"Für so was braucht man Waffen"
Wie kam es dazu, dass Extremisten und Mitläufer die Reichstagstreppe besetzten? Chats in Messenger-Kanälen zeigen, dass die Idee schon lange in Umlauf war und wie die Umsetzung vorbereitet wurde.
(Eine Rekonstruktion von Maik Baumgärtner, Andreas Flammang, Matthias Gebauer, Roman Höfner, Roman Lehberger, Ann-Katrin Müller, Sven Röbel und Wolf Weidmann-Schmidt; Der Spiegel)
Tamara Kirschbaum steht auf der Bühne vor dem Reichstagsgebäude, sie atmet heftig ins Mikrofon, es ist Samstagabend, kurz nach 19 Uhr. "Wir gehen da drauf und holen uns heute hier und jetzt unser Haus zurück!", ruft Kirschbaum. Und kurze Zeit später: "Wir haben gewonnen!"
Es ist ein entscheidender Moment, festgehalten auf vielen Handyvideos, diese wenigen Minuten vor dem Reichstagsgebäude, ein Moment, der unschöne Bilder produziert, die um die Welt gehen werden. Den ganzen Tag haben an diesem Samstag Menschen in Berlin gegen die Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie demonstriert, eine wilde Mixtur aus Mittelschichtsbürgern, Esoterikern, Impfgegnern, Verschwörungsideologen und Rechtsextremisten. Doch was nach diesem Tag bleiben wird, sind die Bilder von bis zu 400 Menschen, die plötzlich auf der Treppe des Reichstagsgebäudes stehen, allen Absperrungen zum Trotz, mit Fahnen in den Händen, viele in den Farben des Deutschen Reichs, Schwarz-Weiß-Rot.
Die schwarz-weiß-rote Reichsflagge weht vor dem Reichstag
Man wird später auch auf verwackelten Bildern sehen, wie drei Polizisten mit ganzem Körpereinsatz versuchen, die Eingänge zum Bundestag vor Eindringlingen zu schützen, mit Erfolg, keiner gelangte ins Gebäude hinein. Die Polizisten werden später vom Bundespräsidenten für ihren Einsatz geehrt.
"Als Historiker schaudert es mich, wenn ich sehe, dass dort Menschen mit Reichsflaggen stehen", sagt der emeritierte Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, Bernd Roeck. "Der Reichstag ist eine der Geburtsstellen der deutschen Demokratie." Philipp Scheidemann rief hier am 9. November 1918 die Republik aus, 1933 wurde das Gebäude in Brand gesteckt. 1945 eroberte die Rote Armee den durch den Krieg beschädigten Bau, es markierte das Ende des "Dritten Reichs". 54 Jahre später zog das Parlament eines wiedervereinigten Deutschlands in das Reichstagsgebäude ein, das bis heute Heimat des Deutschen Bundestags ist. Und jetzt ist er für wenige Minuten zur Bühne von Systemfeinden und Verschwörungsideologen geworden, die selbst zunächst perplex wirkten, was ihnen da gelungen war.
Wie aber konnte es zu dieser Inszenierung kommen? War es eine spontane Aktion oder ein lang gehegter Plan? Aufschluss geben Videos, Chatauswertungen, Beobachtungen und interne Behördendokumente.
Montag, 15. Juni 2020
In der Chatgruppe von Attila Hildmann, jenem veganen Showkoch, der zu einem der prominentesten Gegner der deutschen Coronapolitik geworden ist und in den vergangenen Monaten rechtsextreme Verschwörungsmythen verbreitete, formuliert "Beate C" eine Idee, nicht immer nach den Regeln deutscher Grammatik: "Wir müssten alle zusammen nicht einzeln in Städte demonstrieren sondern alle zusammentrommeln und ab nach Berlin und den Reichstag besetzen solang bis sie aufgeben."
Solche Nachrichten finden sich immer wieder in Telegram-Gruppen von Verschwörungsideologen und Corona-Leugnern, auch Gewalt- und Umsturzfantasien sind dabei. Sechs Tage später etwa fordert ein User namens "pórrs reka": "Wir MÜSSEN den Reichstag besetzen." Und, offenbar gemünzt auf Kanzlerin Angela Merkel und die Bundestagsabgeordneten: "Das Ferkel und sämtliche Schweine werden auf die Straße gezerrt und gelyncht."
