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ür seine Antwort hatte der Professor eine Stunde Zeit. „Sehr geehrter Herr. Dr. Drosten“, hieß es in der Mail vom 25. Mai, 15 Uhr, „wir berichten über die Kritik mehrerer Wissenschaftler an Ihrer Studie über die Viruskonzentration bei verschiedenen Altersgruppen. Dazu bitte ich Sie um eine kurzfristige Stellungnahme bis heute um 16 Uhr.“
Reagieren sollte Christian Drosten, Leiter des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, auf Vorhaltungen von vier Wissenschaftlern, die – scheinbar – Methode und Gültigkeit seiner Studie zur Belastung von Kindern mit dem Covid-19-Virus kritisierten. Zweifel an der statistischen Aussagekraft, zu wenig untersuchte Kinder und eine angeblich um 67 bis 85 Prozent niedrigere Viruslast von Kindern gegenüber Erwachsenen werden in der Mail angeführt. Christian Drosten beantwortete die kurzfristige Anfrage der „Bild“-Zeitung nicht. Stattdessen veröffentlichte er sie (zuerst mit der Telefonnummer des anfragenden Redakteurs, dann ohne) auf Twitter mit dem Hinweis: „Interessant: die #Bild plant eine tendenziöse Berichterstattung über unsere Vorpublikation zu Viruslasten und bemüht dabei Zitatfetzen von Wissenschaftlern ohne Zusammenhang. Ich soll innerhalb von einer Stunde Stellung nehmen. Ich habe Besseres zu tun.“ Dass die Geschichte des „Bild“-Redakteurs Filipp Piatov zu diesem Zeitpunkt so gut wie fertig gewesen sein dürfte, bestätigte sich umgehend. Um 16.34 Uhr ging sie online, unter der Überschrift „Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch“.
„Absolut genauso viel Virus“
Ist sie das? Wird sie von Wissenschaftlern zerlegt, wie „Bild“ behauptet? Die Studie, deren erstes Ergebnis Ende April veröffentlicht wurden, geht der Frage nach, ob Kinder im Nasen-Rachenraum ähnlich oder genauso stark mit dem Sars-CoV2-Virus belastet sind wie Erwachsene – und damit ähnlich ansteckend. Ausgewertet wurden die Daten, die an der Charité zu 3712 positiv getesteten Infizierten vorlagen, darunter 37 Kinder im Kindergartenalter, sechzehn Grundschüler und 74 Jugendliche. Die Frage lautete, wie Christian Drosten nun im Podcast dieser Zeitung sagte, ob es sein könnte, „dass in den jüngsten Altersgruppen, so im Kindergarten- und Kitaalter, dass da vielleicht ein Hauch weniger Viruskonzentration ist als in anderen Altersgruppen“. Es sei aber mit den statistischen Methoden, die seine Forscher anwendeten, nicht möglich, „diese Unterschiedlichkeit zu belegen“. Aufgrund der Daten habe man keine Entwarnung geben und sagen können, „Kitas und Schule können uneingeschränkt wieder geöffnet werden“. Das Ergebnis war, dass Kinder „absolut genauso viel Virus haben wie Erwachsene“, die Conclusio der Studie lautete: „Kinder könnten genauso ansteckend sein wie Erwachsene.“ Genau so viel Virusbelastung bei Kindern wie bei Erwachsenen – zu diesem Ergebnis kommen auch andere Studien –, und dazu bei ihm ein „könnte“ bei der Frage, wie ansteckend Kinder sind.
In der „Bild“-Zeitung wurde aus dem „könnten“ allerdings „können“. Und aus den zitierten methodischen Einwänden von Statistikern wurde ein Feuerwerk der Vernichtung, gipfelnd in der dem Wirtschaftswissenschaftler Jörg Stoye von der Cornell Universität in New York zugeschriebenen Unterstellung, den Forschern an der Charité gehe es anscheinend nur darum, ihre eigenen Entscheidungen zu begründen. Das freilich stimmt schon deshalb nicht, weil die Forscher in erster Linie geforscht und die Politik nur beraten haben, entschieden über die Corona-Maßnahmen haben die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten.
