Interview mit Jan Philipp Reemtsma in der Zeit.
Werden Ungeimpfte stigmatisiert? Blödsinn, sagt der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma. Bei Protesten gegen Corona-Maßnahmen gehe es um die Lust an der Aufregung.
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Jan Philipp Reemtsma, 69, ist ein vielfach ausgezeichneter Literatur- und Sozialwissenschaftler und Mäzen. In den Achtzigerjahren gründete er das Hamburger Institut für Sozialforschung, das sich unweit der Uni Hamburg befindet, von dieser aber unabhängig ist. Hier werden unter anderem Protestbewegungen in der Bundesrepublik beforscht. Neben den "68ern", deren Nachlass zum Teil im Archiv des Hauses aufbewahrt wird, gehören dazu neuerdings auch die Proteste gegen Corona-Maßnahmen. Jan Philipp Reemtsma hat die Leitung des Instituts im Jahr 2015 an den Soziologen Wolfgang Knöbl übergeben. Er publiziert weiterhin Essays und meldet sich als Intellektueller zu Wort.
ZEIT ONLINE:Herr Reemtsma, als die Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen anfingen, haben Sie diese in einem Interview psychologisch gedeutet: Das seien Leute, die angesichts ihrer Verunsicherung in ein kleinkindhaftes Verhalten zurückfielen und sich auf der Straße an einem Gemeinschaftserlebnis berauschten, aber keine politische Agenda hätten. Sehen Sie das heute, fast zwei Jahre später, immer noch so?
Jan Philipp Reemtsma: Normalerweise spricht man über Menschen, die sich sehr aufgeregt benehmen, so, als sei diese Aufregung etwas, das zu dem, was sie sonst noch reden und wollen, hinzukommt. Ich finde, es führt uns weiter, wenn wir die Sache etwas anders beleuchten und das Aufgeregtsein als das Primäre ansehen, also als das, was von Menschen angestrebt wird. Was sie sagen, ist das, was die Aufregung als Legitimation solchen Verhaltens begleitet. Wie kommt es zu solchen Aufgeregtheiten? Umfragen zeigen ziemlich deutlich, dass nicht diejenigen demonstrieren, denen es wegen der Pandemie beruflich schlecht geht, sondern Leute, denen der Begriff von Normalität erschüttert ist, also ihr soziales Vertrauen.
ZEIT ONLINE: Was meinen Sie damit?
Reemtsma: Soziales Vertrauen ist die Unterstellung, dass alles so weitergeht wie bisher. Corona und die Anti-Corona-Maßnahmen haben aber den Alltag vieler aus dem Takt gebracht, in den uns allen bekannten Kleinigkeiten. Einige Menschen entwickeln deshalb erstaunlich große Unsicherheitsgefühle und sie kompensieren sie, indem sie für sich Rollen finden, in denen sie sich sicher fühlen. Sehen Sie sich die Demonstrationen an: Da sehen Sie Leute, die sich ihrer Sache sicher sind. Sie glauben, dass sie im Recht sind und alle anderen im Unrecht. Das schafft Stabilität. Ins Mikrofon schimpfen sie "Lügenpresse" und untereinander sind sie fröhlich. In dem Buch Die Misstrauensgemeinschaft der 'Querdenker' gibt es eine interessante Befragung von Teilnehmenden einer Demonstration in Konstanz, das war dort wie ein Woodstock ohne Musik. Meine Lieblingsaussage ist: "Hier treffe ich Leute, die das sagen, was ich schon immer irgendwie gemeint habe." Oder: "Wenn man nicht zusammen in den Urlaub fahren kann, fährt man zusammen auf Demos. Es hat schon etwas Positives, dass man sich wieder zusammenrottet." Es geht also um Freizeitgestaltung und um eine Vergemeinschaftung in der Aufgeregtheit. Weg vom Alltag mit dem Anspruch, sich verantwortlich zu verhalten. Ein kindliches Glück der Verantwortungslosigkeit.
ZEIT ONLINE: Ist die Vergemeinschaftung nicht ein Zweck aller Demos? Gute Stimmung herrscht auch bei Fridays for Future, ohne dass das Anliegen dadurch falsch würde.
Reemtsma: Selbstverständlich, das gibt es auch bei allen anderen Demonstrationen. Es ist ein schönes Gefühl, gemeinsam gegen etwas zu sein. Noch besser ist nur, wenn noch ein Gefühl von Macht hinzukommt, man denke an die Menschen, die plötzlich in Kanada eine Brücke blockieren und das ganze Land in Aufruhr versetzen. Was für eine Macht! Das bietet der Alltag nicht, das sind große Feste der Selbstermächtigung.
