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Coronavirus in Sachsen: Ein Land an seinen Grenzen
Ausgerechnet Sachsen, wo es im Frühjahr kaum Corona-Fälle gab, ist inzwischen der Hotspot der Republik. Wie konnte es so weit kommen?
Von Anne Hähnig und Martin Nejezchleba
3. Dezember 2020, 11:37 Uhr ZEIT im Osten Nr. 50/2020, 3. Dezember 2020 732 Kommentare
An einem Nachmittag im Oktober, in Sachsen sind Herbstferien, hält im Örtchen Waltersdorf im Zittauer Gebirge ein polnischer Reisebus. Das wäre unspektakulär, eigentlich. Aber dann steigen Senioren aus dem Bus, einer nach dem anderen, kaum einer trägt Mundschutz. In Zweierreihen marschieren sie ins Quirle-Häusl, ein Gasthaus.
Damals wundert man sich ein wenig über die Sorglosigkeit der Touristen. Ein eigenartiger Moment, mehr nicht.
Heute aber, im Rückblick, erklärt dieser Moment manches. Er erklärt ein ziemlich großes Problem, das Sachsens Staatsregierung hat, und mit ihr vor allem CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer, der sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen muss, nicht so genau hingeschaut zu haben, als die zweite Welle der Corona-Pandemie sein Bundesland überrollte.
Und es ist sicher nur eine Randnotiz dieser Geschichte, nur ein Zufall, dass Kretschmer selbst in Waltersdorf lebt, dass er dort ein Ferienhaus besitzt. Aber vielleicht hätte er schon im Oktober sehen können, dass es ein Problem gab in Sachsen, ein Problem mit dem Tourismus.
Sachsen, das ist das Land, das sehr stolz war auf seine Corona-Politik: Beinahe unbeschadet kam der Freistaat durchs Frühjahr und den Sommer, die Infiziertenzahlen waren mit die niedrigsten der Republik. Und jetzt, im Winter? Ist Sachsen plötzlich das am stärksten betroffene Land, mit der höchsten Sieben-Tage-Inzidenz. Ist es der Corona-Hotspot schlechthin.
Zwar steigen auch in Thüringen die Zahlen, besonders im bundesweiten Hotspot Hildburghausen. Zwar ist auch Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) in Sorge, weil die Lage angespannt ist. Aber nirgendwo ist die Situation auch nur im Ansatz so brenzlig wie in Sachsen. Hier gab es, Stand Dienstag, in den zurückliegenden sieben Tagen mehr Neuinfizierte als in den anderen Ostländer zusammengerechnet. Unter den fünf Landkreisen, die bundesweit die meisten Neuinfektionen aufweisen, befinden sich allein drei sächsische, nämlich der Erzgebirgskreis, Görlitz und Bautzen.
n den Kliniken macht sich das schon bemerkbar. In allen sechs Krankenhäusern des Erzgebirgskreises fällt inzwischen jeder dritte Mitarbeiter erkrankt aus. Hier und in Bautzen ist fast jedes zweite Intensivbett von einem Covid-Patienten belegt. Gerade in Ostsachsen seien die Kliniken am Limit, sagt der Präsident der sächsischen Landesärztekammer Erik Bodendieck. Aus Görlitz wurden zuletzt schon zehn Patienten nach Dresden, Leipzig und Freital verlegt.
180 %
So hoch war der Anstieg der Fallzahlen in Sachsen in den vergangenen 28 Tagen
79 %
der Intensivbetten in Sachsen sind derzeit belegt
23 %
Knapp ein Viertel der Corona-Todesfälle im Osten seit März entfällt alleine auf die letzte Novemberwoche (Alle Zahlen Stand 30.11. bis 1.12.2020)
Inzwischen hat die Landesregierung reagiert. Michael Kretschmer präsentierte eine Corona-Schutzverordnung mit neuen Regeln, die die Pandemie eindämmen sollen. Was er bislang nur unvollständig beantwortet hat, ist die Frage danach, wie der Freistaat überhaupt in eine solche Lage geraten konnte. Die ZEIT hat mit ihm, aber auch mit Landräten und anderen Politikern gesprochen, die dem Anstieg der Zahlen wochenlang eher zugeschaut haben. Mit Bürgermeistern, die an der Sorglosigkeit ihrer Einwohner verzweifeln. Und mit tschechischen Reiseunternehmern, die mit Fahrten nach Dresden zuletzt gutes Geld verdient haben. Es ergeben sich, im Wesentlichen, drei Gründe, die erklären, warum Sachsen binnen weniger Wochen zum Sorgenland der Republik wurde.
