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Wie ein Fehlurteil aus Karlsruhe die Corona-Aufarbeitung beschädigt
Der Bundesgerichtshof hat das Urteil gegen einen Weimarer Amtsrichter wegen Rechtsbeugung in Sachen Maskenpflicht bestätigt. Dieses harte Fehlurteil signalisiert: Alle juristischen Verfahren, die ihren Ursprung in der Corona-Zeit haben, werden unerbittlich weitergeführt.
Für nicht wenige Menschen ist Christian Dettmar ein Held. Der Amtsrichter aus Weimar hat im Frühsommer 2021 in zwei Schulen in Weimar die Maskenpflicht ausgesetzt. Das war mutig, und es ging ihm – als Familienrichter – um das Wohl der Kinder. Für das Landgericht Erfurt ist er ein Straftäter, der das Recht missbraucht hat. Es hat ihn im August 2023 wegen Rechtsbeugung zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hat seine Revision gerade zurückgewiesen. Die Verurteilung wegen Rechtsbeugung ist jetzt rechtskräftig. Was ist das für ein Urteil?
Christian Dettmar, ein Familienrichter aus Weimar, hält die Maskenpflicht in Schulen Anfang 2021 für epidemiologisch sinnlos, für verfassungswidrig und für schädlich für Kinder. Dass er damit richtig lag, ist heute offensichtlich. Aber schon während der Corona-Zeit gab es zahlreiche Experten, die das fundiert vertraten. Dettmar entschließt sich, etwas zu tun. Er ist Familienrichter und dabei unter anderem mit sogenannten Kindeswohlverfahren befasst. In diesen Verfahren greifen Familiengerichte ein, wenn das Kindeswohl gefährdet ist und die Eltern das Problem nicht lösen können. Um das Kindeswohl der Schüler zu schützen, erlässt er im April 2021 eine einstweilige Anordnung, mit der er in zwei Schulen die Durchsetzung der Maskenpflicht verbietet. Mehrere Eltern hatten bei ihm einen entsprechenden Antrag gestellt. Wo liegt das Problem?
Dettmar hat nichts dem Zufall überlassen. Er hat nicht auf einen Antrag gewartet. Er hat den Antrag der Eltern „organisiert“, und er hat die Eltern im Vorhinein ausführlich beraten und tatkräftig unterstützt. Das hat die Justiz auf den Plan gerufen. Sie wirft dem Familienrichter Missbrauch des Richteramtes vor. Im August 2023 hat das Landgericht Erfurt ihn wegen Rechtsbeugung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Jetzt hat der Bundesgerichtshof in Karlsruhe das Urteil bestätigt. Für Dettmar hat das gravierende Folgen. Mit dem rechtskräftigen Urteil ist er aus dem Richteramt entfernt. Seinen Pensionsanspruch hat er verloren. Das geht an seine Existenz.
Rechtsbeugung – was ist das?
Richter sind Menschen, und sie machen Fehler. Gegen Urteile sind deshalb Berufung und Revision möglich. Das nutzen die höheren Instanzen, um juristische Fehler zu korrigieren. Rechtsbeugung ist etwas anderes als ein alltäglicher Fehler. Von strafbarer Rechtsbeugung spricht man bei einem „elementaren Rechtsfehler“, mit dem sich ein Richter „bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt“. Rechtsbeugung ist einer der schlimmsten Vorwürfe, die man einem Richter machen kann. Er hält sich nicht mehr an das Gesetz, sondern ignoriert oder verbiegt es in seinem Sinne.
Im demokratischen Rechtsstaat gibt es eine eindeutige Gewaltenteilung: Die vom Volk gewählten Parlamente machen die Gesetze, die Gerichte wenden die Gesetze an. In einem Prozess kommt es nicht darauf an, was der einzelne Richter persönlich meint. Entscheidend ist, was im Gesetz steht.
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Richter sind natürlich keine Rechtsprechungsautomaten. Sie haben auch Auslegungsspielräume. Rechtsfindung ist ein anspruchsvoller, sehr diffiziler Entscheidungsprozess, in dem viele Faktoren eine Rolle spielen. Nicht zuletzt sind Richter – wie alle Menschen – von ihren Erfahrungen und gewachsenen Einstellungen geprägt, sie haben ein „Vorverständnis“, wenn sie an einen Fall herangehen. Trotzdem verlangt der Rechtsstaat von ihnen eine möglichst objektive und neutrale Anwendung des Gesetzes.
Kein Rechtsstaat ohne Unabhängigkeit
Genauso wichtig wie die Bindung des Richters ans Gesetz ist die richterliche Unabhängigkeit. In Art. 97 der Verfassung heißt es prägnant und unmissverständlich: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.“ Ohne unabhängige Richter gibt es keinen echten Rechtsstaat. Es ist dieser Grundsatz, der die Justiz vor einem „Durchregieren“ der Exekutive schützt. Eine verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit nützt aber nichts, wenn sie nicht aktiv im Alltag wahrgenommen wird. Eine unabhängige Justiz gibt es nur, wenn auch die Richterinnen und Richter eine innere Unabhängigkeit und Stärke haben. Richterpersönlichkeiten, wie sie eine rechtsstaatliche Justiz braucht, haben Mut und denken eigenständig. Sie beten nicht nur nach, was ihnen die übergeordneten Instanzen, die Politik oder die Mehrheitsmeinung in der Öffentlichkeit vorgeben. Sie sind ohne Wenn und Aber der Verfassung und dem Recht verpflichtet.
