Lustich.
Ha.Ha.
Gefühltes Recht
"Söderwindel"
Werkstattbesitzer verwehrt Kunden mit Maske den Zutritt
Vor allem den Kunden droht eine Strafe
26.11.2020 | Stand 26.11.2020, 20:09 Uhr
Ob unter der Bezeichnung Söderfratze oder Söderwindel – im Autohaus Hengl in Greding lehnt man das Tragen von Masken strikt ab.
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Ob unter der Bezeichnung Söderfratze oder Söderwindel – im Autohaus Hengl in Greding lehnt man das Tragen von Masken strikt ab.
Während in Berlin und München um neue Regularien wegen der Corona-Pandemie gerungen wird, leistet Klaus Hengl Widerstand im Kleinen - nämlich in seiner Autowerkstatt in Greding (Kreis Roth).
Er ist erklärter Gegner der Maskenpflicht, berichtet der Donaukurier. Und macht dies mehr als deutlich. "Das Betreten mit einer Maske (,Söderwindel’) ist nicht gestattet!" Diese unmissverständlichen Worte prangen an der Eingangstür zum Büro der freien Werkstatt. Er wolle nicht mit jemandem reden, dessen Gesicht er zu drei Vierteln nicht sehe, bekräftigt Klaus Hengl im persönlichen Gespräch. Dass ihn am Donnerstagvormittag die Polizei besucht, um ihm ins Gewissen zu reden, ficht ihn nicht an. Er sei ein freier Bürger, sagt Hengl. Und könne in seinem Geschäft verfahren, wie er es für richtig halte.
Bedingt ist das sogar richtig. "Es gibt eine Maskenpflicht", sagt Andrea Raithel, die Pressesprecherin des Landratsamts. Die könne der Betrieb nicht mit Verweis auf sein Hausrecht aushebeln. Aber: Den Mund-Nasen-Schutz aufzusetzen, sei Sache jedes Einzelnen. Der Kunde, der Hengls Aufforderung nachkommt und die Maske abnimmt, kann demnach mit einer Geldbuße in Höhe von 250 Euro belangt werden.
Klaus Hengl fühlt sich im Recht
Wo kein Kläger, da kein Beklagter. Klaus Hengl vergleicht die Weigerung, eine Maske aufzusetzen, mit dem Auto zu schnell zu fahren. Die meisten würden nicht belangt. Dabei gefährde man sich und andere Menschen durch Raserei viel mehr als durch ein freies Gesicht. Findet Hengl. Im Gegenteil sei das Tragen einer Maske gesundheitsgefährdend für den Träger – das sei durch Studien bewiesen. Überdies habe das Stück Stoff vor Mund und Nase keinerlei Wirkung auf die Ansteckungsgefahr, das habe man zu Beginn der Pandemie doch gesehen. Damals wurde explizit abgeraten. "Und wenn das Virus so tödlich wäre wie behauptet, wären wir alle doch schon im März gestorben."
Klaus Hengl fühlt sich im Recht. Wie er mit der Maskenpflicht in seinem Geschäft umgehe, sei seine Sache, sagte er. 99 Prozent seiner Kunden sähen die Maskenpflicht ebenso kritisch oder hätten zumindest kein Problem mit seiner Einstellung. Seit April schon verfahre er so. "Bisher haben sich genau zwei Leute aufgeregt." In einem Fall geht er sogar davon aus, dass er absichtlich provoziert worden sei, denn der Mann habe zunächst lange mit ihm ohne Maske geredet, sie aber dann beim Gehen aufgesetzt. Außerdem: Abgewiesen habe er noch keinen Kunden, so Hengl.