Montag, 24. August 2020
Obwohl Deutschland längst aus dem strengen Lockdown wieder heraus ist und sich seit Wochen in vielen Bereichen das Leben trotz Pandemie wieder zu normalisieren beginnt, ist die Stimmung in den Chatgruppen der Corona-Skeptiker nicht entspannt, im Gegenteil: In Hildmanns Gruppe schreibt "Balex Law" um 18.14 Uhr: "Kanzleramt/Reichstag und diese ♥♥♥ dort drinen aufhängen, wenns nach mir gehen würde". 24 Minuten später fügt er an: "zum Thema Reichstag/Kanzleramt Stürmen ``für sowas braucht man waffen, oder die Bundeswehr/Polizei auf seiner seite.." Einen Tag später schreibt "Andy": "eigentlich bin ich nicht der Mensch der gewalttätig ist", aber: "wir müssten Galgen Bäume hinstellen vor dem Reichstag und jeden einzelnen aufhängen".
Dienstag, 25. August 2020
In dem Telegram-Kanal "Verschwörungen" landet um 16.21 Uhr eine Art von Anleitung für die Demonstration am Samstag. Als Aufmarschziele werden die Botschaften der USA und Russlands angegeben, die Straße des 17. Juni - und als "wichtigste Adresse: vor dem Reichstag". Dazu 15 "Regeln", unter anderem, dass Fahnen des Deutschen Reichs, der USA und Russland mitgebracht werden sollen, außerdem Transparente mit der Aufschrift "Friedensvertrag JETZT!!!" Es sind die verbalen Vorboten dessen, was tatsächlich folgen wird: Mit genau diesen Fahnen und Transparenten werden die Menschen vier Tage später auf der Treppe des Reichstagsgebäudes demonstrieren.
Mittwoch, 26. August 2020
Der "rbb" veröffentlicht abends Auszüge aus einem Interview mit dem Verfassungsschutzpräsidenten Thomas Haldenwang. Rechtsextreme Parteien hätten in den vergangenen Monaten immer wieder versucht, sich an die Spitze der Protestbewegung zu setzen, hätten auch intensiv für die Teilnahme an diesen Demonstrationen geworben, sagt er. Nach der Wahrnehmung des Verfassungsschutzes seien diese Versuche aber "nicht besonders effektiv". Den Rechtsextremisten sei es nicht gelungen, die "Hoheit über das Demonstrationsgeschehen zu bekommen".
Samstag, 29. August 2020, 12.30 Uhr
Es ist der Tag der Demonstrationen, mehrere Veranstaltungen gegen die Corona-Politik der Bundesregierung sind geplant, das Bündnis "Querdenken 711" verantwortet den größten Protestzug. Zunächst hatte die Berliner Versammlungsbehörde die Demo verboten, die Verwaltungsgerichte aber haben das Verbot wieder aufgehoben.
Nun demonstrieren Zehntausende von der Friedrichstraße über die Straße "Unter den Linden" bis zur Siegessäule auf der Straße des 17. Juni größtenteils friedlich. Vor dem Reichstagsgebäude versammeln sich zur selben Zeit mehr als hundert Menschen, sie halten Reichsfahnen in die Luft, eine russische flattert auch im Wind, hinten rechts stehen Reichsbürger, also Menschen, die die Bundesrepublik Deutschland als Staat nicht anerkennen.
Vor jener Bühne, die später noch wichtig werden wird, spricht Rüdiger Hoffmann vom "Sturm auf den Reichstag".
Hoffmann ist Präsident des Berliner Vereins "Staatenlos", der die Demo hier angemeldet hat. Die Vereinsmitglieder halten die Bundesrepublik für ein illegales Geschäftskonstrukt und treten für die "Wiederherstellung einer wahren Zeitrechnung" ein.
Hoffmann ist 52 Jahre alt, hieß früher Rüdiger Klasen und war Funktionär der rechtsextremen NPD. Im Dezember 1994 verurteilte ihn das Landgericht Schwerin nach einem Angriff auf ein Asylbewerberheim in Bahlen zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe - wegen versuchten Mordes und schweren Landfriedensbruchs. Nach Überzeugung der Richter hatte er sich maßgeblich an der Organisation des Anschlags beteiligt.
