshows und in Wohnzimmern verhandelt. Heute ist das Thema aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Nicht aber aus den Familien.
Auf einer schattigen Bank im Osten Berlins erzählt Janne Kern, eine kleine, zierliche Frau, rosa Stoffhose, pastellfarbene Bluse, deshalb ihre Geschichte. Sie redet laut, ab und zu wird sich jemand von den Nachbarbänken zu ihr umdrehen. Sie scheint das nicht zu stören. „Anfänge bemerkt man ja selten“, sagt Kern. „Aber im Nachhinein würde ich sagen, dass es bei meinem Mann 2015 begonnen hat.“ Damals, als Hunderttausende in Deutschland Asyl suchten, sprach Kerns Mann zum ersten Mal von der „Islamisierung des Abendlandes“. Seitdem hat sich alles verändert. Es sei wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde, sagt Janne Kern. „Mein Mann hat jetzt zwei Gesichter.“
Kerns Mann glaubt an den großen Bevölkerungsaustausch. Er hasst die EU. Er liebt Donald Trump. Er leugnet den Klimawandel. Er sagt „die da oben“. Er glaubt, dass die Mauer an der US-Grenze die Mexikaner schützen wird. Er denkt, dass Corona im Labor entstanden ist. Dass irgendetwas mit unserem Grundwasser nicht stimmt. Dass die Menschen in der Ukraine alle Nazis sind.
Wenn Menschen immer die gleichen Informationen aufnehmen, egal ob sie falsch oder richtig sind, dann fangen sie irgendwann an, diese zu glauben
„Mein Mann ist eigentlich ein Linker“, sagt Kern fast entschuldigend. Auch noch nach 2015 und dem Erstarken der AfD haben sie gemeinsam Arte-Dokus über Faschismus angeschaut. Woher das Gerede von Messermännern und Burkafrauen kommt, versteht sie nur in Teilen. „Seitdem er diese Blubber-Medien konsumiert, wird es immer schlimmer“, sagt sie. Mit den Blubber-Medien meint Janne Kern rechte, zum Teil populistische Online-Magazine wie Apollo-News, Nius und Tichys Einblick. Fast täglich wird dort gegen Migranten gehetzt, gegen das Gendern, gegen die links-grüne Wokeness und gegen die EU. Auf Telegram-Kanälen werden diese Nachrichten immer wieder geteilt. So entstehen Echokammern. Wenn Menschen immer die gleichen Informationen aufnehmen, egal ob sie falsch oder richtig sind, dann fangen sie irgendwann an, diese zu glauben. In der Sozialwissenschaft nennt sich das Illusory Truth Effect.
Janne Kerns Mann liest seit Jahren nur die Nachrichten, die seinem Weltbild entsprechen. „Jeden Abend schließt er sich in seiner Kammer ein und saugt alles auf, was die Portale ihm bieten“, sagt Kern. Danach gehen sie und ihr Mann gemeinsam ins Bett.
Kennengelernt haben sich Janne Kern und ihr Mann vor mehr als zehn Jahren. Ihre ältesten Kinder besuchten den gleichen Kindergarten. Kern war damals in einer unglücklichen Beziehung. Ihr jetziger Mann hat sie aufgefangen. Hat ihr das schöne Leben gezeigt, wie sie sagt. Es ist für beide der zweite große Versuch in der Liebe. Beide haben zwei Kinder mit in die Beziehung gebracht. Vor drei Jahren kam dann noch ihre gemeinsame Tochter zur Welt. Weil Janne Kern sehr viel und Janne Kerns Mann sehr wenig arbeitet, kümmert er sich um den Haushalt. Er schmiert Brote für die Kinder, macht mit anderen Müttern Playdates aus, bastelt mit der Tochter Tiere aus Knete. Während Kern das erzählt, wird ihre Stimme leiser. „Mein Mann ist so ein toller Papa“, sagt sie. „So ein intelligenter und warmherziger Mann.“ Das würde jetzt widersprüchlich klingen, aber das sei das eigentliche Bild, was sie von ihm habe. Wären da nicht die „Blubber-Medien“. Und seine Vergangenheit, die ihn einholt.
Janne Kern spricht jetzt über den Osten. Über ihre eigenen Eltern, die viel gearbeitet und wenig gefühlt haben. Über die Neuorientierung nach der Wiedervereinigung. Darüber, dass es einige geschafft haben und andere eben nicht. Dass die Menschen im Osten strukturell immer noch benachteiligt sind. Und dass man sich nicht wundern muss, dass die AfD in einigen Landkreisen in Sachsen bei der Bundestagswahl fast jede zweite Stimme bekommen hat.
