Der Protestmarsch gegen die Corona-Maßnahmen am 1. Mai in Tuttlingen hat überregionale Bedeutung, meint ein Rechtsanwalt - und will auch Verantwortliche wie Karl Lauterbach dazu hören. Im Verfahren tun sich Abgründe auf.
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Waren die damaligen Corona-Verordnungen ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wie der Tuttlinger Rechtsanwalt Rainer Schad es formuliert? Waren die Masken, Tests, die Lockdowns und die Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, die im Infektionsschutzgesetz niedergeschrieben wurden, nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und damit rechtlich gar nicht abgesichert?
Fokus auf Aufarbeitung
Schad ist sich sicher: Ja. Mehr noch: „Dieses Gesetz wird fallen“, sagt er aus heutiger Sicht auf die Vorschriften der Corona-Zeit und mit Blick auf die „RKI-Protokolle und das, was in den USA möglicherweise gerade passiert“. Damit spricht er auch Ankündigungen des neuen Gesundheitsministers Robert F. Kennedy zur Aufarbeitung der Corona-Jahre an.
Nur: Um all diese Themen ging es am Dienstag vor der Kleinen Strafkammer des Landgerichts Rottweil überhaupt nicht, wie Richter Thomas Geiger und Staatsanwältin Stohr immer und immer wieder klarzumachen versuchten. Sondern einzig und allein um die Frage, ob sich eine heute 49-jährige Frau aus Tuttlingen strafbar gemacht hat, als sie am 1. Mai 2021 in Tuttlingen mitmarschiert ist. Ganz in Schwarz gekleidet („Wegen der Beerdigung der Menschenrechte“), im Gesicht weiß geschminkt, mit schwarzen Strichen um den Mund.
Rund 50 Menschen sind an jenem Abend in einem Fackelmarsch vom Honberg in die Stadt gezogen. Zuvor war über den Messengerdienst Telegram dazu aufgerufen worden. Offiziell angemeldet war diese Demonstration nicht. Am Fuße des Honbergs kam es zum Zusammenstoß mit der Polizei, zu Gerangel, auch Verletzungen, die beide Seiten beklagen. Und zu Dutzenden von Gerichtsverhandlungen.
Vom Amtsgericht Tuttlingen wurde die 49-Jährige zu acht Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Wegen Landfriedensbruchs, dem Verstoß gegen das Versammlungs- und Vermummungsverbot und dem Führen einer Waffe, einer brennenden Fackel. Im Urteil hieß es: „Sie hat sich, zugehörig zu einer Menschengruppe, an gemeinschaftlichen Gewalttätigkeiten beteiligt.“ Dagegen ging sie in Berufung.
Immer wieder wird es laut
Von Anfang an war dicke Luft im Saal des Rottweiler Gerichts. Der Rechtsanwalt und seine Mandantin blieben stehen, aus Protest. Rainer Schad wollte nicht nur einen Nachweis vom Vorsitzenden Richter Geiger darüber haben, dass er seinen Amtseid abgeleistet habe, sondern startete auch mit einer sofortigen Beschwerde.
Der Termin des Hauptverfahrens sei recht kurzfristig angesetzt worden - am 6. Februar, verhandelt wurde am 18. Februar - er sei im Urlaub gewesen und habe nur durch Zufall von der Verhandlung erfahren. Er reichte diverse Beschwerden ein, auch einen Antrag auf Befangenheit des Richters deutete er an.
Richter Geiger machte klar: „Dieses Verfahren wird genauso behandelt wie jedes andere auch. Nicht besser, nicht schlechter.“
Dann die nächste Unterbrechung: Schad formulierte schriftlich den Antrag, dass das Gerichtsverfahren aufgezeichnet wird. „Als späteres Dokument für die geschichtliche Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen“, wie er sagte.
Denn der „Spaziergang“ am 1. Mai in Tuttlingen „hat durchaus überregional Wellen geschlagen“, so seine Ansicht, und er sei in ein Buch eingeflossen, das die Tuttlinger Spaziergänger herausgebracht haben: „Gegen das Vergessen - Corona, wie wir es erlebt haben“, so heißt es. Mit subjektiven Eindrücken aus der damaligen Zeit.
Über den Antrag zur Aufzeichnung entscheidet der Richter an diesem Tag nicht, erst am nächsten Verhandlungstag, dem 11. März. Am ersten Verhandlungstag waren auch keine Zeugen geladen. Wohl auch aus der Erfahrung der letzten Verhandlungen rund um den 1. Mai mit Verteidiger Schad.
