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Länger als Wuhan: Der längste Corona-Lockdown der Welt gilt auf den Philippinen. Für Menschen, die ihre Häuser verlassen, weil sie hungern, hat der berüchtigte Präsident Duterte einen Satz übrig: „Erschießt sie!“
Wir haben in den letzten zweieinhalb Monaten nur drei Essenspakete mit Konservendosen und Reis von der Regierung bekommen“, erzählt Merck Maguddayao am Telefon. Der 33-jährige Filipino verteilt selbst gemeinsam mit Gastronomen Essen an Menschen in Slums, die ärmer sind als er. Die Hilfen der Regierung kommen dort nicht an oder reichen nicht aus.
„Erschießt sie!“ Mit diesen Worten drohte Präsident Rodrigo Duterte Filipinos, die trotz des Lockdowns auf die Straße gingen, weil sie hungerten. In der Mega-Metropole Manila herrscht seit mehr als zwei Monaten Ausgangssperre, nicht immer erreichen Soforthilfen die Bewohner der Armenviertel.
Der Lockdown wird mit Einsatz des Militärs, Verhaftungen und Einschränkung der Pressefreiheit durchgesetzt. Und das Virus hat leichtes Spiel: Der 7000-Insel-Staat hat die überfülltesten Gefängnisse der Welt und wird regelmäßig von Naturkatastrophen heimgesucht, die Menschen in Evakuierungszentren dicht zusammendrängen.
Maguddayao wohnt mit seiner Familie in Batasan Hills, im Nordosten der 13-Millionen-Metropolregion Manila, einem der am dichtesten besiedelten Orte der Erde. Seit dem 16. März herrscht hier eine Ausgangssperre, die von ihrer Härte mit der in Wuhan vergleichbar ist. Nur dass er hier insgesamt 80 Tage dauern soll, mehr als zehn Wochen also – länger als in Italien, länger als in Spanien, länger als die 76-Tage-Quarantäne in China.
Jüngste Daten des Verbands Südostasiatischer Nationen (Asean) zeigen, dass die Philippinen eine der höchsten Armutsraten in Südostasien haben. Die Situation der Armen hat sich während der Corona-Krise dramatisch verschlechtert. Social Distancing und Heimarbeit sind in einem Entwicklungsland wie den Philippinen Luxus.
In den Slums der am stärksten betroffenen Metropolregion Manila leben rund vier Millionen Menschen von der Hand in den Mund. Verdienen sie einen Tag nichts, so hungern sie bald. Jeder, der nicht arbeiten kann, sollte von der Regierung umgerechnet zwischen 90 und 140 Euro für zwei Monate bekommen.
„Dafür stehen die Leute dicht gedrängt in Schulgebäuden an und stecken sich vielleicht dabei an“, sagt Maguddayao. Er selbst hat die Hilfe nicht erhalten und lebt vom Geld seiner Mutter und Erspartem. „Mein Vorgesetzter hat Geld geschickt, das ich an einem Bankomat abholen könnte, aber ich fürchte, dort lange in einer Schlange stehen zu müssen“, sagt er.
Seit ein paar Wochen häufen sich auch die Corona-Fälle in den philippinischen Gefängnissen. Rund 10.000 Insassen mit leichten Haftstrafen wurden von der Regierung entlassen, um einer Ausbreitung des Virus vorzubeugen. Ob dies reicht, ist unklar. Es sitzen landesweit insgesamt 215.000 Menschen im Gefängnis.
Vergangenes Wochenende wurde das Land vom Taifun „Ambo“ heimgesucht. Naturkatastrophen sind für die 106 Millionen Filipinos keine Seltenheit, jedoch müssen jedes Mal Zehntausende Menschen evakuiert werden. Das Risiko einer Verbreitung des Virus durch Massenansteckung in den Evakuierungszentren steigt.