Dass Kerns Mann nicht mehr an den Staat glaubt, das liege mitunter an seiner Biografie. „Mein Mann ist ein Wende-Verlierer“, sagt Kern. Seine Eltern hätten in der BRD nie richtig Fuß fassen können. Als Kind wurde er geschlagen, einmal von seinem eigenen Vater aus dem Kindergarten entführt. Er hat keine Ausbildung abgeschlossen und seinen Platz in der Arbeitswelt nie gefunden. Seit Jahrzehnten arbeitet er mal hier und mal dort. Derzeit macht er Telefonbefragungen, wenige Stunden pro Woche. Am Nachmittag kümmert er sich um die Kinder.
Der Glaube an Verschwörungserzählungen hängt oft eng mit biografischen Episoden des Scheiterns zusammen
Wie hält man diese Widersprüchlichkeiten aus? Janne Kern zuckt mit den Schultern. Lacht. „Wegdrücken“, sagt sie. Und dann: „Nein, nein, das klingt viel zu negativ.“ Gedanklich in eine Schublade legen. Darin sei sie schon immer gut gewesen. Aber langsam wisse sie auch nicht mehr weiter. Sie seufzt. „Wissen Sie, ich liebe meinen Mann“, sagt sie. Nur deshalb lasse sie sich immer wieder auf all das ein: diskutieren, zustimmen, ignorieren, mit dem Ende der Beziehung drohen. Das mit dem Drohen klappe manchmal. Für ein paar Tage habe sie dann Ruhe. Bis die Tochter eben zum Campen nach Polen will. „Ich habe das Gefühl, es geht ihm gar nicht so sehr ums Inhaltliche, ich glaube, er will mir zeigen, dass er auch etwas weiß“, sagt Kern.
Die Forschung bestätigt, was Kern vermutet. „Wenn Menschen an Verschwörungserzählungen glauben, dann haben sie ganz automatisch das Gefühl, über eine Art Geheimwissen zu verfügen“, sagt Roland Imhoff, Professor für Sozial- und Rechtspsychologie an der Gutenberg-Universität in Mainz, am Telefon. „Sie fühlen sich erleuchtet und heben sich von den sogenannten Schlafschafen ab.“ Ein Ausdruck, der im verschwörungsideologischen Milieu für Menschen benutzt wird, die Politik und Medien vertrauen. Oft, so Imhoff, hänge der Glaube an Verschwörungserzählungen eng mit biografischen Episoden des Scheiterns zusammen. Mit dem Tod eines geliebten Menschen, mit dem Jobverlust, mit einer Scheidung. „Diese Situationen verlangen nach Erklärungen“, sagt Imhoff. Und diese Erklärungen sind meistens multidimensional, komplex und überfordernd. Das genaue Gegenteil also von Verschwörungserzählungen.
„Ich denke schon manchmal darüber nach, dass ich mich trennen sollte“, sagt Janne Kern. „Aber ich bin mir sicher, dass er das alles nicht wirklich so meint. Das ist nicht sein Herz, das ist ein Virus.“ Sie schüttelt den Kopf. Als könne sie selbst nicht so richtig fassen, was sie erzählt. „Ich glaube, mein Mann ist von mir enttäuscht“, sagt sie nach ein paar Minuten Stille. „Er wünscht sich mehr gemeinsame Zeit. Ich bin so viel in der Uni, habe noch ein paar andere Projekte nebenbei. Und dann auch noch die Kinder.“ Dabei versuche sie doch schon, immer um 17 Uhr Feierabend zu machen. Bald fährt die Familie drei Wochen in die Berge. Am Wochenende zelten sie gerne in der näheren Umgebung. Wenn die Kinder im Bett sind, spielen Kern und ihr Mann Brettspiele. Sie schlafen miteinander. Verbringen ihre Sommerabende bei Freunden auf der Terrasse.
„Eigentlich haben wir eine sehr schöne Beziehung“, sagt Janne Kern. Nur reden können sie nicht mehr miteinander. Manchmal überlege sich Kern schon mittags, was im Familienalltag noch organisiert werden muss, damit ihr Mann und sie beim Abendessen ein Gesprächsthema haben.
„Natürlich kann man sich einigen, über die aufgeheizten Themen nicht zu sprechen. Aber ich bezweifle, dass das lange gutgeht“, sagt Roland Imhoff. Oft sei der missionarische Eifer des Verschwörungsanhängers stark, die Kluft der Werte irgendwann unüberwindbar. Aber was tun, wenn man sich nicht trennen will? „Vielleicht versucht man es mal unkonventionell, mit dem sokratischen Dialog.“ Also: neugierig nachfragen, Widersprüche aufdecken und dabei kritisch, aber respektvoll bleiben. Irgendwann komme dann jeder Verschwörungsideologe an seine Grenzen. Im Idealfall fange dann die kritische Selbstreflexion an.