1. Die Grenze
Wer sich auf einer Landkarte anschaut, wo im Osten gerade die meisten Corona-Fälle auftreten, dem fällt eine Gegend besonders ins Auge, nämlich der südlichste und östlichste Streifen Sachsens: das Grenzland zur Tschechischen Republik und zu Polen. Nun muss man wissen, dass Tschechien im Oktober eine der höchsten Ansteckungsraten aller Staaten hatte – weltweit. Polen war ebenfalls stark von Corona betroffen. Auch in Brandenburg und in Mecklenburg-Vorpommern sind die Infiziertenzahlen in den Grenzgebieten erhöht. Ist das Virus also im Verlauf der zweiten Welle von Osten her nach Deutschland gekommen?
Von Politikern gibt es darauf eine zweigeteilte Antwort. Michael Kretschmer sagt: "Wir haben von den Gesundheitsämtern keinen richtigen Beleg dafür, dass es tschechische Besucher sind, auf die der Anstieg der Zahlen zurückgeht." Und tatsächlich fällt es schwer, im Konkreten den Beweis zu führen, dass sich die Bürger in ostsächsischen Dörfern vor allem bei Besuchern oder Kollegen aus Tschechien angesteckt haben. Gleichzeitig aber sagt sogar eine Sprecherin des Robert Koch-Instituts: Die Vermutung liege zumindest nahe.
Will man wissen, warum Sachsens Regierung dies zuließ, so muss man sich zunächst an die Situation im März und April dieses Jahres erinnern. Damals schlossen Tschechien und Polen die Grenzen nach Deutschland komplett – weil Westeuropa sehr viel stärker von der Pandemie betroffen war. Kilometerlange Staus bildeten sich auf den Autobahnen, Familien wurden getrennt, selbst Ärzte kamen nicht zur Arbeit auf der anderen Seite der Grenze. Im Sommer versprachen sich die EU-Regierungen, dass es zu solch rigiden Maßnahmen nicht wieder kommen solle. Auch Kommunalpolitiker, auf beiden Seiten der sächsisch-tschechischen Grenze, reden bis heute von dem Schock, den die Grenzschließung damals auslöste.
Und dann ist Sachsen auch noch auf tschechische Fachkräfte angewiesen. Kretschmer sagt: "Wir wollen ja auch den tschechischen Krankenpfleger, die tschechische Ärztin haben, wir sind in gewisser Weise auch abhängig von diesem Personal."
Glaubt man Michael Geisler (CDU), Landrat im Osterzgebirge und der Sächsischen Schweiz, ist genau diese Abhängigkeit ein Grund für die hohen Ansteckungszahlen. Die Gastronomie, mittelständische Betriebe und auch die Kranken- und Altenpflege funktionierten in seiner Region auch dank vieler Arbeitskräfte aus Tschechien. "Ich weiß, dass wir in verschiedenen Heimen die erste Ansteckung über Kollegen aus der Tschechischen Republik hatten", sagt Geisler.
Erstaunlich ist, was Sachsens Staatsregierung tat, nachdem Tschechien im Oktober einen harten Lockdown verhängt hatte. Nachdem dort also nicht nur eine nächtliche Ausgangssperre erlassen wurde, sondern auch Schulen, Restaurants und die meisten Läden geschlossen wurden. Tschechien war nun Risikogebiet. Eigentlich hätte eine Quarantäne-Pflicht gelten müssen für Reisende nach Deutschland. Doch Sachsen lockerte die Bestimmung. Einreisenden wurde es ermöglicht, nach Sachsen zu kommen – für 24 Stunden, ohne Angabe von Gründen, ohne Quarantäne. Das Ergebnis: Menschen fuhren von Tschechien zum Biertrinken nach Zittau, polnische Rentnergruppen zum Essen in sächsische Berggaststätten und Busse voller Prager in die Einkaufszentren von Dresden.