Die philippinische Regierung nahm das Virus lange Zeit nicht ernst. Präsident Duterte, der für seine populistische Macho-Rhetorik bekannt ist, sagte im Februar noch, er wolle dem „♥♥♥en-Virus eine Ohrfeige geben“ und dass es „von allein aussterben werde“. Dabei wurde bereits am 30. Januar der erste importierte Covid-Fall aus China in der Region Manila festgestellt.
Nachdem das Virus sich lokal verbreitete, schlug Duterte einen anderen Ton an. Anfang April drohte er in einer nationalen Ansprache an, Menschen zu erschießen, die den Lockdown missachten. Grund war, dass in einem der Armenviertel der Hauptstadt Menschen ihre Häuser verlassen hatten, um Essenspakete der Regierung zu empfangen. Diese kamen jedoch niemals an. Als sie protestierten, konterte Duterte: „Statt Ärger zu machen, werdet ihr von mir ins Grab geschickt.“
Erschossen wurde bisher offiziell nur eine Person, 40.000 wurden laut Polizeiangaben festgenommen. „Einige wurden in Käfige gesperrt, stundenlang der Sonne ausgesetzt, ihnen wurde Folter angedroht“, sagt ein Sprecher der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch gegenüber WELT.
Auch Menschen, die sich online kritisch äußern unter Hashtags wie #BigasHindiBala! (Reis statt Schüsse), #OustDuterte (Stürzt Duterte), and #SolusyongMedikalHindiMilitar (Medizinische Lösungen, nicht militärische) werden strafrechtlich verfolgt. Ein Mann, der Duterte in den sozialen Medien als „verrückt“ bezeichnete, wurde verhaftet.
„Das grundlegende Problem besteht darin, dass die Regierung Dutertes Covid-19 mit Militär- und Rechtsgewalt bekämpft, anstatt mit einer Aufrüstung des Gesundheitssystems“, erklärte der Sprecher von Human Rights Watch.
Duterte wird oft mit autoritären Populisten wie Donald Trump und Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro verglichen. Sein Führungsstil wird seit Beginn seiner Amtszeit 2016 und nun während der Corona-Krise immer radikaler. Mit dem sogenannten „Heal as One“-Gesetz weitete er Ende März seine präsidialen Machtbefugnisse aus und erließ den Notstand im Land.
Anfang Mai wurde die Schließung des größten nationalen Fernseh- und Radionetzwerk ABS-CBN angeordnet. Als „ungeheuerlichen Angriff auf die Pressefreiheit“ verurteilte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die Abschaltung. Der Medienkonzern hatte wiederholt kritisch über Dutertes autoritären Führungsstil berichtet, darunter seinen blutigen „Krieg gegen die Drogen“, bei dem bisher mehr als 20.000 Menschen zum Teil außergerichtlich exekutiert wurden.
Das Land mit seinen 110 Millionen Einwohnern hat heute knapp 13.000 bestätigte Corona-Fälle, 842 Menschen starben. Nur Indonesien und Singapur haben in der Region höhere Fallzahlen. Getestet wurden jedoch nur rund 250.000 Menschen, die Dunkelziffer dürfte deshalb deutlich höher liegen.
Die Krankenhäuser sind wie in vielen anderen asiatischen Ländern überfüllt und schlecht ausgestattet. Maguddayao erzählt, seine Nachbarin sei aufgrund von Komplikationen ihrer Diabetes-Erkrankung in die nächste Klinik gefahren, wo sie aus Platzmangel in einem Zelt behandelt worden und letztlich verstorben sei.
Seit dem 16. Mai sollen 50 Prozent der Fabrik-Arbeiter und andere Berufsgruppen auf den Philippinen wieder arbeiten gehen. Die Lockdowns gelten nicht mehr auf ganz Luzon, der größten Insel des Landes, sondern nur noch in stark betroffenen Gegenden wie Manila, der Laguna-Provinz und Cebu City. Schulen sind weiterhin geschlossen. Maguddayao selbst kann noch nicht arbeiten. Das Geld und die Lebensmittel werden immer knapper. Am 31. Mai soll der Lockdown enden. Voraussichtlich.