ZEIT ONLINE: Ich höre raus, dass Sie die politischen Anliegen der Corona-Demos nicht für legitim halten?
Reemtsma: Erst mal ist jedes Anliegen legitim, sofern es nicht offensichtlich bösartig ist. Jemand hat es, jemand äußert es, so soll es in unserer Gesellschaft sein. Aber was um alle Welt sind denn diese Anliegen?
ZEIT ONLINE: Es gibt zum Beispiel die Sorge, dass in Deutschland die Stigmatisierung einer Minderheit stattfindet, nämlich der Ungeimpften.
Reemtsma: Dass man verlangt, für bestimmte Veranstaltungen einen Impfstatus nachzuweisen, ist keine Stigmatisierung. Es zielt ja nicht darauf ab, Menschen schlecht zu machen, sondern ist eine Maßnahme der öffentlichen Sicherheit. In bestimmten Situationen ist man erst mal ein Unsicherheitsfaktor, das ist völlig in Ordnung und übrigens auch nichts Neues: Wenn man Auto fährt, kann es vorkommen, dass man eine Alkoholkontrolle über sich ergehen lassen muss. Oder denken Sie nur daran, was man alles machen muss, wenn man einen Flug antritt. Da wird man als möglicher Terrorist behandelt! Es gibt Leute, die sich darüber furchtbar aufregen und sagen: "Sehe ich etwa wie ein Terrorist aus?" Wenn ich hingegen vernünftig bin, sage ich mir: "Das ist zwar lästig, aber es dient einer gemeinsamen Sicherheit, jetzt bin ich mal nicht beleidigt."
"Diese Demonstrationen sind ein Angebot, Verrücktheiten auszuleben"
ZEIT ONLINE: Sie halten die Sorge vor einer Stigmatisierung also für unbegründet.
Reemtsma: Ja, das ist Blödsinn. Wenn mir jemand sagt, dass er sich wegen einer Impfkontrolle stigmatisiert fühlt, dann will ich ihm gar nicht absprechen, dass er das in dem Augenblick wirklich meint, das heißt, dass er sich in ein Gefühl hineintheatert hat und dieses Theater, das er selber veranstaltet, für die Wirklichkeit hält. Ich kann höflicherweise so tun, als würde ich das ernst nehmen, und mit ihnen reden – aber wenn die merken, dass ich das, was sie sagen, in Zweifel ziehe, dann gehen sie zu anderen, die es auch so sehen wie sie. Ist doch klar, da fühlen sie sich wohler. Und wenn diese Menschen immer mehr werden, entsteht daraus eine gefühlte Macht: "Wir sind viele!" Mehr aber auch nicht.
ZEIT ONLINE: Ich würde gerne auf Ihren Vergleich zurückkommen. Sie dürfen ein Flugzeug nicht besteigen, wenn Sie ein Messer in der Tasche haben. Aber sobald Sie das Messer abgeben, lässt man sie durch. Ähnlich ist es mit Alkohol am Steuer: Es werden viele Menschen einsehen, dass man Auto fahren darf und dass man Alkohol trinken darf, aber eben nicht beides gleichzeitig. Hat es nicht eine andere Qualität, dauerhaft von bestimmten gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen zu sein, weil man die Entscheidung getroffen hat, sich nicht impfen zu lassen?
Reemtsma: Wenn man Vergleiche zieht, ist es nie ganz dasselbe, das ist doch klar. Novak Đoković, der Tennisspieler, der so viele Schlagzeilen gemacht hat, sagte neulich in einem Interview: "Ich lasse mich immer noch nicht impfen, dann darf ich eben am nächsten großen Turnier nicht teilnehmen, that’s the prize." Das ist eine bemerkenswert nüchterne Äußerung. So könnte das jeder betrachten. Nun gibt es Leute, die sagen: "Ich finde die Maßnahmen falsch." Aber wenn es darum ginge, das auf einer Demonstration deutlich zu machen, wären das andere Demonstrationen als jene, die wir gerade beobachten können.
ZEIT ONLINE: Inwiefern?
Reemtsma: Diese Demonstrationen formulieren keine politischen Forderungen, sondern sind ein Angebot an alle Leute, die Verrücktheiten, die sie im Kleinen gepflegt haben, nun als großes Gemeinschaftserlebnis auszuleben. Die Mikrochipeinpflanzleute sind zum Beispiel dabei und diejenigen, die glauben, von einer globalen Elite manipuliert zu werden. Alle fühlen sich miteinander wohl, Hauptsache, man gehört dazu und stimmt in denselben Sound ein. Bestimmte Erregungszustände vereinheitlichen die Mentalitäten: Die Menschen werden sich ganz schnell unheimlich ähnlich, sie reden dasselbe, sie reden auf dieselbe Weise, sie schreiben dieselben Sätze und so weiter. Aufgeregte, gar wütende Leute beginnen einander zu ähneln. Das kann man als ein bisschen unheimlich und schauerlich finden, aber es ist so. Und die Realitätswahrnehmung wird durch die Affekte strukturiert.
