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Während der Corona-Pandemie haben sich diese Einzelpersonen zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen die Maßnahmen, gegen Regeln, gegen staatliche Politik zu protestieren. „Das klassische Bild von Einzelpersonen hat sich lange gezeigt“, sagt Speit. Aber inzwischen sei „eine neue Dynamik“ auszumachen. Zum einen hatte die Verschwörungserzählungsszene im Kontext der „Querdenker“-Demonstrationen Zulauf, die Idee einer „Reichsideologie“ gewann an Zuspruch – und so mischten sich unter die bis dahin rund 20.000 vom Verfassungsschutz erfassten Reichsbürgerinnen und Reichsbürger eben auch „Querdenker“, die nicht per se an eine „BRD GmbH“ glauben, aber staatliche Maßnahmen aufgrund von Verschwörungstheorien ablehnen, Rechtsradikale und Frustrierte, die durch Corona viel verloren haben. „Die Pandemie gab den Anschub, nach Alternativen zu suchen“, sagt Rathje.
Telegram macht Reichsbürgern die Vernetzung einfach
Zum anderen ist durch das Internet die Vernetzung einfacher geworden. Nun versuchen keine einzelne Personen mehr gegen den Staat anzugehen – es sind kleine und mittelgroße Gruppierungen, die sich auf Plattformen wie Facebook, vor allem aber Telegram austauschen. „Telegram hat während der Pandemie eine besondere Rolle als zentrale Plattform gespielt“, sagt Rathje, „das hat zum Aufbau eigener Strukturen beigetragen.“
Bildungseinrichtungen für die eigenen Kinder sind da nur der logische Schluss, glauben Speit und Rathje. Und dank Homeschooling und Onlineunterricht wurde es einfacher, Kinder in alternativen Bildungseinrichtungen unterzubringen. „Lehrkräfte berichten überall in Deutschland, dass sie den Zugang zu einzelnen Kindern verloren haben“, sagt Speit. Einige Kinder waren zu lange nur der Ideologie ihres elterlichen Umfelds ausgesetzt und sind für demokratische Lehrinhalte nicht mehr zu gewinnen. Andere Kinder wurden ganz von den Schulen abgemeldet – in Deutschland kann die Schulpflicht in bestimmten Fällen ausgesetzt werden – Eltern dürfen ihre Kinder dann selbst unterrichten oder unterrichten lassen.
Freie Schulen gibt es zwar auch in Deutschland, eine Schulgründung ist allerdings nicht ganz so einfach. Auch deshalb wichen der Szene angehörige Menschen in den vergangenen Jahren auf alternative Bildungsprogramme zurück, gründeten etwa ideologisch motivierte Lerngruppen, richteten eine Nachmittagsbetreuung ein oder luden zu Jugendfreizeiten – die oftmals verboten oder aufgelöst wurden, wenn die Behörden davon mitbekamen. In Sachsen bat der Landesverfassungsschutz die Schulbehörden in Schreiben gar, aufmerksam zu sein und verdächtige Einrichtungen zu melden, berichtet der „MDR“. „Die Eltern argumentieren gerne mit dem Kindeswohl – ich sehe da eher eine politische Instrumentalisierung durch die Eltern“, sagt Speit.
Wie viele Reichsbürger-Schulen gibt es in Deutschland?
Dennoch: Seine Recherchen zeigten, dass die Reichsbürger-Szene in Deutschland umtriebig ist – und Kinder als Zielgruppe anvisiert. Wenngleich in Hamburg, Sachsen, Bayern und Hessen Schulgründungen verhindert werden konnten, sei längst nicht klar, ob es im Geheimen doch geklappt habe. „Wir wissen, dass es intensive Bemühungen im Bildungsbereich gibt“, sagt Speit, „aber welche Dimension das hat, wissen wir nicht.“ Er glaubt vielmehr, dass sich Initiativen unbemerkt der Öffentlichkeit etabliert haben könnten – und bisher im Gegensatz zu früheren Fällen noch nicht dank aufmerksamer Schulbehörden oder der Nachbarschaft aufgeflogen sind.
Die Krux: Die Programme, die bei Schulgründung kommuniziert werden müssen, ähneln jenen von gängigen freien Schulen. „Das ist geschickt formuliert, die Schüler sollen viel involviert sein. Aber durch das ausgefüllte Formular sieht man nicht, wer dahintersteckt“, sagt Speit, „und ich bin skeptisch, dass es die Sensibilität in den Behörden gibt, die Motive zu hinterfragen.“ Ähnlich sieht die Prognose von Rathje aus. Ob es künftig auch in Deutschland Reichsbürger-Schulen gibt wie in der Schweiz, könnte davon abhängen, „wie geschickt die Gründer sind, die ideologische Zugehörigkeit zu verschleiern.“