Im Rückblick ein ziemlicher Wahnsinn.
Roman Vejmola betreibt eine Reiseagentur in Prag. Er erzählt, dass diese Busfahrten eines der letzten Geschäftsfelder waren, die ihm damals noch geblieben seien. An die 40 Leute stiegen regelmäßig um 8 Uhr in Prag in die Reisebusse, zweimal wurde auf dem Weg für Zusteiger gehalten, gegen 11 war man in der Dresdner Innenstadt, um 18 Uhr fuhr man zurück.
Erst am 16. November wurde der sogenannte kleine Grenzverkehr wieder eingeschränkt.
All das könnte erklären, warum die zweite Welle Sachsen so früh und so schwer traf. So erfährt man es sogar aus Sachsens Gesundheitsministerium. All das reiche aber nicht zur Erklärung, warum sich das Virus anschließend derart schnell verbreitete.
2. Die Mentalität
In Aue im Erzgebirge sind inzwischen so viele Menschen erkrankt, dass auch die Stadtverwaltung Mühe hat, noch arbeitsfähig zu sein. Viele Beamte sind selbst infiziert oder in Quarantäne. Im Ordnungsamt etwa fehlt die Hälfte der Leute. Im Standesamt wird die Lage noch brenzliger, denn das kann seine Arbeit nicht einfach liegen lassen. Hier müssen Tode und Geburten beurkundet werden, und zwar ohne Zeitverzug. Oberbürgermeister Heinrich Kohl (CDU) hat deshalb pensionierte Standesbeamte aus dem Ruhestand zurückgeholt. "Die Lage ist wirklich sehr schwierig", sagt er. Das Problem sei nur: Am Verhalten der Bürger merke man das leider nicht so richtig. In Supermärkten sehe man häufig Menschen, die ihre Maske – wenn überhaupt – unter der Nase trügen. "Die Umsetzung der neuen Maßnahmen lässt doch ein bisschen zu wünschen übrig", sagt Kohl. Es herrsche ein Gefühl davon vor, dass man im Erzgebirge irgendwie resistent gegen die Krankheit sei.
Im Erzgebirge, das muss man wissen, leben gerade Familien recht eng miteinander. Nicht selten teilen sich Enkel mit Großeltern ein Haus. Marco Wanderwitz, der Ostbeauftragte der Bundesregierung, weiß das, denn er kommt aus dieser Region. Aber er wundert sich darüber, wie sorglos seine Landsleute seien – selbst jetzt, da die Todeszahlen längst steigen. Wanderwitz ist derart alarmiert, dass er ein "sächsisches Bergamo" aufziehen sieht, die Situation hier "dramatisch" nennt. Er habe sich angewöhnt, sagt er, grundsätzlich eine Maske aufzusetzen – egal wo er sei, auch daheim im Erzgebirge. "Aber da wirst du angeguckt, als wärst du von einem anderen Stern." Besonders kurios findet Wanderwitz die Tatsache, dass in den ländlichen Gegenden Sachsens die Inzidenz viel höher ist als in den Großstädten, also Dresden, Leipzig und Chemnitz. Wie kann das sein? Wanderwitz sagt: "Die Corona-Zahlen sind dort besonders hoch, wo eine bestimmte Partei auch sehr erfolgreich ist, nämlich die AfD. Im oberen Erzgebirge etwa oder in Ostsachsen haben wir ein Problem mit Corona-Leugnern, die sich an keine Regel halten, die Quarantänen zu früh abbrechen und, und, und."
Schwer zu sagen, wie viel Spekulation und wie viel Wahrheit das ist. Eine Umfrage der Deutschen Bank ergab, dass in Sachsen die meisten "Corona-Leugner" lebten, 14 Prozent, doppelt so viele wie in Bayern. Allerdings wurde als Leugner jeder Bürger gezählt, der dem Satz zustimmt: "Eine Krise gibt es doch aktuell nicht. Da wird viel dramatisiert, und das dauernde Sprechen über die Krise ist überzogen." Die Befragung fand nur bis zum September statt, als noch kaum ein Sachse jemals einem Corona-Infizierten begegnet war. Vielleicht ist das ein Teil der Erklärung: Wer noch nicht viel Krise erlebt hat, schätzt sie auch als nicht so dramatisch ein.