"Staatenlos"-Initiator Hoffmann: "Lasst euch nicht abhalten, von Sperren, von Gläsern, von Drähten, von Zäunen!"
Seit 2013 tauchten Hoffmann und seine "Staatenlos"-Truppe immer wieder vor dem Reichstagsgebäude auf, seine Demos hat er stets angemeldet. Er rief nicht nur einmal dazu auf, das Parlament in Besitz zu nehmen. "Wir wollen da rein, die deutschen Völker wollen da rein, um endlich Frieden, Wohlstand und Zukunft für alle zu schaffen", forderte Hoffmann bereits 2014, man kann es auf einem YouTube-Video sehen. Im Jahr darauf rief er zur Besetzung des Vorplatzes des Reichstagsgebäudes auf: "Wir müssen den Platz der Republik füllen, eine Woche lang. Und dann geht das Regime." Im Dezember 2018 schließlich marschierte Hoffmann, ausgestattet mit gelber Warnweste, schwarzem Dreispitz-Hut und französischer Trikolore vor die Absperrung an der Treppe des Reichstagsgebäudes und brüllte vor rund 40 Anhängern in Richtung Parlament: "Raus da, raus! Das ist unser Haus! Das gehört uns, nicht euch!" Dazu ließ er die Marseillaise abspielen.
An diesem Samstag fordert Hoffmann die Zuhörer auf: "Lasset euch nicht abhalten, von Sperren, von Gläsern, von Drähten, von Zäunen!" Und: "Für Freiheit und Frieden" würde man auch sein Leben in die Waagschale werfen.
Die Polizei kümmert sich nicht um Hoffmann, sondern um die, die hinter der Absperrung auf der Wiese sitzen. Um 12.45 Uhr rückt ein Kommunikationsteam der Polizei in gelben Westen an. Die fünf Beamten reden auf vier Erwachsene mit zwei Kindern und einen Mann ein. Doch die wollen ihren Mini-Sitzprotest nicht aufgeben.
Samstag, 29. August, 15.45 Uhr
Vor der russischen Botschaft haben sich rechte Gruppen versammelt, dazu QAnon-Verschwörungsideologen und Putin-Freunde, die Stimmung ist aggressiv. Als die Polizei eintrifft, wird sie belagert, Flaschen und Steine fliegen. Einzelne Personen werden in Gewahrsam genommen. Um 16.16 Uhr stellt sich eine 20-köpfige Polizeieinheit mitten in die Menge und bringt sie so auseinander. "Schließt euch an", skandieren die Umstehenden, und "Putin, Putin". Ein Mann mit Tattoos schreit die Polizisten an: "Alles, was ihr tut, könnt ihr nur noch, weil wir es euch erlauben. Bastarde!"
Koch Hildmann: "Reißt die Gitter weg"
Auch am Reichstagsgebäude wird es zum ersten Mal hitzig. Attila Hildmann ist mit einem Tross von Anhängern zum Platz der Republik gelaufen. Eine Gruppe von 50 Demonstranten reißt Absperrgitter um und schafft es auf die Wiese, andere folgen ihnen. Um 16.11 Uhr beginnt Hildmann seine Rede, wettert von der Bühne gegen die "Corona-Diktatur", ruft: "Reißt die Gitter weg", und fordert von der Polizei: "Schließt euch uns an!" Eine Festnahme auf der Bühne beendet seine Rede ungeplant.
Die Polizei setzt Reizgas und Hunde gegen die mehr als hundert Menschen auf der Wiese ein, auch die Rasensprenger werden angeworfen. Schließlich beruhigt sich die Lage. Um 16.37 Uhr geht Hildmann noch einmal auf die Bühne, spricht von "Lügenpresse" und nennt alle Anwesenden "Helden", die "Weltgeschichte" schreiben. Er fordert die Polizei auf, die "Gitter" zu öffnen, damit man endlich zu dem Gebäude kommen könne, "was dem deutschen Volke gewidmet ist". Er zeigt auf den Bundestag hinter sich. Die Zuhörenden rufen mit ihm: "Öffnet die Tore!"
