Wissenschaftlich war das alles sehr fundiert und auch inhaltlich vertretbar (ich wende hier mal absichtliche die Juristendenke an, nach der es kein richtig oder falsch gibt, sondern nur vertretbar und unvertretbar). Aber von der Kommunikationspsychologie her ist das eine katastrophe. Was meint ihr was passiert wäre, wenn Merkel sich hingestellt hätte um zu verkünden, dass der Lockdown bleibt, bis wir in einem Jahr einen Impfstoff haben. Da wäre gehamstertes Toilettenpapier das geringste Problem gewesen. Manchmal ist die Salamitaktik besser.
Die von Mai Thi Nguyen-Kim dargestellte Sachlage wird (wie immer) valide und fundiert begründet, ist aber nicht völlig neu: Eine Studie des Imperial College ist vor einigen Wochen bereits zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Und um auszurechnen, dass mit flattenthecurve die Herdenimmunität sehr lange braucht, reicht ein Taschenrechner. Man muss nur die jeweilige Zeit für eine Verdoppelung der Zahl der Infizierten auf ca. 60 Mio. Menschen hochrechnen.
Allerdings hebt Mai Thi Nguyen-Kim auf ein Zusatzproblem ab, das bereits langsam auf uns zurollt und sichtbar wird. Es ist zwar möglich, mit flattenthecurve das Tempo der Epidemie deutlich zu bremsen und von einer exponentiellen auf eine lineare Entwicklung zu drücken, das Ziel von R0 < 1 ist aber wohl schwieriger zu erreichen. In Italien liegen mehr als 3,5 Wochen nach Beginn des Lockdown die Neuinfektionsraten stabil bei rund 5 %, obwohl es bei einer Vorlaufzeit von 2 Wochen eigentlich kaum noch Neuinfektionen geben dürfte. Die italienische Verwaltung betont mantraartig, dass man jetzt nicht nachlassen und weiterhin zuhause verharren müsse - aber sehr lange kann das eigentlich nicht mehr gutgehen. Als nächstes wird man in Österreich - wo man bislang ziemlich erfolgreich ist und offenbar einiges richtig macht - sehen können, ob es gelingen kann, den Anstieg nicht nur zu stoppen, sondern eine Trendwende einzuleiten.
Das Prinzip Hoffnung, mit dem unsere Regierung derzeit operiert, ist hingegen ein bißchen wenig. Im Grunde bräuchte man dringend einen "Plan B". Das ist natürlich leicht gesagt - erstmal einen haben. Ich halte aber zB "tracking und tracing" gegenüber Hausarrest für das vorzugswürdige Mittel, wenngleich es sich um einen erheblichen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung handelt.