Heftige Reaktion im Gespräch
Genau das bestreitet derjenige, der sich an unsere Zeitung gewandt hat, da der Werkstattbesitzer willentlich andere Menschen gefährde. "Definitiv" sei ein Kunde abgewiesen worden, "er hat seine Reifen wieder mitgenommen". Auch im Internet findet sich ein Eintrag, der Bände spricht, nämlich bei den Google-Rezensionen. Ihr Freund sei gebeten worden, "den Mund-Nasen-Schutz abzunehmen oder die Werkstatt zu verlassen", schreibt dort eine Frau. Der Eintrag ist zwei Monate alt. Als Ortsfremde, die nicht gewusst hätten, wohin sie sich sonst wenden könnten mit ihrem "Autoproblem", hätten sie ein großes Problem gehabt. "Gefährdung für Mitmenschen und eigene Personen im Straßenverkehr und der momentanen Situation. Einfach unglaublich", so der Kommentar der Beschwerdeführerin. Hengls schriftliche Antwort ist ebenso knapp wie deutlich: "Wenn ich den Planeten der Affen sehen möchte, schalte ich den Fernseher ein. Die Züchtigung von ♥♥♥en will ich nicht sehen!"
Derart heftig reagiert er im Gespräch – wenige Minuten nach der Visite der Hilpoltsteiner Polizei – nicht, im Gegenteil. Hengl wirkt reflektiert, sein Tonfall ist ruhig – doch in der Sache sieht er sich im Recht. Das sei seine Werkstatt, irgendeine Verordnung könne daran nichts ändern. Selbst Behörden und Polizei wüssten das, weshalb sie in den vergangenen Monaten nichts unternommen hätten – obwohl jeder von den Zetteln an seiner Werkstatttür gewusst habe.
Landratsamt muss Fall prüfen
Er habe kürzlich mit Hengl gesprochen, bestätigt der Gredinger Bürgermeister Manfred Preischl (FW). Und ihm mitgeteilt, dass er ihn Polizei und Gesundheitsamt melden werde; er habe ihm allerdings etwas Kulanzzeit eingeräumt. "Das hat er zur Kenntnis genommen."
Von einer Kulanz will Matthias Stößl, der neue Polizeichef in Hilpoltstein, nichts wissen. Seine Kollegen hätten die Sache mit Bildern dokumentiert, jetzt gehe alles ans Landratsamt. Dort werde geprüft, ob ein ahndungswürdiges Vergehen vorliege.
− HK
https://www.pnp.de/nachrichten/bayern/Werkstattbesitzer-verwehrt-Kunden-mit-Maske-den-Zutritt-3851098.html
Covidi0t: „Bei 999 passiert also nix!“
Coronavirus: 1000 Partikeln reichen für eine Infektion – was das für Weihnachtsfeiern bedeutet
Nur 1000 Partikeln – das klingt auf den ersten Blick nach erschreckend wenig. Aber es ist auch eine gute Nachricht, denn ein Raum muss nicht absolut virenfrei sein, damit man sich dort sicher aufhalten kann.
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Stephanie Lahrtz
26.11.2020, 15.43 Uhr
Idyllisch aber einsam (und auch recht frostig), so eine Waldweihnacht. Es muss auch in Corona-Zeiten Alternativen geben.
Wie gefährlich sind in Corona-Zeiten ein Adventsplausch oder das Weihnachtsfest mit einigen Freunden oder Verwandten – falls das überhaupt erlaubt ist? Um das beantworten oder zumindest seriös abschätzen zu können, muss man wissen, wie viele Viren eine Infektion verursachen. Reichen nämlich wie bei HIV oder dem starken Durchfall verursachenden Norovirus bereits ganz wenige Erreger, so hätte man praktisch keine Chance, nach einem Treffen mit einem unerkannten Sars-CoV-2-Träger den Esstisch gesund zu verlassen.
«Laut unseren Daten führt die Aufnahme von 1000 Virenpartikeln zu einer Infektion», sagt Andreas Bergthaler vom CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin in Wien. Allerdings sei das ein Durchschnittswert. Man habe festgestellt, dass manchmal bereits 100 Virenpartikeln ausgereicht hätten, um eine Person anzustecken. Und in seltenen Fällen kam es sogar erst durch 5000 übertragene Sars-CoV-2-Partikeln zu einer Ansteckung.
Das Wiener Team hat für seine Studie das Erbgut von Sars-CoV-2 in mehreren Paaren aus jeweils einem «Virenspender» und einem «Virenempfänger» entschlüsselt und miteinander verglichen. Ausführliche epidemiologische Untersuchungen hätten bestätigt, dass sich die jeweiligen Virenempfänger tatsächlich bei dem genannten Virenspender infiziert hätten, betont Bergthaler. Aus der Anzahl an genetischen Unterschieden habe man dann berechnet, wie viele Viren bei der Infektion übertragen worden seien.