Auf diese Selbstreflexion wartet Janne Kern seit Jahren. Sie sagt dazu „Ewigkeit“. Vor Kurzem hat sie sich bei einer Beratungsstelle für Familientherapie gemeldet. Sie denkt, dass ihr Mann offen dafür sein könnte. Gleichzeitig hat sie „Entschwört“ kontaktiert, eine Berliner Beratungsstelle für Verschwörungsmythen im privaten Umfeld. Zweimal im Monat findet online ein moderierter Austausch zwischen Betroffenen statt. Dort reden sie über die Tante, die auf jeder Familienfeier über Ausländer schimpft. Über den Partner, der seine Strafzettel nicht zahlt, weil er mit der „Firma BRD“ nichts mehr zu tun haben will. Über den Vater, der immer wieder sagt: „Die werden schon sehen“, und ein Gewehr zu Hause hat, weil er Sportschütze ist.
Die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden steigt, wenn Menschen an Verschwörungserzählungen glauben
Die Beratungsstelle liegt nur wenige S-Bahn-Haltestellen von der Bank entfernt, auf der Janne Kern ihre Geschichte erzählt. Um die Menschen zu schützen, die dort arbeiten, ist die genaue Adresse im Internet nicht zu finden. „Wir waren schon mal im Fokus des verfassungsfeindlichen Milieus“, sagt Sonja Marzock. Sie ist systemische Beraterin und Politikwissenschaftlerin, hat Entschwört 2021 mit aufgebaut. Marzock spricht schnell. „Wir klären hier nicht über Spike-Proteine oder die Statik der Twin Tower auf“, sagt sie. „Fakten können sowieso niemanden entschwören. Wir kümmern uns um die Demokratie.“ Heißt konkret: um die Angehörigen.
Seit Projektbeginn haben mehr als 260 Menschen bei Entschwört Hilfe gesucht. „Viele von ihnen wollen darin bestärkt werden, dass es richtig ist, sich zu positionieren. Manche wollen von uns hören, dass es okay ist, eine Beziehung zu haben, auch wenn es eine Wertedifferenz gibt“, sagt Marzock. Einige Betroffene kämen immer wieder, manche Jahre lang. Vor allem, wenn Kinder im Spiel seien. Familien, bei denen es Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung gibt, verweisen sie ans Jugendamt. Dort geben sie auch Schulungen und klären über die Gefahr von Verschwörungsideologien auf.
„Es macht die Welt einfacher, andere Leute verantwortlich zu machen“, sagt Marzock. Es sei ja auch schwer, in dieser komplexen Welt den Überblick zu behalten. Aber es gebe nun mal rote Linien. Und um diese Linien kümmert sie sich. Sonja Marzock erklärt, ab wann Gedanken demokratiefeindlich sind. Ab wann sie vielleicht sogar bedrohlich werden können. So wie beim Tankstellen-Mord in Idar-Oberstein im Jahr 2021. Ein Mitarbeiter hatte einen Kunden damals gebeten, eine Maske zu tragen. Wenig später hat der Kunde ihn erschossen.
Dass die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, bei Verschwörungsanhängern steigt, zeigen auch die Studien von Professor Imhoff. Er sagt: „Wenn wir uns über die Fakten nicht mehr einig sind, dann funktioniert Demokratie nicht mehr. Dann gibt es nichts mehr, worüber wir streiten können.“
Janne Kern und ihr Mann streiten noch. Über die Fototapete in der Küche, über Geld, und wenn Janne Kern ganz viel Kraft hat, dann auch über Donald Trump. Das passiert aber immer seltener, denn langsam geht Janne Kern die Energie aus. Bevor sie zum Zug zurück nach Leipzig muss, fragt sie, ob man denn auch Kontakt mit Paaren hatte, die es geschafft haben. Nein? Kein einziges? Janne Kern richtet sich auf. „Vielleicht werden wir ja die Ersten sein“, sagt sie. Die Familientherapeutin wird es richten, diese Hoffnung trägt sie gerade. Und wenn nicht? „Dann werden wir uns wohl entscheiden müssen. Entweder wir trennen uns, oder wir gehen für ein Jahr auf ein Segelboot. Mit der ganzen Familie, aber ohne Internet.“
Text: Christina Lopinski; Redaktion: Ann-Kathrin Eckardt; Digitales Design: Felix Hunger; Digitales Storytelling: Christina Lopinski
Au, weia.
„Die Familientherapeutin wird es richten …“.
Also nicht sie selbst. Entlarvend.