Samstag, 29. August, 18.45 Uhr
Hunderte Demonstranten drängen von der Straße des 17. Juni über den Tiergarten zur Scheidemannstraße, die südlich am Reichstagsgebäude vorbeiführt. Viele wählen einen kleinen Fußweg durch den Park, vorbei am Denkmal für die von Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma. Manche marschieren mitten durch die Gedenkstätte.
Die Berliner Polizei hält später in einem Bericht fest, dass sich der Druck auf die Absperrungen auf dieser Seite des Bundestags stark erhöht habe. Immer wieder hätten Demonstranten versucht, die Gitter auseinanderzureißen, um zum Parlament zu gelangen. Die Polizei trifft eine Entscheidung, die Folgen hat: Sie verlagert den Großteil ihrer insgesamt 250 Kräfte im Regierungsviertel zur Scheidemannstraße. So sollen die Absperrungen auf der Südseite des Reichstagsgebäudes dicht gehalten werden, was nur in Teilen gelingt. Selbst von den aufgereihten Polizeiautos lässt sich die Menge nicht mehr abhalten. Die Zahl der Demonstranten am Bundestag ist inzwischen auf 2000 angewachsen.
Demonstranten am Reichstag
Tamara Kirschbaum steht auf der Bühne vor dem Reichstagsgebäude. Sie trägt ein T-Shirt mit Symbolen der Verschwörungsideologie QAnon und sagt: "So, Leute! Wir schreiben heute hier in Berlin Weltgeschichte!" Bis zu 400 Menschen hören ihr zu. "Guckt euch um!" Die Polizei habe ihre Helme abgesetzt, vor dem Bundestag stünden keine Beamten mehr, sagt sie - und dann, allen Ernstes: "Trump ist in Berlin! Die ganze Botschaft ist hermetisch abgeriegelt." Applaus brandet auf.
"Wir gehen da drauf und holen uns heute hier ab jetzt unser Haus zurück!", sagt die Frau am Mikrofon. Friedlich solle man sich auf die Treppe setzen, um dem US-Präsidenten Donald Trump zu zeigen, "dass wir den Weltfrieden wollen und dass wir die Schnauze gestrichen voll haben!" Schließlich ein Schlussschrei: "Wir haben gewonnen!" Wieder Jubel, Menschen umarmen sich. Andere hinter der Bühne beginnen, auf den Bundestag zuzulaufen, als die Zuhörer davor das mitbekommen, eilen sie hinterher.
Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen zählt Tamara Kirschbaum zur Reichsbürgerszene. Im Netz firmiert sie als "freie Mitarbeiterin" von "Qlobal-Change". Das Portal verbreitet über einen eigenen Blog, YouTube- und Telegram-Kanal die kruden Theorien der sogenannten QAnon-Bewegung, zu denen zum Beispiel gehört, dass sich eine Politikerelite verschworen habe, Kinder missbrauche und deren Blut trinke. Kirschbaum spricht von sich selbst als "der Stimme" des "X22 Report", einer internationalen "Daily Show" rund um QAnon-Themen, die auch ins Deutsche übersetzt wird.
Laut Einträgen in Gesundheitsportalen arbeitet Kirschbaum als Heilpraktikerin im Raum Aachen. Nach Recherchen des antifaschistischen Aachener Bündnisses "Demokratie leben" war sie im vergangenen Jahr bei einer örtlichen Gruppe der "Gelbwesten" aktiv, die von extrem Rechten, Antisemiten und AfD-Anhängern durchsetzt war. Sie meldete auch eine Demo für diese Gruppe an.
Samstag, 29. August, 19.06 Uhr
Demonstranten überrennen die Polizeilinie und die Absperrgitter und laufen auf die Treppe des Reichstagsgebäudes, auch von der anderen Seite steigen Menschen über die Gitter. Plötzlich stehen bis zu 400 Männer und Frauen vor den Glasscheiben des Bundestags, nur drei Polizisten stehen in diesem Moment dazwischen. Zwei Beamte schwingen ihre Schlagstöcke, um die Menge zurückzudrängen, ein Beamter, ohne Helm, schreit: "Runter, ihr geht jetzt runter!"