In einer Person existiert genetisch gesehen ein bunter Strauss an sehr ähnlichen, aber eben nicht hundertprozentig identischen Viren. Denn das Virus verändert sich stetig an einigen Positionen im Genom. Wird nun eine grosse Menge an Viren für eine Infektion benötigt, so müssen sehr viele Viren von Person A auf Person B übertragen worden sein. Dann findet man in Spender und Empfänger viele nahezu identische Virengenome. Reicht hingegen nur eine Handvoll Virenpartikeln für die Infektion aus, sind im Virenempfänger nur wenige der Virenvarianten des Spenders vorhanden, die jeweils entschlüsselten Virengenome sind also sehr unterschiedlich.
Die Berechnungen anhand der Genomanalysen untermauern eine im Oktober publizierte Modellierung. Dabei kamen Forscher des Massachusetts Institute of Technology zu dem Schluss, dass 300 bis 2000 Sars-CoV-2-Partikeln für eine Infektion ausreichen. Sie hatten dafür Ansteckungen in fünf Clustern untersucht, darunter eine Chorprobe in den USA, eine Busreise in China und Aerobic-Kurse in Korea.
Dass es für eine Ansteckung eine gewisse Mindestmenge an Viren brauche, sei eine gute Nachricht, betonen beide Forscherteams. Man müsse nämlich gemäss den Daten die Virenkonzentration in einem Raum nicht auf nahezu null absenken, um sicher vor einer Ansteckung zu sein. Somit sei klar, dass man durch eine Kombination von Masken und regelmässigem Lüften – was ja alles nachweislich die Virenmenge in der Luft reduziere – für ein zumindest weitgehend sicheres Treffen sorgen könne. Wenn man die Massnahmen konsequent einhalte.
Die Studien sind aber auch eine Warnung vor ausgelassenen und maskenlosen Treffen am Esstisch, wo auch immer der steht. Denn die US-Forscher schätzen, dass pro Stunde beim Atmen 10 Virenpakete, die für eine Infektion ausreichen, ausgestossen werden, beim Sprechen hingegen 460. Beim Singen seien es sogar noch sechs Mal mehr. Dies bedeute, dass sich auch in einem grösseren, aber gut mit Personen gefüllten und zudem nicht gelüfteten Raum innert einer Stunde ausreichend Virenpartikeln verteilen würden, so dass sich dort anwesende Personen anstecken könnten – sofern sich ein Infizierter in der Gruppe befinde und ohne Mundschutz mitrede.
Aerosole im Raum
Aerosole im Raum
NZZ / lea.
Die Angst vor einer grossen und üppigen Familienweihnacht ist also berechtigt. Das MIT-Team ist sogar überzeugt, dass der Infizierte noch nicht einmal ein Superspreader sein muss. Gemäss Berechnungen sind nämlich innert einer Stunde in einem Raum auch dann ausreichend Virenpartikeln für die Infektion anderer Menschen vorhanden, wenn der Infizierte «nur» durchschnittlich viele Viren ausstösst. Vielmehr seien die Räumlichkeiten – eng, voll, schlecht gelüftet – entscheidend dafür, ob es zu einem Superspreader-Ereignis komme oder nicht.
https://www.nzz.ch/panorama/coronavirus-1000-partikel-reichen-fuer-eine-infektion-was-das-fuer-weihnachtsfeiern-bedeutet-ld.1588857
So schätzen Wissenschaftler die neuen Corona-Regeln des Bundes ein
Eher positiv sehen die Experten in unserem Überblick die Corona-Maßnahmen des Bundes.
Bei Schulen und dem Schutz älterer Menschen sehen die Wissenschaftler noch Verbesserungspotenzial.
Der größte Kritikpunkt: Die Strategie sei nicht langfristig genug.
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Sarah Franke
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26.11.2020, 17:19 Uhr
Damit die Zahlen der Corona-Infizierten weiter sinken, haben Bund und Länder sich auf eine Verlängerung des Teil-Lockdowns verständigt. Einige Maßnahmen rund um private Kontakte und Schulen wurden sogar verschärft. Was halten Virologen und andere Wissenschaftler von den neuen Corona-Regeln? Ein Überblick.