Konflikt: Rechtsbeugung gegen Unabhängigkeit
Die Unabhängigkeit der Richter ist nicht unbegrenzt. Richter sind an das Gesetz gebunden. Das ist die Grenze. Der Rechtsbeugungsparagraf im Strafgesetzbuch ist der härteste Ausdruck dieser Grenze. Eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung ist ein extremer Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit. Deshalb hat der Bundesgerichtshof in der Vergangenheit immer akribisch darauf geachtet, das Strafrecht in diesem Fall sehr vorsichtig und restriktiv auszulegen. Sein Mittel dabei war eine wertende Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände. Er hat betont, dass es dabei auch darauf ankommt, von welchen Motiven sich ein angeklagter Richter hat leiten lassen. Die Richter in Karlsruhe haben sich – mit anderen Worten – das Gesamtpaket angeschaut und bewertet. Und sie haben die wichtige Frage gestellt: Warum hat sich der Richter so verhalten? Vor diesem Hintergrund sind Verurteilungen wegen Rechtsbeugung äußerst selten. Aus Respekt vor der Unabhängigkeit der Richter ist das auch gut so.
Fehlurteil – aus zwei Gründen
Von dieser vorsichtigen Linie hat sich der BGH in diesem Urteil entfernt. In der Presseerklärung zu seiner Entscheidung betont er, „dass es im konkreten Fall weder auf die Motive des Angeklagten noch darauf ankommt, ob die Endentscheidung materiell rechtskonform war“. Das ist ein schrecklicher Satz, und ein großer, rechtlich relevanter Fehler. Die Richter in Karlsruhe ignorieren, dass es Amtsrichter Dettmar darauf ankam, die Schulkinder zu schützen. Schon damals, im April 2021, gab es heftige Kritik an den Coronamaßnahmen in den Schulen. Die Wissenschaft war keineswegs so eindeutig, wie die Politik immer wieder behauptet hat – und bis heute behauptet. Epidemiologisch war die Maskenpflicht in der Schule sinnlos, ihre negativen Auswirkungen auf die Psyche, die Gesundheit und die Entwicklung der Kinder waren schwerwiegend. Was Dettmar getan hat, war inhaltlich gut, auch wenn sein formaler Weg dahin ungewöhnlich war. Wie kann der BGH das ausdrücklich ignorieren?
Corona-Aufarbeitung - Wer definiert den Notstand?
Und Karlsruhe macht noch einen weiteren (Denk)Fehler. Die Richter werfen ihrem Kollegen vor, dass er das Verfahren angeregt und die Eltern der Kinder dabei beraten hat, wie sie ihren Antrag stellen und formulieren. In einem klassischen Gerichtsprozess ist das natürlich undenkbar und sicher ein elementarer Fehler. Denn da streiten sich zwei Parteien auf Augenhöhe, und der Richter muss neutral und unparteiisch sein. Sonst ist der Prozess eine Farce. Bei Dettmar ging es aber um ein völlig anderes Verfahren, nämlich um ein Kindeswohlverfahren im Familienrecht. Die Verfassung weist dem Staat ein „Wächteramt“ für das Kindeswohl zu, das er in diesen Verfahren wahrnimmt. Dabei stehen sich nicht zwei gleichberechtigte Parteien im Streit gegenüber. In Kindeswohlverfahren greifen Familiengerichte ein, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Hier ist es völlig normal, dass ein Richter die Eltern berät und sie unterstützt, wenn sie Anträge stellen. Das macht das Verhalten von Richter Dettmar weniger verwerflich, als es in einem klassischen Prozess wäre. Vor diesem Hintergrund hat Richter Dettmar sicher keinen elementaren Fehler gemacht, der ein Urteil wegen Rechtsbeugung stützen könnte.
Aufarbeitung? Nein danke
Dieses harte Fehlurteil hat Auswirkungen, die über den einzelnen Fall hinausgehen. Es signalisiert: Alle juristischen Verfahren, die ihren Ursprung in der Corona-Zeit haben, werden unerbittlich weitergeführt. Das gilt nicht nur für Bußgeldverfahren, das gilt auch für harte Strafverfahren, wie man wieder sieht. Wer sich gegen die Staatsmacht aufgelehnt hat, wird auch im Nachhinein noch diszipliniert. Es spielt keine Rolle, dass immer klarer sichtbar wird, wie falsch und verfassungswidrig das staatliche Handeln oft war. Die staatlichen Instanzen beharren auf dem formalen Recht. Das ist obrigkeitsstaatlicher Starrsinn. Sie haben den entscheidenden Punkt nicht verstanden. Der Staat hat während der Coronazeit Unrecht begangen. Das muss aufgearbeitet werden, sonst kann die Spaltung der Gesellschaft nicht überwunden werden.