Die von „Bild“ zitierten vermeintlichen Kronzeugen fielen nach der Publikation des Artikels freilich erstaunlicherweise der Reihe nach um. Dominik Liebl, Statistikprofessor an der Universität Bonn, twitterte: „Ich wusste nichts von der Anfrage der Bild und distanziere mich von dieser Art, Menschen unter Druck zu setzen auf das Schärfste. Wir können uns mehr glücklich schätzen, @c_drosten und sein Team im Wissenschaftsstandort Deutschland zu haben. They saved lifes!“ In der Statistik seien Fehler passiert, nun müsse man „die Ergebnisse neu interpretieren“. Und weiter: „Alle Altersgruppen (auch Kinder) müssen wohl trotzdem als infektiös eingestuft werden. Auch wenn es Unterschiede zwischen den Altersgruppen gibt.“
Christoph Rothe, Wirtschaftsprofessor an der Universität Mannheim, schrieb auf Twitter: „Niemand von #Bild hat mit mir gesprochen, und ich distanziere mich ausdrücklich von dieser Art Berichterstattung.“ Der erwähnte Jörg Stoye twitterte: „Ich will nicht Teil einer Anti-Drosten-Kampagne sein. Ich stand und stehe in keinerlei Kontakt zur Bild. Natürlich habe ich höchsten Respekt vor @c_drosten. Deutschland kann froh sein, ihn und sein Team zu haben.“ Er habe „kritische Anmerkungen zur statistischen Auswertung in der Studie“. Gemeint sei dies im Sinne von Christian Drosten selbst, als „Diskurs“, der Teil der wissenschaftlichen Meinungsbildung ist. Im „Spiegel“-Interview verriet Stoye, er habe Drosten gleich eine Mail geschrieben, und ihm mitgeteilt, „wie unangenehm mir das ist“. Die von „Bild“ ihm zugeschrieben Unterstellung will Stoye auch nicht stehen lassen: „Ich unterstelle Professor Drosten und seinen Mitautoren keine Intention, schon gar keine bewusste Irreführung. Die Originalstelle bei mir heißt: ,My only point is, that the paper‘s nonsignificance result seems to be driven by researcher choices.‘ Gemeint ist: Die Nichtsignifikanz ist das Ergebnis bestimmter, von den Autoren gewählter Tests. In der Conclusio schreibe ich: ,I emphasize that I do not suggest any intent.' Also: ,Ich betone, dass ich den Autoren keine Absicht unterstelle.‘“
Keine Weide für heilige Kühe
Für den Chefredakteur der „Bild“-Zeitung ist das freilich noch lange kein Grund, von seiner Berichterstattung abzurücken. Die Klarstellungen der Wissenschaftler interpretiert Julian Reichelt als: „Hätte ich gewusst, dass ,Bild‘ diesen Satz liest, hätte ich ihn bestimmt nicht geschrieben.‘ Übersetzt: Ich hätte nicht die Wahrheit gesagt, wenn ich gewusst hätte, dass sie rauskommt. Wie die Medien gerade über @Bild berichten, statt über Drostens falsche Studie, wird uns massiv neue Leser bescheren. Es ist der beste Beleg dafür, dass manche sehr notwendige und höchst berechtigte kritische Fragen derzeit nur von Bild gestellt werden. Journalismus sollte keine Weide für heilige Kühe sein.“
Genauer ausführen hätte Julian Reichelt dies auch im Podcast dieser Zeitung können. Die entsprechende Anfrage beantwortete er mit dem Gegenangebot: ein Gespräch mit Christian Drosten, ihm sowie Andreas Krobok, dem Podcast-Redakteur dieser Zeitung, das dann bei „Bild“ und FAZ.NET laufen könnte. „Getrennt“ von Christian Drosten wolle er „ungern“ zum Thema sprechen.
So diplomatisch drückt sich der „Bild“-Chef in seinem eigenen Blatt und auf Twitter sonst nicht aus. Und wenn es jemanden gibt, der eine Mission verfolgt, ist es nicht der Virologe Drosten, sondern Reichelt mit seiner „Bild“-Mannschaft. Angestrengt versucht er, die Bundesregierung in der Corona-Krise vor sich her zu treiben. Aus der Ungewissheit, die in der Corona-Krise herrscht, gewinnt „Bild“ seit Wochen die täglich verkündete Gewissheit, dass Angela Merkel und der Rest de Regierenden falsch liegen. Da ist von „Maskenchaos in Berlin“ die Rede oder davon, dass die Bundesregierung, verlaufe die Pandemie weiter glimpflich, mit ihrer Lockdown-Strategie „in Erklärungsnot“ gerate: „Die Uhr tickt.“ Ob man es nicht auch genau umgekehrt sehen könnte: Je glimpflicher die Corona-Infektion hierzulande verläuft, desto eher darf man den bisherigen Kurs der Regierenden – den der thüringische Ministerpräsident Ramelow gerade aufbricht –, für richtig halten?
Richtig macht die Bundesregierung in Reichelts Augen eigentlich nichts. Mehr noch: Ende April sah er in einem Leitartikel eine wachsende Kluft zwischen den Menschen in diesem Land und denen, die Regierungsverantwortung tragen, und das Ende der Demokratie heraufziehen. „Für Millionen Menschen“ sei es „verheerend, wenn ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage vernichtet wird, obwohl es kaum Corona-Tote gibt.“ Es müsse Schluss sein „mit Starrsinn in der Corona-Politik“.
So schreibt jemand, der sich offenbar im Besitz der allein selig machenden Wahrheit dünkt, von der sich in der Corona-Krise ganz besonders zeigt, dass es sie nicht gibt, und der ignoriert, dass seit Anbeginn der Krise über die Angemessenheit der Corona-Maßnahmen sehr wohl debattiert wird. Der jüngste Ausfall gegen den Virologen Drosten ist nur ein Artikel von vielen, mit denen sich die „Bild“-Zeitung und ihr Chefredakteur als die wahre Stimme des Volkes gerieren. Von den „Cov♥♥♥en“, die sich am Wochenende zu Tausenden versammeln und gegen den Staat hetzen, ist das nicht weit entfernt.