Virologe Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut
Insbesondere einen stärkeren Fokus auf den Schutz der Menschen über 70 Jahren und Bewohnern von Pflegeheimen zu legen, diesen Ansatz begrüßt der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit. „Ich glaube, man muss beides machen: Daran arbeiten, dass sich das Infektionsgeschehen insgesamt verlangsamt, aber auch die älteren Menschen besser schützen“, sagt der Experte des Bernhard-Nocht-Instituts im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Hilfreich würde er unter anderem Teststrategien finden, bei denen das gesamte Pflegepersonal zweimal wöchentlich getestet wird.
Prof. Dr. Jonas Schmidt-Chanasit. © Quelle: imago images/Future Image
Seltsam findet der Wissenschaftler jedoch, dass der Fokus so extrem auf Weihnachten liegt: „Wir brauchen eine langfristige Strategie mindestens bis Sommer 2021. Die Probleme werden uns die nächsten Monate begleiten“, sagt Schmidt-Chanasit. Gleichzeitig zeigt er sich aber verständnisvoll gegenüber Menschen, er nennt als Beispiele Demenz- oder Schwerkranke, die vielleicht dieses Jahr zum letzten Mal Heiligabend erleben. Durch Antigen- oder PCR-Tests könne in solchen Ausnahmefällen ein möglichst sicheres Fest gewährleistet werden. „Ich halte es für berechtigt, dieses technische Mittel, also die Tests, hier einzusetzen“, meint der Experte.
Drosten: Schon bei milden Erkältungssymptomen soziale Situationen meiden
Ein weiterer Punkt des Forschers: Maßnahmen sollten nicht nach ihrer Härte, sondern nach ihrer Wirksamkeit beurteilt werden. „Eine harte Maßnahme hilft nichts, wenn sie nicht in der Bevölkerung umgesetzt wird“, sagt Schmidt-Chanasit. Es solle verstärkt auf Aufklärung und Hilfe, statt Apelle gesetzt werden. Der Wissenschaftler spricht von einer Art Sozialarbeit und erinnert an das Beispiel Thailand. Dort gehen sogenannte Health Volunteers durch die Dörfer und Bezirke und bieten Informationen und Hilfe an.
Bund und Länder verschärfen angesichts der anhaltend hohen Corona-Infektionszahlen den Kurs in der Pandemie, mit Ausnahme von Weihnachten. © Reuters
Virologin Brinkmann vom Helmholtz-Institut
Aus Sicht der Virologin Melanie Brinkmann gehen die am Mittwoch beschlossenen Corona-Regeln nicht weit genug. Sie hätte sich gerade für die älteren Schüler einen Übergang zum Hybridunterricht und klarere Beschlüsse bei der Maskenpflicht gewünscht, sagte die Leiterin der Arbeitsgruppe Virale Immunmodulation am Helmholtz-Institut für Infektionsforschung am späten Mittwochabend im Deutschlandfunk.
Melanie Brinkmann, Virologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. © Quelle: Michael Sohn/POOL AP/dpa
Auch die Lockerung der Kontaktbeschränkungen an den Weihnachtstagen finde sie als Virologin nicht nachvollziehbar. „Ich glaube nicht, dass wir die Zahlen bis dahin so weit runtergedrückt haben, dass wir da entspannt sein können.“ Es sei zwar wichtig, dass Menschen an Weihnachten nicht alleine blieben. Man solle aber nur eine begrenzte Zahl von Menschen treffen und aufpassen, dass man keine älteren Menschen anstecke.
Frank Ulrich Montgomery, Präsident des Weltärztebundes
Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery ist überzeugt, dass die Pandemie in Deutschland gut ausgebremst wurde – uns aber dennoch bis Ende 2021 omnipräsent sein wird. © Quelle: dpa/RND Montage Behrens
Dass die Corona-Beschränkungen bis kurz vor Weihnachten verlängert werden, begrüßt Frank Ulrich Montgomery, Präsident des Weltärztebundes. „Ich halte die Maßnahmen im Grundsatz für richtig“, sagte er dem RND. Laxere Sonderregelungen für einzelne Bundesländer sieht er kritisch. Dass die Mindestmaßnahmen deutschlandweit einheitlich sind, hält er für sehr wichtig.