Die Absperrungen sind überrannt, Polizisten machen sich bereit zum Einsatz
Auf den Stufen jubeln die Protestierenden, Handys werden in die Luft gehalten, um den historischen Moment einzufangen. Neben erkennbaren QAnon-Anhängern, Reichsbürgern und Rechtsextremisten ist im Tross der Stürmer auch ein Mitarbeiter des AfD-Bundestagsabgeordneten Ulrich Oehme aus Sachsen dabei. Der bärtige Mann, selbst AfD-Mitglied, kennt sich auch sonst mit Rechtsextremisten aus: In der Vergangenheit nahm er nicht nur an einem Neonazi-Aufmarsch teil, er war auch in einer asylfeindlichen Gruppe aktiv und war Ordner bei dem sogenannten rechtsextremen "Trauermarsch" in Chemnitz, bei dem es Ausschreitungen gab, nachdem in der Stadt ein Chemnitzer von einem Syrer tödlich verletzt worden war.
Auch ein Mitglied der "Jungen Alternative", der Jugendorganisation der AfD, ist in vorderster Reihe die Treppen mit hinaufgestürmt - und heizt jetzt die Menge an. Später wird der junge Mann aus der JA austreten, um Schaden von ihr zu nehmen, wie es heißen wird.
Zur Gesellschaft der rechten Revolutionäre vor den Türen des Bundestags gehört auch Nikolai Nerling, ein Holocaust-Leugner, besser bekannt unter dem Namen "Volkslehrer". Der vor allem durch YouTube bekannte Mann wuchs in den vergangenen Jahren zu einer Ikone der Reichsbürgerszene heran und war von Anfang an bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen dabei. Stephan Bergmann, Pressesprecher vom Veranstalter der Hauptdemonstration "Querdenken 711", der immer wieder betont, man habe mit Rassismus oder Antisemitismus nichts zu tun, wurde einmal gefilmt, wie er Nerling herzlich umarmt. Ein anderes Mal nahm er ihn in einem Interview in Schutz.
Auf den Stufen stehen außerdem die "Corona-Rebellen Düsseldorf", gut identifizierbar durch ihr schwarz-weiß-rotes Plakat. Sie sind seit dem Vormittag an verschiedenen Orten der Demonstration unterwegs, laut, pöbelnd, betrunken, am Ende sind sie im richtigen Moment am rechten Ort.
In der Telegram-Gruppe der "Corona-Rebellen Düsseldorf" herrscht nach den Geschehnissen vom Samstag offenkundig innerer Kriegszustand. Der Nutzer "Regimekritik" schreibt am Sonntag um 21.02 Uhr: "Wenn Ihr Polizisten in der Nachbarschaft habt: Gebt ihre Adressen weiter. Wenn Ihr Händler seid: Gebt Ihnen Hausverbot (…) Ächtet sie, werft sie aus allen Vereinen (…) Macht auf privater Ebene maximalen Druck auf die uniformierten Schergen des Unrechtsstaates!" Für die "Schergen des alten Systems" wünscht sich der Schreiber zehn Minuten später ein blutiges Ende: "Das Volk soll sie aus ihren Wohnungen herauszerren und Gerechtigkeit walten lassen." Was der selbst ernannte Kritiker damit meinen könnte, offenbart er 40 Minuten später in einem weiteren Posting: "Wann greift die Bundeswehr ein und schießt diese Drecksbullen zu Klump?"
Samstag, 29. August, 19.08 Uhr
Die 3. Einsatzhundertschaft aus Cottbus steht ein ganzes Stück rechts von der Bühne, in Richtung Pariser Platz. Sie soll gerade abgelöst werden, als ihr Hundertschaftsführer bemerkt, dass in seiner Nähe Demonstranten die Absperrgitter überrennen und auf das Reichstagsgebäude vorrücken.
Der Beamte, ein erfahrener Polizeihauptkommissar, entscheidet sich, sofort einzugreifen und all seine Kräfte zur Treppe zu schicken. Ein bis zwei Minuten später erreichen drei Züge der Cottbuser Einsatzhundertschaft die Stufen, bilden Ketten und drängen die Demonstrierenden mit Schlagstöcken und Pfefferspray zurück. Einige aus der Menge flüchten, andere wehren sich, schubsen Polizisten, sprühen selbst mit Tränengas. Andere skandieren: "Volksverräter", "haut ab", "Widerstand".