3. Die Lockerungen
Wollte man Michael Kretschmers Haltung zur Corona-Pandemie in einer Grafik darstellen, dann hätte die Kurve mehrere Wellen. Anfangs, noch im März, führte er in Sachsen mit die strengsten Regeln ein. Von der eigenen Wohnung durfte man sich nur wenige Kilometer entfernen. Dann wurde Kretschmer zum Lockerungsmeister. Jetzt trat er dafür ein, in Sachsen früher aus den strengen Regeln auszusteigen, weil die Erkranktenzahlen hier so gering waren. Seine Regierung stieß im Sommer allerlei wissenschaftliche Untersuchungen an – auch darüber, unter welchen Umständen Großveranstaltungen trotz Corona möglich wären. Sie konzentrierte sich also darauf, viel Wissen über das Virus zusammenzutragen. So weit – so verdienstvoll.
Doch gleichzeitig begann Kretschmer damit, eine neue Philosophie im Umgang mit dem Virus zu propagieren: Eigenverantwortung! Die Sachsen sollten selbst entscheiden, wie sie sich einschränken in der Pandemie. Und die Sachsen, so klang das, könnten das schließlich selbst auch am besten entscheiden. Heute muss Kretschmer einsehen, dass die Sache mit der Eigenverantwortung ein Selbstbetrug war.
Lange wollte Kretschmer auch seinen Landräten Eigenverantwortung zugestehen; ihnen ermöglichen, Regeln zu verschärfen oder zu lockern – je nachdem, wie stark sich das Virus in ihren Gegenden ausbreitet. So forderte Sachsens Landesregierung die Landräte dazu auf, im Ernstfall vor Ort strengere Regeln einzuführen. Das aber passierte nicht. Im Erzgebirge deutete sich schon vor Wochen an, dass die Zahlen steigen – kaum etwas geschah.
Warum hat sich Kretschmer so lange zurückgehalten? Immerhin sagt er selbst, schon in den Herbstferien gemerkt zu haben, dass "die Dinge so nicht funktionierten". Die Herbstferien endeten am 31. Oktober. Zwar beschloss seither Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit allen Ministerpräsidenten strengere Regeln, doch vielleicht hätten manche Regionen Sachsens noch weit restriktiver vorgehen sollen, um die Zahlen frühzeitig zu reduzieren?
Liegt es daran, dass Kretschmer einer ist, bei dem das Verständnis für viele Haltungen der Bürger sehr weit geht? Des Bürgers Meinung kennt er, und sie hat ihn in den zurückliegenden Tagen eher verblüfft. Er habe, erzählt er, zuletzt ausschließlich Briefe von Leuten bekommen, die Corona-Regeln lockern wollten. Die zum Beispiel Kosmetikstudios öffnen oder in Sportvereine wieder trainieren lassen wollten. "Daran habe ich gemerkt, dass die Dramatik überhaupt nicht erkannt wird", sagt er. Jeder, der von außerhalb auf Sachsen blicke, dem sei völlig klar, dass es jetzt eher strengere Regeln als Lockerungen bräuchte. Aber die Sachsen hätten das teilweise noch nicht eingesehen, so Kretschmer.
Das Problem ist, dass auch Sachsens neue Verordnung so klar nicht ist. Zwar sollen Landkreise mit einer Inzidenz von mehr als 200 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohnern künftig eine "Ausgangsbeschränkung" verhängen. Doch die Ausnahmen dafür sind so weit gefasst, die "triftigen Gründe", die Wohnung doch zu verlassen, so zahlreich, dass von einer Ausgangsbeschränkung eigentlich keine Rede sein kann.
Für Kretschmer ist diese Verordnung der letzte Versuch, die Bevölkerung zu einer mehr oder weniger freiwilligen Isolation zu bewegen. Sollten die Maßnahmen nicht funktionieren, so kündigte er es inzwischen an, dann müsse man wieder zu einem echten Lockdown greifen. Dann will er wieder der harte Michael Kretschmer sein.
Auch hier lohnt sich ein Blick in die Kommentare, man kommt augenscheinlich fast nicht mehr mit löschen hinterher.