Aus medizinisch-epidemiologischer Sicht müsse man die Einschränkungen eigentlich aufrechterhalten – und zwar bis die Infektionszahlen unter dem Wert von 50 pro 100.000 Einwohnern in den vergangenen sieben Tagen liegen würden. „Aber wir müssen natürlich auch die sozialen Folgen der Einschränkungen sehen. Deshalb werden wir ein leichtes Ansteigen der Zahlen nach Weihnachten in Kauf nehmen müssen. Es geht nicht anders“, meint Montgomery.
Mathematikerin Schöbel von der Fraunhofer-Gesellschaft
Prof. Anita Schöbel, Leiterin am Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik der Fraunhofer-Gesellschaft. © Quelle: Fraunhofer ITWM
Anita Schöbel befürwortet das Beibehalten des Teil-Lockdowns. Die Leiterin am Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik der Fraunhofer-Gesellschaft gehört zu einer institutsübergreifenden Gruppe mehrerer Modellierer, die die Bundesregierung zum Infektionsgeschehen beraten. Ein Knackpunkt seien die Schulen, die offen bleiben sollen. Hybrid- und Wechselunterricht hält Schöbel für einen sehr guten Kompromiss. „Unsere Simulationen zeigen, dass Wechselunterricht bezüglich des Infektionsgeschehens fast genauso viel bringt wie Schulschließungen.“
Schöbel prognostiziert mit Blick auf die geplanten Lockerungen an Weihnachten: „Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – die von der Infektionslage vor Weihnachten abhängt – werden sich über Weihnachten Personen bei ihren Verwandten anstecken.“
Mathematiker Fuhrmann vom Forschungszentrum Jülich
SCHWERPUNKT: Verlängerung der Corona-Maßnahmen mit schärferen Kontaktbeschränkungen
26.11.2020, 15:50 Uhr
Video-Vorschaubild
ARD-Extra: Bund und Länder verhandeln über Verlängerung des Lockdowns
25.11.2020, 21:14 Uhr
Die Gefahr vieler kleiner Superspreading-Events sieht auch Jan Fuhrmann, Mathematiker am Forschungszentrum Jülich. Es könne sein, dass es gerade über die Feiertage wieder zu mehr Infektionen kommt. Wenn aber alle freiwillig im Privaten Abstand halten, nur im kleinen Kreis feiern und regelmäßig lüften, könnte der befürchtete Anstieg der Fallzahlen im Januar auch ausbleiben.
https://www.rnd.de/gesundheit/neuen-corona-regeln-so-schatzen-wissenschaftler-die-neuen-massnahmen-ein-27OMJKVNG5EQBKLFVIHYIG2YGM.html
Jan Söffner sucht für die NZZ Querdenker im Mittellater, unetr besonderer Berücksichtigung der Geißler (heftige Abwehrreaktionen in den FB-Kommentaren):
Auch das Mittelalter kannte Querdenker. Heutige Bewegungen sind ihnen verblüffend ähnlich
Sie stellten die Autoritäten ihrer Zeit infrage und präsentierten sich als letzte Verfechter der wichtigsten Werte: Zur Zeit der Pest sorgten fanatische Christen für Aufsehen. Die verhältnismässig milde Corona-Pandemie vermag ähnlich heftige Erregungszustände auszulösen: Was sagt das über unsere Gesellschaft?
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Jan Söffner
26.11.2020, 05.30 Uhr
Teilnehmer der Querdenken-Demo demonstrieren am 11. November kostümiert in Köln.
Die Pest war schon auf ihrem Weg über die Alpen, und die Menschen im heutigen Österreich und Ungarn wussten es. Zu dieser Zeit, in der Mitte des 14. Jahrhunderts, begann eine neue Bewegung. Wer sich ihr anschloss, verabschiedete sich von seiner Familie, bekannte öffentlich, allen weltlichen Zwist hinter sich zu lassen und alles erfahrene Unrecht zu vergeben, schloss sich mit Gleichgesinnten zusammen, nahm genug Geld mit, um nicht betteln zu müssen, und begab sich für 33½ Tage auf Wanderschaft, wobei er sich selbst den Rücken mit einer Peitsche zerfleischte.