Samstag, 29. August, 19.19 Uhr
Die Treppe ist geräumt, etwas später verkündet die Polizei über Lautsprecher die Auflösung der Versammlung auf dem Platz der Republik: "Achtung, Achtung. Es erfolgt eine Durchsage der Polizei. Diese Demonstration wird wegen Unfriedlichkeit aufgelöst." Doch die Menge denkt nicht daran, einfach zu gehen. Die Polizei muss eine lange Kette bilden, auf der Paul-Löbe-Allee stehen außerdem zwei Wasserwerfer, doch sie werden nicht eingesetzt. Schließlich hat die Polizei ein großes "L" vor dem Reichstagsgebäude gebildet. Die Beamten tragen Helm, gehen in langsamen Schritten auf die Demonstranten zu und schieben die Gruppe in Richtung Scheidemannstraße. Erst kurz vor 20 Uhr ist der Platz vor dem Bundestag wieder frei. Was bleibt, sind die Bilder eines rechtsradikalen Mobs auf den Stufen des Reichstagsgebäudes, über ihm der Schriftzug "Dem deutschen Volke".
Zugriff durch die Polizei: 316 "freiheitsentziehende oder einschränkende Maßnahmen"
Sonntag, 30. August
Laut Lagebericht des Bundesinnenministeriums hat es an dem Wochenende insgesamt 316 "freiheitsentziehende oder einschränkende Maßnahmen" gegeben. 131 Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet, 33 Polizisten wurden bei den Einsätzen am Wochenende verletzt.
Der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider startet eine Debatte über die Sicherheitsvorkehrungen am Bundestag und twittert: "Ich werde morgen eine Sondersitzung des Ältestenrates beantragen, um die Pläne zur Errichtung einer Sicherheitszone zu überprüfen und für eine schnelle Umsetzung zu sorgen."
Montag, 31. August
Grünenchef Robert Habeck wirbt ebenfalls für einen besseren Schutz des Bundestags, warnt aber vor einer Verbarrikadierung. Und er fragt: "Die politischen Erkenntnisse waren ja offensichtlich da. Warum wurde dann die Polizei so überrascht?"
"Natürlich beschämen mich diese Bilder. Und natürlich hätte ich sie gerne verhindert", sagte der Einsatzleiter der Berliner Polizei im Innenausschuss. Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagt: "Da hilft kein Drumrumreden, ich bedauere zutiefst, dass solche Bilder entstehen konnten."
Im Schloss Bellevue ehrt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die drei Polizisten, die den Eingang des Bundestags verteidigt haben. Er dankt der Polizei für ihren Einsatz. "Unsere Demokratie lebt - und kann sich ihrer Feinde erwehren", sagte er. Aber er mahnt: "Wer auf den Straßen den Schulterschluss mit Rechtsextremisten sucht, aber auch wer gleichgültig neben Neonazis, Fremdenfeinden und Antisemiten herläuft, wer sich nicht eindeutig und aktiv abgrenzt, macht sich mit ihnen gemein."
Dienstag, 1. September
Die CDU fordert härtere Strafen für Angriffe auf Polizisten – und mehr Befugnisse bei der Vorratsdatenspeicherung. Und Unionsfraktionsvize Thorsten Frei sagt der "Passauer Neuen Presse": "Wir müssen dringend handeln. Das sind Verfassungsfeinde". Das dürfe man nicht auf die leichte Schulter nehmen. "Wir müssen in aller Deutlichkeit demonstrieren, dass unsere Demokratie wehrhaft ist." Verfassungsschutzchef Haldenwang attestiert den Protesten im Nachgang doch "eine starke rechtsextremistische Komponente, die aggressiv und gewalttätig durch Störaktionen auftrat". Es sei den Rechtsextremisten und Reichsbürgern gelungen, "einen Resonanzraum zu besetzen, wirkmächtige Bilder zu erzeugen und so das heterogene Protestgeschehen zu instrumentalisieren". Seine Behörde habe immer gewarnt, dass Rechtsextremisten die Pandemie für ihre Zwecke missbrauchen könnten.
Mittwoch, 2. September
Für den nächsten Tag, den Donnerstag, hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble den Ältestenrat des Parlaments zu einer Sondersitzung um 12.00 Uhr einberufen. Einziger Punkt der Tagesordnung: die "Ereignisse vom 29. August vor dem Reichstagsgebäude".