Was die Querdenker mit den "68ern" gemein haben – und was nicht
ZEIT ONLINE: Ist das ein neuartiges Phänomen?
Reemtsma: Ein allgemein menschliches. Auch politisch bekannt. Denken Sie an die Demonstrationen der späten 60er. Rudi Dutschke erzählte allen Ernstes im Interview mit Günter Gaus, dass die SDS-Gruppe, die in West-Berlin existierte – er sprach davon, dass das ein harter Kern von 20 Leuten sei und vielleicht 200 weitere drum herum – in kürzester Zeit die Bundesrepublik grundlegend verändern werde. Das war offensichtlich an jeder Realität in West-Berlin und West-Deutschland vorbeifantasiert! Mir ist es wichtig, nicht missverstanden zu werden: Ich sage nicht "Rudi Dutschke war verrückt", sondern ich sage, dass eine bestimmte Form von sehr stark emotionalisierter Vergemeinschaftung, die diese SDS-Gruppe als harter Kern großer Demonstrationen erlebte, ein Soziotop bildet, in dem extreme Realitätsverkennungen gedeihen. Das gilt für alle solche Vergemeinschaftungen.
ZEIT ONLINE: Der Vergleich mit 1968 ist insofern suggestiv, als zwar die 20 Leute um Rudi Dutschke Deutschland nicht verändert haben, aber dafür all diejenigen, die nach ihnen kamen. Das antiautoritäre Denken hat sich in den Neuen Sozialen Bewegungen verstetigt, in eigenen Öffentlichkeiten und Medien. Wäre es vorstellbar, dass so etwas auch jetzt wieder passiert?
Reemtsma: Das ist möglich, aber ich glaube nicht daran. Ich denke, das verschwindet wieder. Man kann nicht Parolen in die Gegend rufen, wenn niemand mehr da ist, der sie hören könnte. Denken Sie an Elias Canetti: Eine Masse will immer wachsen. Wenn sie das nicht tut, gerät sie in eine Krise. 1968 hieß es: "Bürger, lasst das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein." Das war auch Spinnerei, denn wer damals bei einer Demonstration aus dem Fenster glotzte, war der Allerletzte, der runtergegangen wäre, um sich anzuschließen. Aber die Leute, die da liefen und die das riefen, hatten das Gefühl, das könnte klappen: "Auf einmal gehen die Türen auf, die Bürger kommen runter und dann sind wir Tausende, Hunderttausende!" Wenn dieser Gedanke immer wieder widerlegt wird, dann funktioniert es nicht mehr. Wird es kleine Gruppen geben, die das weiterpflegen? Dazu, glaube ich, fehlt dann doch ein mentales Bindemittel, das über die bloße Liebe zur Aufgeregtheit hinausgeht, etwa eine Ideologie.
ZEIT ONLINE: Sie haben eingangs vom sozialen Vertrauen gesprochen. Wenn Sie auf die Verwaltung der Pandemie schauen, sehen Sie dann eine Erschütterung dieses Vertrauens auch bei denjenigen, die nicht demonstrieren gehen? Viele Leute sind davon ausgegangen, dass Staat und Verwaltung immer irgendwie funktionieren würden. Jetzt erleben wir: Auch in den Regierungen und Behörden herrscht eine gewisse Hilflosigkeit oder Überforderung.
Reemtsma: Seit zwei Jahren reden wir bei Abendessen oder anderen Begegnungen erstmal über Corona. Eines der immer wieder besprochenen Themen ist die Inkonsequenz oder mangelnde Plausibilität von Maßnahmen. Insgesamt helfen diese Maßnahmen aber und mehrheitlich weiß man das irgendwie und dieses "Irgendwie" reicht aus. Na, selbstverständlich passieren Fehler! Es gibt auch hier und da auch Korruption. Das gehört zur Normalität. Übrigens, ist es nicht wunderbar, dass das ekelhafte Wort "Querdenker" jetzt von diesen Demonstranten gekapert worden ist? Unschuldige Menschen, die manchmal etwas unkonventionelle Dinge sagen, werden nicht mehr mit diesem Wort bedacht werden. Ein großer ästhetischer Fortschritt!