Die Flagellanten (von lateinisch «flagellum» für Peitsche) wanderten der Pest voraus. Und überall, wo die Krankheit hinkam, flossen der Bewegung neue Büsser zu. So wuchs sie schnell stark an, spaltete sich auf und führte ihre Pilger aus Österreich und Ungarn kreuz und quer durch das heutige Deutschland bis nach Belgien und in die Niederlande und schliesslich auch nach Frankreich und England. Dabei wurden die Flagellanten von der Seuche eingeholt, was der Bewegung aber keinen Abbruch tat.
Hätte man gefragt, warum Menschen aus allen Ständen und mit unterschiedlichster Gesinnung sich dieser eigenwilligen Bewegung anschlossen, hätte man sehr verschiedene Antworten bekommen. Die Flagellanten verfügten zwar über einen sie legitimierenden und oft kopierten «Himmelsbrief» (ein von Gott selbst verfasstes Sendschreiben) aus dem 13. Jahrhundert, denn um 1260 waren in Italien schon einmal Geisslerzüge unterwegs gewesen. Doch offenbar bezog sich die neue Bewegung nur lose darauf.
Predigten gab es viele, aber eine ideologische Grundlage hatte die Bewegung kaum. Es gab zwar Anklänge an die millenarische (die Apokalypse voraussagende) Bewegung, diese waren jedoch nicht übermässig stark ausgeprägt; umgekehrt wurden auch die Flagellanten selbst von millenarischen Gegnern als Vorzeichen der Apokalypse interpretiert.
Auch ist unklar, wie häretisch die Bewegung war. Die theologischen Positionen waren aber offenbar viel zu inkohärent und willkürlich, als dass sie von kirchlicher Seite überhaupt diskutiert worden wären. Es schlossen sich allerdings Kleriker der Bewegung an, die dann ihren Mitflagellanten die Beichte abnahmen (was Teil des flagellantischen Rituals war). Über diese praktische Häresie entbrannte allmählich ein Streit mit der Kirche – deren Glocken anfangs noch bei jedem Einzug der Flagellanten in eine Stadt geläutet hatten.
Es scheinen Verschwörungstheorien innerhalb der Bewegung kursiert zu sein, denn an manchen Orten schlug die von Flagellanten aufgeheizte Stimmung in antisemitische Pogrome um. Aber es ist schwer zu sagen, welchen Anteil die Flagellanten wirklich daran hatten. Wenn eine gemeinsame Haltung sie verband, dann lag sie in keinem Glauben, sondern nur in einem Unglauben begründet: in einer Glaubensverweigerung gegenüber den geistlichen und weltlichen Autoritäten. Wichtiger für ihre Einigkeit war aber wohl der Umstand, dass sie sich gemeinsam auspeitschten – und dass sie dabei eine enorme Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Sich von dunklen Mächten reinigen
Von dieser Zeit trennen uns kulturelle Gräben, die selbst für Historiker schwer zu überwinden sind. Doch liess sich in den letzten Monaten eine merkwürdige Erfahrung machen, nämlich diejenige, dass fremde, unverständliche Dinge aus anderen Seuchenzeiten auf einmal zu uns zu sprechen schienen.
Und so springen, wenn man heute einen Blick auf diese Bewegung wirft, auch die Parallelen zwischen Flagellanten und der Querdenken-Bewegung in Deutschland und anderen analogen Bewegungen weltweit ins Auge: die Ablehnung des «Mainstreams» und der Institutionen, die Unwichtigkeit gemeinsamer Ziele oder ideologischer Referenzpunkte und die Konfusion über sie, das Selbstverständnis als Wahrer der eigentlichen Werte (Christentum oder Grundgesetz), die Erzeugung von Aufmerksamkeit und die Nähe zu Verschwörungs- und das heisst Empörungstheorien.