Damals ging es im Gericht hoch her, als sich ein 28-jähriger Rädelsführer der Proteste verantworten musste. Der Mandant nässte sich ein, es kam zu mehreren Unterbrechungen sowie Zwischenrufen aus dem Publikum.
Diesmal waren nur etwas mehr als ein halbes Dutzend Zuschauer im Saal, durchweg Bekannte der Angeklagten. Und ein bisschen glich es einer Show, die da veranstaltet wurde. Vespertüten wurden ausgepackt, geräuschvoll in einen Apfel gebissen. Der Verteidiger ging in einer Verhandlungspause zu den Zuhörern und fragte: „Gefällt es Euch?“
Applaus brandete auf, als der Anwalt die Maßnahmen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nannte und eine lückenlose Aufarbeitung im Sinne all jener Menschen forderten, die sich damals psychisch unter Druck gesetzt gefühlt hatten. Er forderte, die Verhandlung so lange auszusetzen, bis entsprechende Gerichtsentscheide zur Rechtmäßigkeit des damaligen Infektionsschutzgesetzes und der Maßnahmen vorliegen würden.
Schimpfwörter halblaut geäußert
Der Richter unterband die Beifallsbekundungen, drohte, die Zwischenrufer aus dem Saal zu entfernen und mit einem Ordnungsgeld zu belegen. Um das Niveau zu verdeutlichen: Mit gemurmelten Worten wurde der Richter als „♥♥♥“ und „Korrupte Sau“ bezeichnet und er sowie Vertreter von Institutionen allgemein als „♥♥♥“. Aber alles nicht laut genug, als dass es zu Konsequenzen geführt hätte.
Der Anwalt würde am liebsten auch den damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn und Karl Lauterbach als Gesundheitsexperte zum Prozess einberufen. Dem erteilte der Richter eine Absage. „Wer als Zeuge geladen wird, entscheide ich.“
Erneut machte er gebetsmühlenartig klar: „Um Corona geht es in diesem Verfahren gar nicht!“ Sondern rein darum, inwieweit gegen das Demonstrations- und Versammlungsgesetz verstoßen wurde. Selbst wenn festgestellt würde, dass die Corona-Maßnahmen nicht rechtens waren, ändere das nichts an diesem Verfahren.
Völliges Unverständnis bei Verteidiger und der Angeklagten. Sie argumentierten: Wenn Corona nicht gewesen wäre, hätten diese Menschen keinen Protestmarsch gemacht und die Polizei wäre gar nicht ausgerückt. Man drehte sich im Kreis, immer wieder.
Währenddessen gab sich die Angeklagte wortkarg, gab lediglich an, „dass ich hier als Mensch Sabine (Name geändert) bin. Mehr habe ich nicht zu sagen.“ Warum sie denn überhaupt hier sei, wollte der Richter von ihr wissen. „Ich hoffe hier auf Gerechtigkeit“, sagte sie. „Freispruch“, vervollständigte ihr Anwalt.
Dann sagte sie doch noch etwas, indem sie sich auf ihr Recht auf Widerstand berief, wenn Recht zu Unrecht werde. „Und das war ein Unrecht, was dort passiert ist.“ Sie habe niemanden verletzt, niemanden bedroht und nie die Absicht dazu gehabt. Partout nicht davon abbringen ließe sie sich davon, eine Passage aus dem Corona-Buch vorzulesen, indem ein Teilnehmer - nicht sie - den Protestzug inklusive des Zusammentreffens mit der Polizei beschreibt.
Belege für Fehlen reichen Gericht nicht aus
In einem anderen Verfahren vor dem Amtsgericht bekam sie eine Geldstrafe. Dabei ging es darum, dass sie ohne handfeste Begründung dem Hauptverfahren ferngeblieben sei. In dem Schriftverkehr habe sie erkennen lassen, dass sie die staatlichen Gerichte und Instanzen nicht anerkenne, so der Richter.
Schad kündigte an, in beiden Verfahren durch alle Instanzen zu gehen: „Bis zum Europäischen Gerichtshof.“ „Jeder Verhandlungstag kostet Geld“, wandte sich der Richter an die 49-Jährige. „Wenn Sie verurteilt werden, sind Sie es, die diese Kosten tragen.“ Sie blieb unbeirrt.
Sehr schön: "Rainer Schad wollte nicht nur einen Nachweis vom Vorsitzenden Richter Geiger darüber haben, dass er seinen Amtseid abgeleistet habe" - wie nah ist der "Anwalt" an Reichi-Thesen?