Die Praxis der Selbstauspeitschung mag zwar auf den ersten Blick ganz und gar nicht ins heutige Bild passen und uns absolut fremd erscheinen. Aber wenn man das Auspeitschen gemäss den kulturhistorischen Überlegungen des Mediävisten Niklaus Largier vornehmlich als Erregungspraxis versteht, zeigen sich auch hierin Parallelen zur Querdenken-Bewegung. Diese zeichnet sich durch eine mediale Form der Selbst-Erregung aus und sucht sich, ähnlich wie die Flagellanten, dabei von den dunklen Mächten zu reinigen, denen sie sich ausgeliefert glaubt.
Bedenkt man dann noch den Umstand, dass die Büsser-Tradition der Selbstauspeitschung eine Kur gegen die Todsünde der Melancholie darstellte, dann wird nicht nur verständlich, warum die Selbstgeisselung auch eine Reaktion auf Angst und Depression in der Pestzeit war. Es ergibt sich daraus auch eine weitere Parallele zur heutigen Erregung als Antwort auf die psychisch schwierige Lage, die aus der Pandemie und den Gegenmassnahmen resultiert. Und auch eine Form des analogischen Denkens ist ähnlich: Die Geisselung erfolgte als Reaktion auf die Gottes-«Geissel» Pest, während heute mit viralen Medienereignissen auf ein Virus reagiert wird.
Gewiss: Wer einen Hammer hat, sieht die Welt voller Nägel, und wer solche Parallelen sucht, wird sie überall finden. Es geht mir auch nicht um eine Gleichsetzung, nicht einmal einen Vergleich der Bewegungen im eigentlichen Sinne. Vielmehr geht es mir um den Hintergrund, der solche Ähnlichkeiten hervorbringt.
So fügt sich die beschriebene Ähnlichkeit in eine lange Reihe anderer historisch bezeugter Reaktionen auf Epidemien, die ebenfalls in sehr unterschiedlichen Kulturen (und auf sehr unterschiedliche Weise) beobachtbar sind und alle als mannigfaltige Antworten auf ein und dasselbe psychosoziale Kollektivproblem zu beschreiben sind: demjenigen einer kollektiven Angst, einer kollektiven Ohnmacht und eines kollektiven Sinnverlusts. Das heisst: Es handelt sich um gesellschaftliches Leiden, das ein nicht allzu variables Repertoire an kulturellen Immunreaktionen hervorbringt.
Es braucht heute wenig
Das hört sich nach einer Binsenweisheit an – und es ist auch eine: Selbstverständlich lösen Epidemien Angst aus (denn zumindest das Gerücht ist eigentlich immer schneller als die Infektion). Selbstverständlich gehen sie mit menschlicher Ohnmacht einher (sonst würden sie ja gar nicht erst zu Epidemien).
Und ebenso selbstverständlich zerstören sie kulturelle und soziale Sinnzusammenhänge: Sie treiben Gemeinschaften auseinander, verhindern Rituale (vor allem Bestattungen, Gottes- oder Götterdienste und Feste), sie heben die Ordnung des Alltags aus den Fugen durch die krisenhafte Unruhe, durch die Gegenmassnahmen oder auch durch den Zusammenbruch staatlicher, ökonomischer und religiöser Institutionen. Und schliesslich zerstören sie soziale und kulturelle Hierarchien und damit bekannte Ordnungen und Werte, da die Erreger vor ihnen keinen Halt machen.
Die sinnvolle Ordnung der Welt, in der man sich eingerichtet hatte, bricht sowohl in ihrer Alltäglichkeit und Gewohnheit als auch in ihrer Struktur und in ihrer Ideologie zusammen. Nicht einmal die Lebensgrundlage ist sicher. Zurück bleibt ein Gemisch aus kollektiver Melancholie und Machtlosigkeit, eine kollektive Depression, die für viele unerträglich ist. So unerträglich, dass sie den Sinn ihres Lebens neu zu organisieren versuchen in Form eines offensiven Hedonismus, kollektiv zelebrierter Rituale oder aber politischer Empörung: Verschwörungstheorien und die Anklage (vermeintlich) Schuldiger, Pogrome, Lynchjustiz – oder eben eine reinigende Erregung.
Nun ist die vielleicht bedenklichste Tatsache an der Corona-Pandemie, dass sie solche Reaktionen überhaupt jetzt schon auslöst – obwohl ihre medizinischen Dimensionen im historischen Vergleich eher unbedeutend sind. Um eine Bewegung wie die Flagellanten hervorzubringen, musste die Pest von 1348/49 die Hälfte der Gesamtbevölkerung töten und somit fast jegliche gesellschaftliche und kulturelle Ordnung zusammenbrechen lassen. Sind unsere Organismen, von moderner Medizin beflügelt, im Vergleich eigentlich recht gut gerüstet, erweist die Corona-Pandemie die Gesellschaften unserer Zeit als erstaunlich anfällig.
Wie sollen Demokratien reagieren?
Die Gründe dafür sind wohl vielschichtig. Da ist die mediale Vernetztheit und die neue Macht sozialer Netzwerke; da ist das im Vergleich zu anderen Epochen und Kulturen extrem angewachsene Sicherheitsbedürfnis; da sind die ausgetüftelten epidemiologischen Massnahmen, die Menschen bereits isolieren und damit tendenziell in einen Zustand grosser Angst und Sinnlosigkeit bringen, wo ältere Kulturen kaum reagiert hätten. Und da ist die extreme Relevanz, die man der Pandemie zuschreibt.
Auch hierzu ein Vergleich: Die Spanische Grippe, die mehr Todesopfer forderte als der Erste Weltkrieg, wurde von den Zeitgenossen kaum für ähnlich wichtig gehalten; vor den Corona geschuldeten Rückblicken der letzten Monate war sie aus dem kollektiven Gedächtnis fast verschwunden. Die gegenwärtige Angst- Ohnmachts- und Sinnlosigkeitserfahrung scheint im Vergleich übermässig, und sie beschert uns Bewegungen, die darauf äusserst empfindlich mit Erregung, Empörung und Ablehnung der gesellschaftlichen Autoritäten reagieren.
Für die gegenwärtigen Demokratien sind solche Bewegungen nicht minder unangenehm als seinerzeit die Flagellanten für die mittelalterliche Kirche. Dies vor allem, weil solche Bewegungen auf unmittelbare affektive und Aufmerksamkeit bündelnde Resonanz setzen, die sie den politischen Repräsentationsansprüchen der Institutionen entgegenstellen (im Mittelalter der Vertretung des Reiches Gottes auf Erden – heute der Repräsentation des Volkes durch seine gewählten Vertreter).
Dies ist heute wie damals ein «populistisches» Verfahren, und die spezifische Spielart ist insofern heikel, als beide Bewegungen dem Selbstverständnis nach im Geiste dessen agieren, was die Institutionen ihrer Meinung nach hätten vertreten sollen. Damals führte die extreme Religiosität und Bussfertigkeit über die Aneignung der Beichte und der Absolution in einen Zustand, der die Erregung und kollektive Körperlichkeit an die Stelle der Institution Kirche zu setzen versuchte. Heute erfolgt die Berufung auf das Grundgesetz und die Nutzung der Demonstrationsfreiheit im Rahmen einer Ordnung, in der die gewählten Vertreter gegenüber dem auf der Strasse verkörperten Erregungszustand als Usurpatoren dastehen sollen.
Im 14. Jahrhundert sah sich die Kirche, obwohl sie im Angesicht der Pest vielleicht Wichtigeres zu tun gehabt hätte, schliesslich zum Einlenken gezwungen. Papst Clemens VI. erliess eine Bulle, die die Flagellanten verbot. Als wirksam erwies sie sich kaum – anders als die von den von Bürgern verhängte Schliessung der Stadttore, die den Flagellanten ihren Resonanzraum nahm. Doch die Bewegung ging weiter.
Die gegenwärtigen Regierungen tun gut daran, auf die kollektive Erregung wesentlich gelassener zu reagieren. Stellen wir Demokraten uns aber besser auf eine Zeit ein, in der unsere Demokratien dauerhaft herausgefordert werden. Es könnte ihnen vielleicht sogar guttun.
Jan Söffner ist Professor für Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen.
https://www.nzz.ch/feuilleton/coronavirus-auch-das-mittelalter-kannte-querdenker-bewegungen-ld.1588464